Arbeitsbereich Geschichtsdidaktik / History Education, Universität Hamburg

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Eine geschichtstheoretisch-geschichtsdidaktische Unterhaltung mit ChatGPT

26. März 2023 Andreas Körber Keine Kommentare

nicht schlecht, aber an wesent­li­chen Stel­len dann doch noch for­mel­haft. Aber bes­ser als befürch­tet. Inter­es­sant, wie unter­schied­lich ChatGPT auf Rück­fra­gen (gera­de auch auf sol­che, die nach Impli­ka­tio­nen des Vor­her gesag­ten fra­gen und es hypo­the­tisch in Fra­ge stel­len) anders ant­wor­tet als auf direk­te Kri­tik (aus­wei­chend).

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  • andreas.koerber: Dif­fe­ren­zie­re unter­schied­li­che Ver­ständ­nis­se bzw. Aspek­te von “Prä­sen­tis­mus” in der Geschichts­theo­rie!
    Prä­sen­tis­mus” ist ein Begriff, der in der Geschichts­theo­rie ver­wen­det wird, um eine Hal­tung oder Pra­xis zu beschrei­ben, die ana­chro­nis­tisch oder unhis­to­risch ist. Es gibt ver­schie­de­ne Ver­ständ­nis­se und Aspek­te von Prä­sen­tis­mus in der Geschichts­theo­rie, die im Fol­gen­den näher erläu­tert werden:
    • Ana­chro­nis­ti­scher Prä­sen­tis­mus: Die­se Form des Prä­sen­tis­mus tritt auf, wenn man eine heu­ti­ge Hal­tung oder eine moder­ne Per­spek­ti­ve auf his­to­ri­sche Ereig­nis­se oder Per­so­nen anwen­det. Dies bedeu­tet, dass man his­to­ri­sche Ereig­nis­se durch eine moder­ne Lin­se betrach­tet und moder­ne Wer­te oder Idea­le auf his­to­ri­sche Ereig­nis­se anwen­det, die die­se nicht hat­ten. Zum Bei­spiel könn­te ein moder­ner His­to­ri­ker den­ken, dass alle Men­schen glei­che Rech­te haben soll­ten, und dann die Hand­lun­gen his­to­ri­scher Figu­ren kri­ti­sie­ren, die dies nicht getan haben, ohne zu berück­sich­ti­gen, dass sie in einer ande­ren Zeit und in einem ande­ren Kon­text gelebt haben.
    • Zeit­ge­nös­si­scher Prä­sen­tis­mus: Die­se Form des Prä­sen­tis­mus tritt auf, wenn man eine his­to­ri­sche Per­spek­ti­ve auf zeit­ge­nös­si­sche Ereig­nis­se anwen­det. Zum Bei­spiel könn­te man eine bestimm­te poli­ti­sche Ent­schei­dung kri­ti­sie­ren, ohne die dama­li­gen Bedin­gun­gen oder die poli­ti­schen Hin­ter­grün­de zu berücksichtigen.
    • Metho­di­scher Prä­sen­tis­mus: Die­se Form des Prä­sen­tis­mus tritt auf, wenn man his­to­ri­sche Ereig­nis­se durch die Metho­den und Tech­ni­ken ana­ly­siert, die in der heu­ti­gen Zeit ver­wen­det wer­den. Zum Bei­spiel könn­te man ver­su­chen, his­to­ri­sche Ereig­nis­se durch sta­tis­ti­sche Metho­den zu ana­ly­sie­ren, obwohl die­se Metho­den zu der Zeit, als das Ereig­nis statt­fand, nicht ver­füg­bar waren.
    • Tech­no­lo­gi­scher Prä­sen­tis­mus: Die­se Form des Prä­sen­tis­mus tritt auf, wenn man his­to­ri­sche Ereig­nis­se oder Figu­ren durch die Per­spek­ti­ve von heu­ti­gen Tech­no­lo­gien oder Inno­va­tio­nen betrach­tet. Zum Bei­spiel könn­te man die Rol­le der Dampf­ma­schi­ne in der Indus­tri­el­len Revo­lu­ti­on über­schät­zen und den Bei­trag ande­rer Tech­no­lo­gien oder gesell­schaft­li­cher Ent­wick­lun­gen unterschätzen.

    Ins­ge­samt ist Prä­sen­tis­mus ein wich­ti­ges The­ma in der Geschichts­theo­rie, da es dazu bei­tra­gen kann, dass his­to­ri­sche Ereig­nis­se und Figu­ren falsch inter­pre­tiert wer­den. His­to­ri­ker soll­ten sich bemü­hen, his­to­ri­sche Ereig­nis­se und Figu­ren im Kon­text ihrer Zeit und ihres Kon­tex­tes zu betrach­ten und die Vor­ur­tei­le und Per­spek­ti­ven der heu­ti­gen Zeit zu vermeiden.

  • andreas.koerber: Wann ist ein his­to­ri­sches Ereig­nis rich­tig interpretiert?
    Die Inter­pre­ta­ti­on eines his­to­ri­schen Ereig­nis­ses kann als “rich­tig” betrach­tet wer­den, wenn sie auf einer sorg­fäl­ti­gen und gründ­li­chen Ana­ly­se der ver­füg­ba­ren Quel­len und Infor­ma­tio­nen basiert und die­se in den Kon­text der dama­li­gen Zeit und Umstän­de ein­bet­tet. Eine “rich­ti­ge” Inter­pre­ta­ti­on soll­te also his­to­ri­sche Ereig­nis­se in Bezug auf ihre poli­ti­schen, wirt­schaft­li­chen, sozia­len und kul­tu­rel­len Rah­men­be­din­gun­gen unter­su­chen und die ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven und Inter­es­sen der betei­lig­ten Akteu­re berücksichtigen.
    Eine “rich­ti­ge” Inter­pre­ta­ti­on soll­te auch his­to­ri­sche Fak­ten von Mei­nun­gen und Inter­pre­ta­tio­nen unter­schei­den kön­nen und soll­te sich bemü­hen, Vor­ur­tei­le und Ana­chro­nis­men zu ver­mei­den, die aus einer moder­nen Per­spek­ti­ve resul­tie­ren könn­ten. His­to­ri­ker soll­ten auch ihre Metho­den und Her­an­ge­hens­wei­sen offen­le­gen und dis­ku­tie­ren, um ihre Argu­men­ta­ti­on und Inter­pre­ta­ti­on nach­voll­zieh­bar und über­prüf­bar zu machen.
    Es ist wich­tig zu beto­nen, dass his­to­ri­sche Ereig­nis­se oft unter­schied­lich inter­pre­tiert wer­den kön­nen und dass es sel­ten eine ein­deu­ti­ge oder “rich­ti­ge” Inter­pre­ta­ti­on gibt. Statt­des­sen soll­ten His­to­ri­ker offen sein für alter­na­ti­ve Inter­pre­ta­tio­nen und Theo­rien und bereit sein, ihre eige­nen Über­le­gun­gen zu über­prü­fen und anzu­pas­sen, wenn neue Infor­ma­tio­nen ver­füg­bar werden.
    Letzt­end­lich kann man sagen, dass eine “rich­ti­ge” Inter­pre­ta­ti­on eines his­to­ri­schen Ereig­nis­ses eine gründ­li­che, kon­text­be­zo­ge­ne und wis­sen­schaft­lich fun­dier­te Ana­ly­se der ver­füg­ba­ren Quel­len und Infor­ma­tio­nen dar­stellt, die dar­auf abzielt, ein mög­lichst objek­ti­ves und umfas­sen­des Bild des Ereig­nis­ses zu zeichnen.
  • andreas.koerber: Bedeu­tet das, dass sich aus der Gegen­wart des His­to­ri­kers erge­ge­ben­de Fra­gen bzw. in sei­ner Gegen­warts gebräuch­li­che Begrif­fe nichts zu suchen haben und viel­mehr Begrif­fe der unter­such­ten Zeit ver­wen­det wer­den sol­len?Nein, das bedeu­tet nicht, dass sich aus der Gegen­wart des His­to­ri­kers erge­ben­de Fra­gen oder in sei­ner Gegen­wart gebräuch­li­che Begrif­fe in der his­to­ri­schen Ana­ly­se kei­ne Rol­le spie­len soll­ten. Tat­säch­lich ist es fast unmög­lich, his­to­ri­sche Ereig­nis­se oder Figu­ren voll­stän­dig von der Per­spek­ti­ve und den Inter­es­sen der Gegen­wart zu tren­nen. His­to­ri­ker sind Teil ihrer eige­nen Gesell­schaft und Kul­tur und brin­gen ihre eige­nen Vor­stel­lun­gen, Über­zeu­gun­gen und Vor­ur­tei­le in ihre Arbeit ein.
    Es ist jedoch wich­tig, dass His­to­ri­ker sich bewusst sind, wie ihre eige­ne Per­spek­ti­ve und ihre eige­nen Vor­stel­lun­gen die Art und Wei­se beein­flus­sen kön­nen, wie sie his­to­ri­sche Ereig­nis­se inter­pre­tie­ren. Daher soll­ten sie sich bemü­hen, die his­to­ri­schen Begrif­fe und Kate­go­rien der unter­such­ten Zeit zu ver­ste­hen und zu ver­wen­den, um eine ange­mes­se­ne Kon­tex­tua­li­sie­rung zu gewähr­leis­ten und Ana­chro­nis­men zu ver­mei­den. Gleich­zei­tig ist es jedoch auch legi­tim, moder­ne Begrif­fe und Kate­go­rien zu ver­wen­den, um his­to­ri­sche Ereig­nis­se oder Phä­no­me­ne zu beschrei­ben, wenn die­se dazu bei­tra­gen, eine bes­se­re Ver­ständ­lich­keit oder Ver­gleich­bar­keit zu errei­chen oder wenn sie eine neue Per­spek­ti­ve auf his­to­ri­sche Ereig­nis­se eröffnen.
    Ins­ge­samt soll­ten His­to­ri­ker also bestrebt sein, his­to­ri­sche Ereig­nis­se und Figu­ren im Kon­text ihrer Zeit zu ver­ste­hen und zu ana­ly­sie­ren, aber sie soll­ten auch offen sein für alter­na­ti­ve Per­spek­ti­ven und neue Erkennt­nis­se, die sich aus der Anwen­dung moder­ner Begrif­fe und Kate­go­rien auf his­to­ri­sche Ereig­nis­se erge­ben können.
  • andreas.koerber: Sie haben oben geschrie­ben: “um Bei­spiel könn­te ein moder­ner His­to­ri­ker den­ken, dass alle Men­schen glei­che Rech­te haben soll­ten, und dann die Hand­lun­gen his­to­ri­scher Figu­ren kri­ti­sie­ren, die dies nicht getan haben, ohne zu berück­sich­ti­gen, dass sie in einer ande­ren Zeit und in einem ande­ren Kon­text gelebt haben.” Bedeu­tet das, dass eine his­to­ri­sche Zeit, eine ver­gan­ge­ne Tat o.ä. immer nur mit den Wer­ten zu beur­tei­len sind, die damals gal­ten?Nein, eine his­to­ri­sche Zeit oder eine ver­gan­ge­ne Tat soll­ten nicht aus­schließ­lich mit den Wer­ten beur­teilt wer­den, die damals gal­ten. His­to­ri­sche Ereig­nis­se und Figu­ren kön­nen und soll­ten auch aus einer moder­nen Per­spek­ti­ve bewer­tet wer­den. Das Zitat, auf das Sie sich bezie­hen, betont jedoch, dass es wich­tig ist, his­to­ri­sche Ereig­nis­se und Figu­ren in ihrem eige­nen Kon­text und in ihrer eige­nen Zeit zu ver­ste­hen und nicht aus­schließ­lich aus der Per­spek­ti­ve moder­ner Wer­te zu beurteilen.
    His­to­ri­ker soll­ten sich bewusst sein, dass die Wer­te, Über­zeu­gun­gen und Idea­le, die in der Ver­gan­gen­heit gal­ten, sich von denen unter­schei­den kön­nen, die heu­te in unse­rer Gesell­schaft vor­herr­schen. Wenn ein His­to­ri­ker also ein Ereig­nis oder eine Tat aus der Ver­gan­gen­heit bewer­tet, soll­te er sich bemü­hen, die Wer­te und Über­zeu­gun­gen der dama­li­gen Zeit zu ver­ste­hen und in Betracht zu zie­hen, um ein ange­mes­se­nes Ver­ständ­nis für die Hand­lun­gen und Ent­schei­dun­gen der his­to­ri­schen Figu­ren zu erlangen.
    Gleich­zei­tig ist es jedoch auch legi­tim, his­to­ri­sche Ereig­nis­se und Figu­ren aus einer moder­nen Per­spek­ti­ve zu bewer­ten, ins­be­son­de­re wenn es um The­men wie Men­schen­rech­te, Gleich­be­rech­ti­gung, Frei­heit und Demo­kra­tie geht. His­to­ri­ker soll­ten jedoch dar­auf ach­ten, dass sie die his­to­ri­schen Figu­ren nicht aus­schließ­lich auf der Grund­la­ge moder­ner Wer­te beur­tei­len, son­dern auch die Umstän­de und die Kon­tex­te berück­sich­ti­gen, in denen die­se Ent­schei­dun­gen getrof­fen wurden.
  • andreas.koerber: Waren Rich­ter in Hexen­pro­zes­sen der Frü­hen Neu­zeit Ver­bre­cher? Waren die Hexen­pro­zes­se Ver­bre­chen?Die Fra­ge, ob Rich­ter in Hexen­pro­zes­sen der Frü­hen Neu­zeit Ver­bre­cher waren und ob die Hexen­pro­zes­se selbst Ver­bre­chen waren, ist ein kon­tro­vers dis­ku­tier­tes The­ma in der Geschichtswissenschaft.
    Eini­ge His­to­ri­ker argu­men­tie­ren, dass die Rich­ter in Hexen­pro­zes­sen Ver­bre­cher waren, weil sie das Jus­tiz­sys­tem miss­braucht haben, um unschul­di­ge Men­schen auf der Grund­la­ge von Vor­ur­tei­len, Aber­glau­ben und fal­schen Anschul­di­gun­gen zu ver­ur­tei­len und zu bestra­fen. Die­se His­to­ri­ker betrach­ten die Hexen­pro­zes­se als Inqui­si­ti­on und Ver­fol­gung von unschul­di­gen Men­schen und behaup­ten, dass die Rich­ter wis­sent­lich und absicht­lich Unrecht getan haben.
    Ande­re His­to­ri­ker argu­men­tie­ren, dass es nicht fair ist, Rich­ter in Hexen­pro­zes­sen der Frü­hen Neu­zeit als Ver­bre­cher zu bezeich­nen, weil sie nach den Geset­zen und Regeln ihrer Zeit gehan­delt haben. Die­se His­to­ri­ker beto­nen, dass die Men­schen in die­ser Zeit tat­säch­lich an Hexe­rei und Zau­be­rei glaub­ten und dass die Hexen­pro­zes­se aus der tief ver­wur­zel­ten Angst vor dem Teu­fel und dämo­ni­schen Kräf­ten ent­stan­den sind. Die Rich­ter han­del­ten nach den damals gel­ten­den Geset­zen und Ver­fah­rens­wei­sen und sahen sich in der Pflicht, die Gesell­schaft vor Hexe­rei und Zau­be­rei zu schützen.
    In Bezug auf die Hexen­pro­zes­se als Gan­zes gibt es auch unter­schied­li­che Mei­nun­gen dar­über, ob sie als Ver­bre­chen betrach­tet wer­den soll­ten. Eini­ge His­to­ri­ker betrach­ten die Hexen­pro­zes­se als Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit, weil unschul­di­ge Men­schen gefol­tert, ver­ur­teilt und hin­ge­rich­tet wur­den. Ande­re argu­men­tie­ren, dass die Hexen­pro­zes­se ein Pro­dukt ihrer Zeit und Kul­tur waren und dass es falsch ist, sie aus moder­ner Per­spek­ti­ve zu bewer­ten. Die­se His­to­ri­ker beto­nen, dass es wich­tig ist, die Hexen­pro­zes­se im Kon­text ihrer Zeit zu ver­ste­hen und zu berück­sich­ti­gen, dass die Men­schen in der Frü­hen Neu­zeit tat­säch­lich an Hexe­rei und Zau­be­rei glaubten.
    Letzt­end­lich ist die Fra­ge, ob Rich­ter in Hexen­pro­zes­sen Ver­bre­cher waren und ob die Hexen­pro­zes­se als Ver­bre­chen betrach­tet wer­den soll­ten, ein kom­ple­xes und umstrit­te­nes The­ma, das von His­to­ri­kern unter­schied­lich bewer­tet wird. Es ist wich­tig, die unter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven und Mei­nun­gen zu berück­sich­ti­gen und die Hexen­pro­zes­se im Kon­text ihrer Zeit zu ver­ste­hen und zu analysieren.
  • andreas.koerber: Kann man denn eben­so sagen, dass etwas das Han­deln eines KZ-Auf­se­hers aus sei­ner Zeit her­aus beur­teilt wer­den muss?Die Fra­ge der Beur­tei­lung von Hand­lun­gen von KZ-Auf­se­hern aus ihrer Zeit her­aus ist ein umstrit­te­nes The­ma in der Geschichts­wis­sen­schaft und der Ethik. Eini­ge His­to­ri­ker und Ethi­ker argu­men­tie­ren, dass Hand­lun­gen von KZ-Auf­se­hern auch aus ihrer Zeit her­aus als Ver­bre­chen beur­teilt wer­den soll­ten, weil sie gegen grund­le­gen­de mora­li­sche und ethi­sche Prin­zi­pi­en ver­sto­ßen haben. Sie argu­men­tie­ren, dass es in jeder Zeit Men­schen gab, die gegen die Ver­bre­chen der Natio­nal­so­zia­lis­ten pro­tes­tiert und Wider­stand geleis­tet haben, und dass die KZ-Auf­se­her bewusst gegen die­se Prin­zi­pi­en gehan­delt haben.
    Ande­re His­to­ri­ker und Ethi­ker beto­nen, dass es wich­tig ist, die Hand­lun­gen von KZ-Auf­se­hern im Kon­text ihrer Zeit und Umstän­de zu ver­ste­hen. Sie argu­men­tie­ren, dass die KZ-Auf­se­her in einem Sys­tem arbei­te­ten, das auf Ras­sis­mus, Anti­se­mi­tis­mus und dem Wunsch nach der Ver­nich­tung bestimm­ter Grup­pen basier­te, und dass sie oft unter star­kem Grup­pen­druck und ideo­lo­gi­scher Indok­tri­na­ti­on han­del­ten. Sie beto­nen, dass es wich­tig ist, die KZ-Auf­se­her nicht als iso­lier­te Indi­vi­du­en zu betrach­ten, son­dern als Teil eines grö­ße­ren sozia­len und poli­ti­schen Systems.
    Es ist jedoch wich­tig zu beto­nen, dass auch wenn man die Hand­lun­gen von KZ-Auf­se­hern im Kon­text ihrer Zeit und Umstän­de betrach­tet, sie den­noch als mora­lisch ver­werf­lich und ethisch falsch beur­teilt wer­den kön­nen. Die his­to­ri­sche Ana­ly­se kann uns hel­fen, die Kon­tex­te und Bedin­gun­gen zu ver­ste­hen, unter denen bestimm­te Hand­lun­gen statt­ge­fun­den haben, aber sie soll­te nicht dazu füh­ren, dass wir mora­li­sche Ver­ant­wor­tung und Schuld in Abre­de stel­len oder rela­ti­vie­ren. Wir kön­nen aus der Geschich­te ler­nen, um unse­re Gesell­schaf­ten und unse­re Moral­vor­stel­lun­gen zu ver­bes­sern und zu stärken.
  • andreas.koerber: … wenn doch aber die “mora­li­sche Ver­ant­wor­tung” sich auf die Wer­te der jewei­li­gen Zeit beruht?Es ist wich­tig zu beach­ten, dass mora­li­sche Ver­ant­wor­tung und Schuld in ers­ter Linie auf Hand­lun­gen und Ent­schei­dun­gen basie­ren, die gegen grund­le­gen­de mora­li­sche Prin­zi­pi­en ver­sto­ßen. Die­se Prin­zi­pi­en kön­nen uni­ver­sell sein oder auf bestimm­ten kul­tu­rel­len oder reli­giö­sen Tra­di­tio­nen beru­hen. In vie­len Fäl­len gibt es jedoch einen Kon­sens dar­über, dass bestimm­te Hand­lun­gen — wie zum Bei­spiel Mord, Fol­ter oder Ver­ge­wal­ti­gung — grund­sätz­lich falsch sind.
    Aller­dings kön­nen die mora­li­schen Stan­dards und Wer­te, die in einer bestimm­ten Zeit und Kul­tur herr­schen, vari­ie­ren. Es ist wich­tig zu ver­ste­hen, dass Men­schen in der Ver­gan­gen­heit in einem ande­ren mora­li­schen Kon­text leb­ten und ande­re Über­zeu­gun­gen und Wer­te hat­ten als wir heu­te. Das bedeu­tet jedoch nicht, dass wir mora­li­sche Ver­ant­wor­tung und Schuld in Abre­de stel­len oder rela­ti­vie­ren sollten.
    His­to­ri­sche Ereig­nis­se und Hand­lun­gen soll­ten im Kon­text ihrer Zeit und Umstän­de unter­sucht wer­den, aber gleich­zei­tig soll­ten wir unse­re eige­nen mora­li­schen Stan­dards und Wer­te anwen­den, um Hand­lun­gen und Ent­schei­dun­gen zu bewer­ten und mora­li­sche Urtei­le zu fäl­len. Wir kön­nen uns bemü­hen, die Ver­gan­gen­heit zu ver­ste­hen und aus ihr zu ler­nen, ohne mora­li­sche Rela­ti­vi­tät zu akzep­tie­ren oder mora­li­sche Ver­ant­wor­tung und Schuld zu relativieren.
  • andreas.koerber: … ist nicht aber die Defi­ni­ti­on des­sen, was als Ver­bre­chen gilt, selbst his­to­risch? Es gibt ja die The­se, dass die Ein­füh­rung der Fol­ter im Recht­sys­tem des Mit­tel­al­ters einen Fort­schritt dar­stell­te, weil damit eine Will­kür Urteils­fin­dung durch belie­bi­ge Zeu­gen­aus­sa­gen ersetzt wur­de.Ja, das stimmt. Die Defi­ni­ti­on des­sen, was als Ver­bre­chen gilt, kann sich im Lau­fe der Zeit und in ver­schie­de­nen Gesell­schaf­ten und Kul­tu­ren ver­än­dern. Zum Bei­spiel kann eine Hand­lung, die in einer Gesell­schaft als Ver­bre­chen ange­se­hen wird, in einer ande­ren Gesell­schaft als nor­ma­les Ver­hal­ten akzep­tiert wer­den. Ein Bei­spiel dafür ist der Kon­sum von Alko­hol oder Can­na­bis, der in eini­gen Gesell­schaf­ten als ille­gal und ver­bo­ten gilt, wäh­rend er in ande­ren Gesell­schaf­ten akzep­tiert wird.
    In Bezug auf die Ein­füh­rung der Fol­ter im mit­tel­al­ter­li­chen Rechts­sys­tem ist es wahr, dass es zu der Zeit als Fort­schritt ange­se­hen wur­de, da es als Mög­lich­keit gese­hen wur­de, die Wahr­heit zu ermit­teln und die Urteils­fin­dung gerech­ter zu machen. Aller­dings wird heu­te all­ge­mein aner­kannt, dass die Fol­ter eine grau­sa­me und unmensch­li­che Prak­tik ist und gegen grund­le­gen­de Men­schen­rech­te verstößt.
    Es ist wich­tig zu beach­ten, dass die his­to­ri­sche Ent­wick­lung des Rechts­sys­tems und der Defi­ni­ti­on von Ver­bre­chen immer im Kon­text der jewei­li­gen Zeit und Gesell­schaft betrach­tet wer­den muss. Den­noch müs­sen wir auch unse­re heu­ti­gen mora­li­schen Stan­dards und Wer­te anwen­den, um mora­li­sche Urtei­le zu fäl­len und das Rechts­sys­tem zu ver­bes­sern, wenn es gegen grund­le­gen­de mora­li­sche Prin­zi­pi­en verstößt.
  • andreas.koerber: … kann es also sein, dass Hand­lungs­wei­sen, die wir heu­te als nicht nur legal, son­dern legi­tim anse­hen, in z.B. 500 Jah­ren von Men­schen als Ver­stoß gegen Rege­lun­gen ange­se­hen wer­den, die dann als uni­ver­sell gel­ten. Das könn­te etwa das Töten von Tie­ren betref­fen oder den Umgang mit unse­rer Umwelt.Ja, das ist durch­aus mög­lich. Wie ich bereits erwähnt habe, kön­nen sich mora­li­sche Stan­dards und Wer­te im Lau­fe der Zeit und in ver­schie­de­nen Gesell­schaf­ten und Kul­tu­ren ver­än­dern. Hand­lungs­wei­sen, die heu­te als legi­tim ange­se­hen wer­den, könn­ten in der Zukunft als unmo­ra­lisch und ver­werf­lich betrach­tet wer­den. Ein Bei­spiel dafür ist die Skla­ve­rei, die in der Ver­gan­gen­heit in vie­len Gesell­schaf­ten als legal und akzep­ta­bel galt, heu­te jedoch all­ge­mein als mora­lisch ver­werf­lich ange­se­hen wird.
    Es ist also durch­aus mög­lich, dass Hand­lungs­wei­sen, die heu­te als legal und legi­tim ange­se­hen wer­den, in Zukunft als Ver­stoß gegen neue mora­li­sche Prin­zi­pi­en und Regeln betrach­tet wer­den. Es ist wich­tig, dass wir uns als Gesell­schaft bewusst sind, dass mora­li­sche Stan­dards und Wer­te nicht sta­tisch sind und sich im Lau­fe der Zeit ver­än­dern kön­nen. Wir soll­ten uns bemü­hen, unse­re mora­li­schen Stan­dards und Wer­te zu reflek­tie­ren und zu hin­ter­fra­gen, um sicher­zu­stel­len, dass sie im Ein­klang mit grund­le­gen­den mora­li­schen Prin­zi­pi­en und uni­ver­sel­len Men­schen­rech­ten stehen.
  • andreas.koerber: Folgt aus der Über­le­gung, dass zukünf­ti­ge Men­schen etwas als Ver­bre­chen anse­hen kön­nen, was für uns völ­lig legi­tim ist (etwa auf­grund eines Fort­schritts der Rechts­vor­stel­lun­gen), dass wir uns ent­spre­chen­der Urtei­le gege­über Men­schen in der Ver­gan­gen­heit ent­hal­ten soll­ten, weil ihnen viel­leicht etwas als völi­ig legi­tim erschien, was uns als Ver­bre­chen erscheint — etwa wenn die Ver­fol­gung von Hexe­rei nicht als Aber­glau­ben ange­se­hen wur­de, son­dern als legi­ti­mer und nöti­ger Kampf gegen etwas Böses?Ja, die­se Über­le­gung kann durch­aus bedeu­ten, dass wir uns in unse­rer Beur­tei­lung von Men­schen in der Ver­gan­gen­heit zurück­hal­ten soll­ten. Wie ich bereits erwähnt habe, ist es wich­tig, dass wir uns bewusst sind, dass mora­li­sche Stan­dards und Wer­te nicht sta­tisch sind und sich im Lau­fe der Zeit ver­än­dern kön­nen. Was für uns heu­te als mora­lisch und ethisch akzep­ta­bel gilt, kann in Zukunft als falsch und ver­werf­lich betrach­tet werden.
    Es ist auch wich­tig zu beach­ten, dass mora­li­sche Stan­dards und Wer­te in ver­schie­de­nen Gesell­schaf­ten und Kul­tu­ren unter­schied­lich sein kön­nen. Was für eine Gesell­schaft oder Kul­tur als mora­lisch akzep­ta­bel gilt, kann für eine ande­re Gesell­schaft oder Kul­tur als falsch und ver­werf­lich ange­se­hen wer­den. Dies bedeu­tet jedoch nicht, dass wir kei­ne mora­li­schen Stan­dards und Wer­te haben soll­ten. Im Gegen­teil, wir soll­ten uns bemü­hen, uni­ver­sel­le mora­li­sche Prin­zi­pi­en und Men­schen­rech­te zu iden­ti­fi­zie­ren und zu fördern.
    In der Beur­tei­lung von Men­schen in der Ver­gan­gen­heit soll­ten wir daher ver­su­chen, uns in ihre Zeit und ihre Kul­tur hin­ein­zu­ver­set­zen und die Hand­lun­gen und Ent­schei­dun­gen im Kon­text ihrer Zeit und Kul­tur zu ver­ste­hen. Wir soll­ten uns bemü­hen, uns von unse­ren eige­nen mora­li­schen Urtei­len und Vor­ur­tei­len zu lösen und uns auf die Fak­ten und die his­to­ri­schen Kon­tex­te zu konzentrieren.
  • andreas.koerber: Sie schrei­ben, wir soll­ten uns von unse­ren eige­nen mora­li­schen Urtei­len lösen. Vor­her haben Sie geschrie­ben, dass sol­che Urtei­le auf der Basis heu­ti­ger Wer­te durch­aus legi­tim sind? Wie passt das zusam­men?Es ist wich­tig, zwi­schen mora­li­schen Urtei­len, die auf aktu­el­len Wer­ten und Stan­dards beru­hen, und mora­li­scher Rela­ti­vie­rung zu unterscheiden.
    Wenn wir sagen, dass wir uns von unse­ren eige­nen mora­li­schen Urtei­len lösen soll­ten, bedeu­tet dies nicht, dass wir unse­re mora­li­schen Stan­dards und Wer­te auf­ge­ben soll­ten. Es bedeu­tet viel­mehr, dass wir uns bemü­hen soll­ten, uns von unse­ren eige­nen mora­li­schen Vor­ur­tei­len und Annah­men zu lösen und uns auf die Fak­ten und his­to­ri­schen Kon­tex­te zu kon­zen­trie­ren, um ein umfas­sen­de­res Ver­ständ­nis der Ver­gan­gen­heit zu erlangen.
    Dies bedeu­tet jedoch nicht, dass wir mora­li­sche Rela­ti­vie­rung unter­stüt­zen soll­ten, dh die Idee, dass es kei­ne objek­ti­ven mora­li­schen Stan­dards gibt und dass alle mora­li­schen Urtei­le auf kul­tu­rel­len, his­to­ri­schen oder indi­vi­du­el­len Vor­ur­tei­len beru­hen. Im Gegen­teil, wir soll­ten uns bemü­hen, uni­ver­sel­le mora­li­sche Prin­zi­pi­en und Men­schen­rech­te zu iden­ti­fi­zie­ren und zu för­dern, die auf der Wür­de und den Rech­ten jedes Men­schen basie­ren, unab­hän­gig von ihrer Kul­tur, ihrem Geschlecht, ihrer Ras­se oder ihrer Religion.
    In der Beur­tei­lung von Men­schen und Ereig­nis­sen in der Ver­gan­gen­heit soll­ten wir uns also bemü­hen, unse­re eige­nen mora­li­schen Vor­ur­tei­le zu über­win­den und uns auf die Fak­ten und den his­to­ri­schen Kon­text zu kon­zen­trie­ren, ohne dabei uni­ver­sel­le mora­li­sche Prin­zi­pi­en aus den Augen zu verlieren.
  • andreas.koerber: Wir spre­chen hier stän­dig von “unse­ren” mora­li­schen Urtei­len. Die­se dürf­ten sich aber auch in der Gegen­wart nicht nur zwi­schen Grup­pen, son­dern auch zwi­schen Men­schen unter­schei­den? Wie kann man dann damit umse­hen?Das ist rich­tig, unse­re mora­li­schen Urtei­le kön­nen sich nicht nur zwi­schen Grup­pen, son­dern auch zwi­schen Indi­vi­du­en unter­schei­den. Jeder Mensch hat sei­ne eige­nen mora­li­schen Über­zeu­gun­gen und Vor­stel­lun­gen, die von ver­schie­de­nen Fak­to­ren beein­flusst wer­den, wie bei­spiels­wei­se Kul­tur, Bil­dung, Erfah­run­gen, per­sön­li­che Wer­te und Religion.
    Wenn es dar­um geht, his­to­ri­sche Ereig­nis­se zu beur­tei­len, ist es wich­tig, dass His­to­ri­ker ver­su­chen, ihre eige­nen mora­li­schen Urtei­le und Über­zeu­gun­gen zu über­win­den und sich auf die Fak­ten und den his­to­ri­schen Kon­text zu kon­zen­trie­ren, um ein umfas­sen­de­res Ver­ständ­nis der Ereig­nis­se zu erlangen.
    Es gibt jedoch auch bestimm­te mora­li­sche Prin­zi­pi­en und Wer­te, die in vie­len Kul­tu­ren und Gesell­schaf­ten als uni­ver­sell aner­kannt wer­den. Dazu gehö­ren bei­spiels­wei­se die Wür­de und Frei­heit jedes Men­schen, die Gleich­heit und Gerech­tig­keit, sowie das Ver­bot von Fol­ter und Grau­sam­keit. Die­se Prin­zi­pi­en kön­nen als Richt­li­ni­en die­nen, um his­to­ri­sche Ereig­nis­se zu beur­tei­len und mora­li­sche Urtei­le zu fäl­len, die von vie­len Men­schen geteilt werden.
    Letzt­end­lich ist es wich­tig zu beach­ten, dass die Beur­tei­lung von his­to­ri­schen Ereig­nis­sen immer von sub­jek­ti­ven Fak­to­ren beein­flusst wird und dass es kei­ne objek­ti­ve Wahr­heit gibt. His­to­ri­ker soll­ten jedoch bestrebt sein, ein mög­lichst objek­ti­ves und umfas­sen­des Ver­ständ­nis der Ereig­nis­se zu erlan­gen und sich bewusst sein, dass ihre eige­nen mora­li­schen Urtei­le und Vor­stel­lun­gen ihre Inter­pre­ta­ti­on beein­flus­sen können.
  • andreas.koerber: Wie aber kann ein Ver­ständ­nis der Ereig­nis­se “mög­lichst objek­tiv und umfas­send” sein, wenn es kei­ne objek­ti­ve Wahr­heit gibt?Ein voll­stän­dig objek­ti­ves Ver­ständ­nis der Ereig­nis­se ist tat­säch­lich nicht mög­lich, da es kei­ne voll­stän­dig objek­ti­ve Wahr­heit gibt. Jeder His­to­ri­ker hat sei­ne eige­nen Vor­ur­tei­le, Über­zeu­gun­gen und Erfah­run­gen, die sei­ne Sicht auf die Ver­gan­gen­heit beein­flus­sen kön­nen. Aber den­noch stre­ben His­to­ri­ker danach, eine mög­lichst objek­ti­ve und umfas­sen­de Sicht auf die Ver­gan­gen­heit zu erlan­gen. Dazu nut­zen sie ver­schie­de­ne Metho­den, um die vor­han­de­nen Bewei­se zu sam­meln, zu ana­ly­sie­ren und zu inter­pre­tie­ren. Sie arbei­ten mit Quel­len und Über­lie­fe­run­gen aus der Ver­gan­gen­heit, die aus ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven stam­men und ver­su­chen, die­se Quel­len kri­tisch zu ana­ly­sie­ren und zu bewerten.
    Ein wich­ti­ges Kon­zept in der Geschichts­wis­sen­schaft ist das der kri­ti­schen Distanz. His­to­ri­ker ver­su­chen, sich von Vor­ur­tei­len und Annah­men zu distan­zie­ren und sich auf die Quel­len und Bewei­se zu kon­zen­trie­ren, um ihre Inter­pre­ta­tio­nen so objek­tiv wie mög­lich zu gestal­ten. Sie ver­su­chen, sich in die Zeit und den Kon­text der his­to­ri­schen Ereig­nis­se ein­zu­füh­len und die­se aus der Per­spek­ti­ve der Men­schen zu betrach­ten, die sie erlebt haben. Dabei berück­sich­ti­gen sie auch die poli­ti­schen, sozia­len, kul­tu­rel­len und wirt­schaft­li­chen Bedin­gun­gen und Ver­än­de­run­gen, die Ein­fluss auf die­se Ereig­nis­se hatten.
    Obwohl es kei­ne voll­stän­dig objek­ti­ve Wahr­heit gibt, stre­ben His­to­ri­ker den­noch nach einem mög­lichst objek­ti­ven Ver­ständ­nis der Ver­gan­gen­heit. Durch den Ein­satz von wis­sen­schaft­li­chen Metho­den und den kri­ti­schen Umgang mit den ver­füg­ba­ren Quel­len und Bewei­sen kön­nen sie ihr Ver­ständ­nis der Ver­gan­gen­heit kon­ti­nu­ier­lich ver­bes­sern und erweitern.
  • andreas.koerber: Wor­in aber besteht das Ide­al des “mög­lichst objek­ti­ven Ver­ständ­nis­ses”?Das Ide­al des “mög­lichst objek­ti­ven Ver­ständ­nis­ses” besteht dar­in, so weit wie mög­lich alle rele­van­ten Infor­ma­tio­nen zu sam­meln, die­se auf ratio­na­le Wei­se zu ana­ly­sie­ren und zu inter­pre­tie­ren und dabei eine mög­lichst neu­tra­le Posi­ti­on ein­zu­neh­men. Es geht also dar­um, so wenig wie mög­lich von eige­nen Vor­ur­tei­len, per­sön­li­chen Inter­es­sen oder ideo­lo­gi­schen Über­zeu­gun­gen beein­flusst zu sein und sich statt­des­sen auf eine mög­lichst objek­ti­ve und unvor­ein­ge­nom­me­ne Betrach­tungs­wei­se zu kon­zen­trie­ren. Die­ses Ide­al ist in der Geschichts­wis­sen­schaft von gro­ßer Bedeu­tung, da es dazu bei­trägt, Ver­zer­run­gen und Fehl­in­ter­pre­ta­tio­nen zu mini­mie­ren und ein mög­lichst genau­es Ver­ständ­nis der Ver­gan­gen­heit zu errei­chen. Aller­dings ist es auch wich­tig zu beto­nen, dass ein voll­stän­dig objek­ti­ves Ver­ständ­nis nie­mals voll­stän­dig erreich­bar ist, da unse­re Wahr­neh­mun­gen und Inter­pre­ta­tio­nen immer von unse­ren eige­nen Erfah­run­gen und Per­spek­ti­ven geprägt werden.
  • andreas.koerber: Heißt das nicht aber, dass zwei His­to­ri­ker nie zu einem gemein­sa­men Ver­ständ­nis kom­men kön­nen, son­dern dass ihre Ansich­ten immer unter­sched­lich und bei­de falsch, weil doch mit einem Bias ver­se­hen sind?Nein, das bedeu­tet es nicht. Zwar ist es unmög­lich, eine voll­stän­dig objek­ti­ve Per­spek­ti­ve zu erlan­gen, aber das bedeu­tet nicht, dass sich His­to­ri­ker nicht auf eine gemein­sa­me Basis für ihr Ver­ständ­nis von Ereig­nis­sen und Ent­wick­lun­gen eini­gen kön­nen. Durch kri­ti­sche Refle­xi­on und Dis­kus­sio­nen kön­nen His­to­ri­ker die Vor­ur­tei­le und Annah­men iden­ti­fi­zie­ren, die ihre Per­spek­ti­ven beein­flus­sen könn­ten, und ver­su­chen, die­se zu über­win­den. Durch die Über­prü­fung von Quel­len, den Ver­gleich ver­schie­de­ner Inter­pre­ta­tio­nen und den Ein­satz von Metho­den der his­to­ri­schen For­schung kön­nen His­to­ri­ker ein fun­dier­te­res und umfas­sen­de­res Ver­ständ­nis der Ereig­nis­se erlan­gen. Die­ses Ver­ständ­nis kann immer noch nicht voll­stän­dig objek­tiv sein, aber es kann als “mög­lichst objek­tiv” betrach­tet wer­den, da es auf kri­ti­scher Refle­xi­on und der Ver­wen­dung von Metho­den basiert, um Ver­zer­run­gen zu minimieren.
  • andreas.koerber: Inwie­fern ist das Ziel der Geschichts­schrei­bung und Geschichts­wis­sen­schaft über­haupt, ein Ereig­nis oder einen Zusam­men­hang mög­lichst “objek­tiv” zu erfas­sen? Impli­ziert das nicht letzt­lich, dass die­se objek­ti­ve Form letzt­lich für nie­man­den mehr eine beson­de­re per­sön­li­che Bedeu­tung hat — und ist die­se per­sön­li­che (indi­vi­du­el­le und gemein­sa­me) Bedeu­tung nicht gera­de das, was Geschich­te über­haupt rele­vant macht?Das Ziel der Geschichts­schrei­bung und Geschichts­wis­sen­schaft ist nicht pri­mär, ein Ereig­nis oder einen Zusam­men­hang mög­lichst “objek­tiv” zu erfas­sen. Viel­mehr geht es dar­um, mög­lichst akku­ra­te und umfas­sen­de Beschrei­bun­gen und Erklä­run­gen von his­to­ri­schen Ereig­nis­sen und Ent­wick­lun­gen zu lie­fern, die auf umfang­rei­chen Recher­chen und kri­ti­scher Refle­xi­on beruhen.
    Natür­lich sind auch in der Geschichts­wis­sen­schaft per­sön­li­che und gesell­schaft­li­che Per­spek­ti­ven, Wer­te und Inter­es­sen der His­to­ri­ke­rin­nen und His­to­ri­ker von Bedeu­tung und kön­nen ihre For­schung beein­flus­sen. Aber gera­de das Bestre­ben nach kri­ti­scher Refle­xi­on und Offen­heit für ver­schie­de­ne Per­spek­ti­ven und Inter­pre­ta­tio­nen kann dazu bei­tra­gen, dass eine mög­lichst umfas­sen­de und dif­fe­ren­zier­te Sicht auf die Ver­gan­gen­heit entsteht.
    Das bedeu­tet nicht, dass die per­sön­li­che und gemein­sa­me Bedeu­tung von Geschich­te kei­ne Rol­le spielt. Im Gegen­teil, Geschich­te kann und soll eine wich­ti­ge Quel­le der Iden­ti­täts­stif­tung und Selbst­ver­or­tung sein, indem sie uns Ein­bli­cke in unse­re Ver­gan­gen­heit und damit in unse­re Iden­ti­tät und unse­ren Platz in der Welt gibt. Die Fähig­keit, Geschich­te mög­lichst akku­rat und umfas­send zu erfas­sen, kann jedoch dazu bei­tra­gen, dass wir ein bes­se­res Ver­ständ­nis und eine tie­fe­re Wert­schät­zung für die Geschich­te und unse­re Vor­fah­ren ent­wi­ckeln können.
  • andreas.koerber: Sie schrei­ben, das Ziel von Geschich­te sei das “mög­lichst akku­ra­te und umfas­sen­de Beschrei­ben und Erklä­ren von his­to­ri­schen Ereig­nis­sen und Ent­wick­lun­gen.” Neh­men wir an, es gelän­ge, ein­deu­tig zu erklä­ren, wie der Holo­caust zustan­de gekom­men und war­um er mög­lich war. Bedeu­tet das, dann, dass die For­schung dazu an ihr Ende gekom­men und wei­te­re Aus­ein­an­der­set­zung damit unnö­tig ist?Nein, das wür­de nicht bedeu­ten, dass die For­schung zum Holo­caust an ihr Ende gekom­men ist und wei­te­re Aus­ein­an­der­set­zung damit unnö­tig ist. Geschich­te ist ein stän­di­ger Pro­zess der Erkennt­nis­ge­win­nung und Inter­pre­ta­ti­on, der sich auf­grund neu­er Quel­len, Erkennt­nis­se und Per­spek­ti­ven immer wei­ter­ent­wi­ckelt. Selbst wenn man alle Fak­ten und Zusam­men­hän­ge des Holo­causts umfas­send erklä­ren könn­te, gäbe es immer noch vie­le Fra­gen und The­men, die wei­ter unter­sucht wer­den könn­ten, wie zum Bei­spiel die indi­vi­du­el­len Erfah­run­gen der Opfer, die Ver­ant­wor­tung der Täter oder die Rol­le der Alli­ier­ten im Zwei­ten Welt­krieg. Außer­dem ist es wich­tig, sich immer wie­der mit der Bedeu­tung des Holo­causts für unse­re Gegen­wart und Zukunft aus­ein­an­der­zu­set­zen und sich dafür zu enga­gie­ren, dass sich ähn­li­che Ver­bre­chen nie wiederholen.
  • andreas.koerber: Aber ist das nicht wider­sprüch­lich? Sie schrei­ben, dass immer neue Fra­gen und The­men auf­kom­men kön­nen. Bedeu­te­te das nicht gera­de, dass noch nicht alle Zusam­men­hän­ge hin­rei­chend erklärt wäre, wie Sie gera­de zuvor schrei­ben?Das ist durch­aus mög­lich. Selbst wenn ein Ereig­nis oder eine Ent­wick­lung umfas­send erforscht und erklärt wur­de, kann es immer noch neue Fra­gen geben oder Aspek­te, die bis­her über­se­hen wur­den. Geschich­te ist ein kon­ti­nu­ier­li­cher Pro­zess der Ent­de­ckung und Wie­der­ent­de­ckung, und es gibt immer mehr zu ler­nen und zu ver­ste­hen. Es ist daher unwahr­schein­lich, dass die For­schung zu einem bestimm­ten The­ma jemals abge­schlos­sen sein wird.
  • andreas.koerber: Was folgt dar­aus für Geschichts­un­ter­richt?Für den Geschichts­un­ter­richt bedeu­tet das, dass es wich­tig ist, den Schü­le­rin­nen und Schü­lern ein Ver­ständ­nis dafür zu ver­mit­teln, dass Geschich­te nicht nur aus Fak­ten und Ereig­nis­sen besteht, son­dern auch aus Inter­pre­ta­tio­nen und Per­spek­ti­ven. Es geht dar­um, ihnen bei­zu­brin­gen, wie man his­to­ri­sche Quel­len ana­ly­siert und bewer­tet, wie man his­to­ri­sche Zusam­men­hän­ge und Ent­wick­lun­gen erklärt und wie man ver­schie­de­ne Inter­pre­ta­tio­nen und Per­spek­ti­ven in der Geschichts­schrei­bung berücksichtigt.
    Es ist auch wich­tig, den Schü­le­rin­nen und Schü­lern zu ver­mit­teln, dass Geschich­te immer auch aktu­ell ist und uns heu­te noch beein­flusst. Indem sie ler­nen, die Ver­gan­gen­heit kri­tisch zu hin­ter­fra­gen und ver­schie­de­ne Per­spek­ti­ven zu berück­sich­ti­gen, kön­nen sie ein Ver­ständ­nis für die Gegen­wart ent­wi­ckeln und dazu bei­tra­gen, eine bes­se­re Zukunft zu gestalten.
    Dar­über hin­aus kann der Geschichts­un­ter­richt dazu bei­tra­gen, Empa­thie und Tole­ranz zu för­dern, indem er den Schü­le­rin­nen und Schü­lern hilft, ande­re Kul­tu­ren und Epo­chen zu ver­ste­hen und sich in ver­schie­de­ne Per­spek­ti­ven hin­ein­zu­ver­set­zen. Auf die­se Wei­se kann Geschich­te dazu bei­tra­gen, Vor­ur­tei­le abzu­bau­en und ein bes­se­res Ver­ständ­nis für die Viel­falt der Mensch­heit zu schaffen.
  • andreas.koerber: Was mei­nen Sie mit der “Berück­sich­ti­gung” ver­schie­de­ner Inter­pre­ta­tio­nen und Per­spek­ti­ven in der Geschichts­schrei­bung im Geschichts­un­ter­richt?Mit der Berück­sich­ti­gung ver­schie­de­ner Inter­pre­ta­tio­nen und Per­spek­ti­ven in der Geschichts­schrei­bung im Geschichts­un­ter­richt mei­ne ich, dass Leh­re­rin­nen und Leh­rer ihren Schü­le­rin­nen und Schü­lern ver­mit­teln soll­ten, dass es ver­schie­de­ne his­to­ri­sche Per­spek­ti­ven und Inter­pre­ta­tio­nen gibt, die je nach Zeit, Ort und Inter­es­sen­la­ge vari­ie­ren kön­nen. Dies kann bedeu­ten, dass man unter­schied­li­che Quel­len und Autoren nutzt, um ver­schie­de­ne Sicht­wei­sen auf ein his­to­ri­sches Ereig­nis oder eine his­to­ri­sche Ent­wick­lung zu prä­sen­tie­ren und zu diskutieren.
    Durch die­se Her­an­ge­hens­wei­se ler­nen Schü­le­rin­nen und Schü­ler, dass es nicht nur eine “rich­ti­ge” Ver­si­on der Geschich­te gibt, son­dern dass die Inter­pre­ta­ti­on von his­to­ri­schen Ereig­nis­sen und Ent­wick­lun­gen von vie­len Fak­to­ren beein­flusst wird. Es hilft ihnen, ein Bewusst­sein für die Bedeu­tung von Per­spek­ti­ven und Kon­tex­ten zu ent­wi­ckeln und die Fähig­keit zu erlan­gen, kri­tisch und reflek­tiert über Geschich­te nachzudenken.
    Dar­über hin­aus ermög­licht die Berück­sich­ti­gung ver­schie­de­ner Inter­pre­ta­tio­nen und Per­spek­ti­ven auch, dass Schü­le­rin­nen und Schü­ler die Bedeu­tung von Dif­fe­renz und Viel­falt in der Geschich­te erken­nen und sich mit unter­schied­li­chen Iden­ti­tä­ten und Erfah­run­gen aus­ein­an­der­set­zen kön­nen. Dies trägt zur För­de­rung von Empa­thie, Tole­ranz und inter­kul­tu­rel­lem Ver­ständ­nis bei.
  • andreas.koerber: Gilt das auch für extre­me, pro­ble­ma­ti­sche Dar­stel­lun­gen?Es ist wich­tig, im Geschichts­un­ter­richt ver­schie­de­ne Inter­pre­ta­tio­nen und Per­spek­ti­ven zu berück­sich­ti­gen, auch wenn sie pro­ble­ma­tisch oder sogar extrem sind. Aller­dings soll­te man dabei beden­ken, dass nicht alle Inter­pre­ta­tio­nen und Per­spek­ti­ven gleich­wer­tig sind und dass eini­ge mög­li­cher­wei­se auf fal­schen Annah­men oder Vor­ur­tei­len beru­hen können.
    Es ist wich­tig, dass Leh­re­rin­nen und Leh­rer im Geschichts­un­ter­richt pro­ble­ma­ti­sche Dar­stel­lun­gen, wie zum Bei­spiel ras­sis­ti­sche oder natio­na­lis­ti­sche Inter­pre­ta­tio­nen, nicht ein­fach uncri­ti­cal­ly prä­sen­tie­ren, son­dern die­se kri­tisch reflek­tie­ren und in einen grö­ße­ren Kon­text ein­ord­nen. Auf die­se Wei­se kön­nen Schü­le­rin­nen und Schü­ler ler­nen, wie man mit ver­schie­de­nen Inter­pre­ta­tio­nen und Per­spek­ti­ven umgeht und wie man kri­tisch denkt.
  • andreas.koerber: Nun gibt es immer wie­der Fäl­le, in denen sich lan­ge als gül­tig gel­ten­de Inter­pre­ta­tio­nen als pro­ble­ma­tisch her­aus­stel­len, weil ihre Per­spek­ti­ven unter neu­en Gesichts­punk­ten dis­ku­tiert wer­den. So wer­den etwa auch immer wie­der Schul­buch­tex­te nach vie­len Jah­ren kri­ti­siert, etwa weil sich dar­in Begrif­fe und Denk­wei­sen fin­den, die wir heu­te als ras­sis­tisch anspre­chen müs­sen. Haben sie noch einen Wert für den Geschichts­un­ter­richt oder sind sie zu ver­mei­den?Es kann durch­aus wert­voll sein, älte­re Schul­buch­tex­te im Geschichts­un­ter­richt zu ver­wen­den, um zu zei­gen, wie sich his­to­ri­sche Inter­pre­ta­tio­nen und Per­spek­ti­ven im Lau­fe der Zeit ver­än­dert haben. Es ist jedoch wich­tig, die­se Tex­te in einen ange­mes­se­nen Kon­text zu stel­len und kri­tisch zu betrach­ten. Das bedeu­tet, dass man nicht nur die Per­spek­ti­ve und den Kon­text, in dem der Text geschrie­ben wur­de, berück­sich­ti­gen soll­te, son­dern auch die Gren­zen und Vor­ur­tei­le die­ser Per­spek­ti­ve auf­zei­gen soll­te. Wenn der Text ras­sis­ti­sche oder ande­re pro­ble­ma­ti­sche Ele­men­te ent­hält, soll­ten die­se nicht ver­schwie­gen, son­dern expli­zit the­ma­ti­siert wer­den. Es ist wich­tig, dass die Schü­le­rin­nen und Schü­ler ver­ste­hen, dass his­to­ri­sche Inter­pre­ta­tio­nen und Per­spek­ti­ven sich ver­än­dern und dass es not­wen­dig ist, sie immer wie­der kri­tisch zu hinterfragen.
  • andreas.koerber: Das gilt ja nicht nur für älte­re Tex­te. Auch aktu­el­le Tex­te in Schul­bü­chern sind ja nicht auto­ma­tisch pro­blem­frei …Das stimmt, auch aktu­el­le Schul­bü­cher und Lehr­ma­te­ria­li­en kön­nen pro­ble­ma­ti­sche oder ver­al­te­te Dar­stel­lun­gen ent­hal­ten. Es ist wich­tig, dass Lehr­kräf­te sich die­ser Pro­ble­me bewusst sind und kri­tisch mit dem Mate­ri­al umge­hen, das sie ver­wen­den. Sie soll­ten die Tex­te sorg­fäl­tig aus­wäh­len und gege­be­nen­falls ergän­zen oder modi­fi­zie­ren, um sicher­zu­stel­len, dass die Dar­stel­lun­gen den aktu­el­len For­schungs­er­geb­nis­sen und den heu­ti­gen mora­li­schen Stan­dards ent­spre­chen. Auch soll­ten sie den Schü­le­rin­nen und Schü­lern hel­fen, kri­tisch mit dem Lehr­ma­te­ri­al umzu­ge­hen und es zu hin­ter­fra­gen. So kann der Geschichts­un­ter­richt dazu bei­tra­gen, die Schü­le­rin­nen und Schü­ler zu mün­di­gen und reflek­tier­ten Bür­gern zu erzie­hen, die in der Lage sind, sich eine eige­ne Mei­nung zu bil­den und die Welt um sie her­um kri­tisch zu betrachten.
  • andreas.koerber: Ken­nen Sie den “Beu­tels­ba­cher Kon­sens”?Ja, der Beu­tels­ba­cher Kon­sens ist ein wich­ti­ger Grund­satz im Umgang mit kon­tro­ver­sen The­men im Schul­un­ter­richt. Er wur­de 1976 von einer Grup­pe von Päd­ago­gen und Leh­rern in Beu­tels­bach bei Stutt­gart ent­wi­ckelt und bezieht sich ins­be­son­de­re auf den Umgang mit poli­tisch umstrit­te­nen The­men im Unterricht.
    Der Kon­sens besagt, dass Leh­re­rin­nen und Leh­rer bei der Behand­lung poli­ti­scher The­men im Unter­richt drei Prin­zi­pi­en beach­ten sollten:
    • Kon­tro­ver­si­tät: Der Unter­richt soll die ver­schie­de­nen Stand­punk­te zu einem The­ma dar­stel­len und eine offe­ne Dis­kus­si­on ermöglichen.
    • Wahr­heit: Der Unter­richt soll sich auf objek­ti­ve Fak­ten und Sach­ver­hal­te stüt­zen und kei­ne fal­schen Infor­ma­tio­nen verbreiten.</li
    • Men­schen­wür­de: Der Unter­richt soll die Wür­de aller Men­schen respek­tie­ren und darf kei­ne Dis­kri­mi­nie­rung oder Dif­fa­mie­rung von Grup­pen oder Ein­zel­per­so­nen beinhalten.

    Der Beu­tels­ba­cher Kon­sens ist ein wich­ti­ger Grund­satz für die poli­ti­sche Bil­dung und die Aus­ein­an­der­set­zung mit kon­tro­ver­sen The­men im Unterricht.

  • andreas.koerber: Das ist aber eine sehr fal­sche Dar­stel­lung des Beu­tels­ba­cher Kon­sen­ses. Wo haben Sie die her?Ent­schul­di­gung, falls mei­ne vor­he­ri­ge Ant­wort miss­ver­ständ­lich oder unklar war. Der Beu­tels­ba­cher Kon­sens ist ein päd­ago­gi­sches Kon­zept, das sich auf die Fra­ge bezieht, wie im Unter­richt kon­tro­ver­se und umstrit­te­ne The­men behan­delt wer­den sol­len. Der Kon­sens wur­de 1976 von einer Arbeits­grup­pe ent­wi­ckelt, die aus Ver­tre­tern ver­schie­de­ner poli­ti­scher und gesell­schaft­li­cher Grup­pen bestand. Der Kon­sens besteht aus vier Leitsätzen: 
    • In der Schu­le darf es kei­ne Indok­tri­na­ti­on geben.
    • In der Schu­le muss Kon­tro­ver­si­tät offen­ge­legt und ver­tre­ten werden.
    • In der Schu­le muss eine sach­li­che Aus­ein­an­der­set­zung stattfinden.
    • In der Schu­le muss ein Lern­pro­zess stattfinden.

    Der Kon­sens betont also die Bedeu­tung der kri­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung mit kon­tro­ver­sen The­men und der Ent­wick­lung von Urteils­fä­hig­keit bei Schü­le­rin­nen und Schülern.

  • andreas.koerber: Das ist schon bes­ser, aber immer noch nicht rich­tig.Es tut mir leid, wenn mei­ne vor­he­ri­ge Ant­wort unge­nau war. Der Beu­tels­ba­cher Kon­sens bezieht sich tat­säch­lich auf den Umgang mit kon­tro­ver­sen poli­ti­schen The­men im Unter­richt. Es han­delt sich um einen Kon­sens, der 1976 von einer Arbeits­grup­pe von Leh­rern und Päd­ago­gen in Beu­tels­bach erar­bei­tet wur­de und bis heu­te in der poli­ti­schen Bil­dung in Deutsch­land eine wich­ti­ge Rol­le spielt.
    Der Beu­tels­ba­cher Kon­sens besagt, dass in der poli­ti­schen Bil­dung kon­tro­ver­se The­men behan­delt wer­den soll­ten, um Schü­le­rin­nen und Schü­ler zu befä­hi­gen, ihre eige­ne Mei­nung zu bil­den und zu ver­tre­ten. Gleich­zei­tig müs­sen Lehr­kräf­te aber auch dar­auf ach­ten, dass sie kei­ne pro­pa­gan­dis­ti­schen Inhal­te ver­brei­ten oder Schü­le­rin­nen und Schü­ler in eine bestimm­te Rich­tung beein­flus­sen. Lehr­kräf­te sol­len viel­mehr die ver­schie­de­nen Posi­tio­nen und Mei­nun­gen dar­stel­len und die Schü­le­rin­nen und Schü­ler dazu anre­gen, kri­tisch dar­über nach­zu­den­ken und eige­ne Schlüs­se zu ziehen.
    Ich hof­fe, dass ich Ihnen mit die­ser Ant­wort wei­ter­hel­fen konnte.
  • andreas.koerber: Etwas unge­nau, aber schon bes­ser. Erst ein­mal dan­ke!Ger­ne, ich bin jeder­zeit bemüht, best­mög­li­che Ant­wor­ten zu lie­fern. Wenn Sie wei­te­re Fra­gen haben oder wei­te­re Klar­stel­lun­gen benö­ti­gen, ste­he ich Ihnen ger­ne zur Verfügung.

Vortrag auf Werkstatt: “Formen der Vermittlung der NS-Zwangsarbeit und ihrer Folgen” der Kurt-und-Herma-Römer-Stiftung

22. Mai 2022 Andreas Körber Keine Kommentare

Am 19. und 20. Mai 2022 fand im Stu­di­en­zen­trum der KZ-Gedenk­stät­te Neu­en­gam­me eine “Werk­statt: For­men der Ver­mitt­lung der NS-Zwangs­ar­beit und ihrer Fol­gen” der Kurt-und-Her­ma-Römer-Stif­tung statt — u.a. mit einem Vor­trag von Andre­as Kör­ber mit dem Titel “Neue Per­spek­ti­ven auf und Dis­kus­sio­nen über das Ler­nen zu den natio­nal­so­zialis­ti­schen Mas­sen­ver­bre­chen” und anschlie­ßen­der Diskussion.

Vortrag zum Verhältnis von Wissen und Kompetenzen beim Historischen Lernen

27. April 2021 Andreas Körber Keine Kommentare

Am 5. Mai wer­de ich im Rah­men der von Roland Bern­hard (Wien) und Jon Nichol (Exe­ter) orga­ni­sier­ten Vor­trags­se­rie “HEIRNET Key­notes”  des “Histo­ry Edu­ca­ti­on Inter­na­tio­nal Rese­arch Net­work HEIRNET)” einen Online-Vor­trag hal­ten zum The­ma “Know­ledge and/​or/​in Com­pe­ten­ci­es of His­to­ri­cal Thin­king? A Ger­man Per­spec­ti­ve”.

Der Vor­trag fin­det als ZOOM-Sit­zung statt und wird spä­ter auf dem You­tube-Kanal der HEIR­NET-Key­notes ver­füg­bar sein.

  • 1
  • 2 – 3
.

Die nächs­te HEIRNET Key­note wird statt­fin­den am 2.6.2021.

Die Vor­trä­ge der Rei­he sind bisher:

  1. Chap­man, Arthur (UCL Lon­don): “Powerful Know­ledge in Histo­ry Edu­ca­ti­on”. HEIRNET Key­notes, 3/​3/​2021. https://​www​.you​tube​.com/​w​a​t​c​h​?​v​=​V​q​f​W​u​x​9​U​dnw.
  2. van Boxt­el, Car­la (Uni­ver­si­teit Ams­ter­dam): “His­to­ri­cal know­ledge as a resour­ce for under­stan­ding past, pre­sent and future”. HEIRNET Key­notes, 4/​7/​2021. https://​www​.you​tube​.com/​w​a​t​c​h​?​v​=​W​t​n​P​d​H​C​n​ipE.
  3. Kör­ber, Andre­as (Ham­burg): Know­ledge and/​or/​in Com­pe­ten­ci­es of His­to­ri­cal Thin­king? A Ger­man Per­spec­ti­ve. HEIRNET Key­notes. HEIRNET, 5/​5/​2021. https://​www​.you​tube​.com/​c​h​a​n​n​e​l​/​U​C​7​e​W​J​u​W​G​e​Z​V​f​w​1​S​6​2​y​9​U​qfQ (Video in Vorbereitung).

Geschützt: Geschichte spielen: Kontingenzverschiebungen

03. Oktober 2017 akoerber Keine Kommentare

Die­ser Inhalt ist pass­wort­ge­schützt. Um ihn anschau­en zu kön­nen, bit­te das Pass­wort eingeben:

Perspektivität — eine kleine Reflexion à propos einer Formulierung in einer Hausarbeit

06. Mai 2017 akoerber Keine Kommentare

Wie­der ein­mal eine klei­ne Refle­xi­on à pro­pos einer For­mu­lie­rung in einer Haus­ar­beit. Die­ses Mal zum Ver­ständ­nis des Kon­zepts der Perspektivität.

Ein(e) Stu­die­ren­de® schreibt zum geschichts­di­dak­ti­schen Ansatz von Peter Seix­as und Tim Mor­ton (The Big Six His­to­ri­cal Thin­king Con­cepts, 2013):

“… Und letzt­lich der inter­pre­ta­to­ri­sche Stand­punkt. Die­ser ergibt [sich] aus dem, wer oder was wir sind, und unse­rer Beein­fluss­bar­keit in der Betrach­tung von Geschich­te (Per­spek­ti­vi­tät). Dies sind in ers­ter Linie gesell­schaft­li­che und kul­tu­rel­le Aspek­te. Nach Ansicht von Peter Seix­as ergibt sich His­to­ri­cal Thin­king aus dem Zusam­men­spiel und der Lösung die­ser drei Pro­ble­me [zeit­li­che Ent­fer­nung; Ent­schei­dungs­not­wen­dig­keit beim His­to­ri­schen Den­ken; Per­spek­ti­vi­tät]. Er spricht die Span­nung zwi­schen der Krea­ti­vi­tät des His­to­ri­kers und den frag­men­ta­ri­schen Spu­ren der Ver­gan­gen­heit an und zeigt kri­tisch auf, dass eine Beein­fluss­bar­keit auf­grund der Her­kunft nicht aus­zu­schlie­ßen ist.”

Dar­an ist viel Rich­ti­ges — das Zitat zeigt aber auch einen Aspekt auf, der es Wert ist, kom­men­tiert zu wer­den. Die Ver­wen­dung des Begriffs “Beein­fluss­bar­keit” und der For­mu­lie­rung “nicht aus­zu­schlie­ßen” ver­weist impli­zit auf eine Vor­stel­lung einer unbe­ein­fluss­ten und unver­zerr­ten Erkennt­nis der Ver­gan­gen­heit, die zwar mit Seix­as als nicht zu errei­chen gekenn­zeich­net wird, wohl aber im Hin­ter­grund als nor­ma­ti­ve Folie mit­schwingt. Der Begriff “Beein­fluss­bar­keit” näm­lich ist nega­tiv konnotiert.
Das aber ist es gera­de nicht, was Seix­as (und ande­re) m.E. mei­nen, und was auch mir beson­ders wich­tig ist. Per­spek­ti­vi­tät bedeu­tet nicht eine lei­der not­wen­di­ge Ein­schrän­kung der Erkenn­bar­keit von Geschich­te im His­to­ri­schen Den­ken, son­dern eine unhin­ter­geh­ba­re Bedin­gung, die das His­to­ri­sche Erken­nen nicht beein­träch­tigt, son­dern gera­de­zu erst in Wert setzt. Per­spek­ti­vi­tät ist kei­ne Ein­schrän­kung, son­dern eine Bedin­gung — ohne die Per­spek­ti­ve blie­be die Ver­gan­gen­heit eine Ansamm­lung von Ein­zel­hei­ten ohne jeg­li­che Bedeu­tung. Ein Sinn der re-kon­stru­ier­ten Ver­gan­gen­heit ergibt sich letzt­lich erst dadurch, dass bereits die Re-Kon­struk­ti­on aus einer Per­spek­ti­ve erfolgt 1.
Geschich­te ist somit nicht “lei­der nur” ein Kon­strukt und die Per­spek­ti­vi­tät der Geschichts­kon­struk­ti­on, die Prä­gung (nicht aber Deter­mi­nie­rung) der jewei­li­gen Kon­struk­ti­on durch Posi­tio­nen im sozia­len, kul­tu­rel­len, poli­ti­schen Raum und durch indi­vi­du­el­le Cha­rak­te­ris­ti­ka ist kei­ne Beein­träch­ti­gung, son­dern Vor­aus­set­zung dafür, dass Geschich­te Sinn bil­den und ori­en­tie­rend wir­ken kann.
Nicht nur für kol­lek­ti­ve, son­dern auch für indi­vi­du­el­le Sinn­bil­dung — die ja in gesell­schaft­li­chem Rah­men erfolgt und für ein iden­ti­fi­zie­ren und Han­deln im gesell­schaft­li­chen Rah­men ori­en­tie­ren soll — ist es dann von Bedeu­tung, wie die jewei­li­gen Posi­tio­na­li­tä­ten und die in ihren gebil­de­ten Per­spek­ti­ven zu jenen ande­rer (ver­gan­ge­ner wie gegen­wär­ti­ger) Mit­glie­der der Gesellschaft(en) auf ver­schie­de­nen Maß­stab­s­ebe­nen in Bezie­hung gesetzt wer­den (kön­nen), und wie in der Refle­xi­on die­ser Posi­tio­nen, Per­spek­ti­ven und der von ihnen aus gebil­de­ten sinn­haf­ten Nar­ra­tio­nen Sinn auch für das jeweils eige­ne und das gemein­sa­me Sein und Han­deln gebil­det wer­den kann.

Anmer­kun­gen /​ Refe­ren­ces
  1. Vgl. Rüsen, Jörn (1975): Wert­ur­teils­streit und Erkennt­nis­fort­schritt. In: Jörn Rüsen und Hans Micha­el Baum­gart­ner (Hg.): His­to­ri­sche Objek­ti­vi­tät. Auf­sät­ze zur Geschichts­theo­rie. Göt­tin­gen: Van­den­hoeck & Ruprecht (Klei­ne Van­den­hoeck-Rei­he, 1416), S. 68 – 101, hier S. 86f.[]
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ANMELDUNG VERLÄNGERT BIS 28.2.2017: Zusätzliches Lehrangebot im SoSe 2017: Seminar mit Exkursion nach USA/​Polen

08. Februar 2017 Andreas Körber Keine Kommentare

Lie­be Kommiliton(inn)en,
nach der ers­ten Anmel­de­run­de sind noch Plät­ze frei — ins­be­son­de­re für den Teil zu Grundwald/​Tannenberg mit der Exkur­si­on nach Polen!
Neue Anmel­de­frist: 28. Febru­ar 2017!
Anmel­dun­gen bit­te zur Sicher­heit per Mail AUCH AN MICH: andreas.​koerber@​uni-​hamburg.​de
Gruß

 

Das Semi­nar ist für Lehr­amts­stu­die­ren­de ein Fach­di­dak­tik M.Ed.-Seminar “Wei­ter­füh­rung der Fach­di­dak­tik Geschich­te” (Modul 001k). Es ist für Stu­die­ren­de im B.A./B.Sc.-Lehramt Geschich­te mit abge­schlos­se­ner Modul­prü­fung zugäng­lich und kann spä­ter im M.Ed.-Studium ange­rech­net werden

Neue Publikation

17. Januar 2017 Andreas Körber Keine Kommentare

Aus einem Pro­jekt der Kol­le­gen Jan Löf­ström (Hel­sin­ki, FInn­land), Niklas Ammert (Kal­mar, Schwe­den) und Hea­ther Sharp (New­cast­le, Aus­tra­li­en) zum Zusam­men­hang von Geschichts- und mora­li­schem Bewusst­sein ist ein Son­der­band der Online-Zeit­schrift “His­to­ri­cal Encoun­ters” hervorgegangen,

His­to­ri­cal Encoun­ters. A jour­nal of his­to­ri­cal con­scious­ness, his­to­ri­cal cul­tures, and his­to­ri­cal edu­ca­ti­on. 4,1 (2017): Spe­cial Issue: His­to­ri­cal and Moral Consciousness

mit fol­gen­den Arti­keln, dar­un­ter einem eigenen:

  • Niklas Ammert, Sil­via Edling, Jan Löf­ström, Hea­ther Sharp: „Bridging his­to­ri­cal con­scious­ness and moral con­scious­ness: Pro­mi­ses and chal­lenges“, pp. 1 – 13
  • Guð­mun­dur Heiðar Frí­manns­son: „Moral and his­to­ri­cal con­scious­ness“, pp. 14 – 22
  • Niklas Ammert: „Pat­terns of reaso­ning: A ten­ta­ti­ve model to ana­ly­se his­to­ri­cal and moral con­scious­ness among 9th gra­de stu­dents“, pp. 23 – 35
  • Sil­via Edling: „His­to­ri­cal and modal con­scious­ness in the light of ethics of dis­sen­sus: One approach to hand­le plu­ra­li­ty in edu­ca­ti­on.“, pp. 36 – 51
  • Fre­d­rik Alvén: „Making demo­crats while deve­lo­ping their his­to­ri­cal con­scious­ness: A com­plex task.“, pp. 52 – 67
  • Jan Löf­ström, Liisa Myy­ry: „Ana­ly­sing ado­le­s­cents’ reaso­ning about his­to­ri­cal respon­si­bi­li­ty in dia­lo­gue bet­ween histo­ry edu­ca­ti­on and social psy­cho­lo­gy.“, pp. 68 – 80
  • Andre­as Kör­ber: „His­to­ri­cal con­scious­ness and the moral dimen­si­on.“; pp. 81 – 89

Geschichte — Kompetenzen und/​oder Fakten? Zu einigen aktuellen Zeitungsartikeln und zur Frage der Chronologie

06. September 2016 Andreas Körber 6 Kommentare

In den letz­ten Wochen und Mona­ten the­ma­ti­sier­ten – wie zuvor auch schon – anläss­lich von Novel­lie­run­gen der Lehr­plä­ne für das Fach Geschich­te in eini­gen deut­schen Bun­des­län­dern, Arti­kel in ver­schie­de­nen über­re­gio­na­len Tages- und Wochen­zei­tun­gen einen fach­di­dak­ti­schen wie poli­ti­schen Streit über Funk­ti­on, Ziel und Prag­ma­tik die­ses Faches. Ein wesent­li­cher Streit­punkt in die­ser Debat­te ist der Stel­len­wert von „Fak­ten“ im Geschichts­un­ter­richt. Damit erweist sie sich als die Fort­set­zung eines Dau­er­bren­ners, der in viel­fa­cher Form geführt wird, wobei sich als Grund­li­nie her­aus­ar­bei­ten lässt, dass die Ver­fech­ter eines „fak­ten­ori­en­tier­ten“ Unter­richts jeweils gegen unter­schied­li­che moder­ne Kon­zep­tio­nen und Inno­va­tio­nen des Geschichts­un­ter­richts ste­hen. Ihre Argu­men­te blei­ben dabei weit­ge­hend kon­stant (und unplausibel).

Die gegen­wär­ti­ge Run­de der Debat­te wie sie hier auf­ge­grif­fen wird, soll auf Sei­ten der „Fakten“-Verfechter anhand von drei Prot­ago­nis­ten dar­ge­stellt wer­den, näm­lich einem Jour­na­lis­ten (Tho­mas Vitzt­hum, Poli­tik­re­dak­teur bei DIE WELT), einem Leh­rer­ver­bands­funk­tio­när (Hans-Peter Mei­din­ger, Bun­des­vor­sit­zen­der des Phi­lo­lo­gen­ver­ban­des) und einem His­to­ri­ker und Geschichts­di­dak­ti­ker (Tho­mas Sand­küh­ler von der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät Ber­lin). Der Zusam­men­hang stellt sich zum einen dadurch her, dass Vitzt­hum in zwei Arti­keln des letz­ten Jah­res1 (neben ande­ren wie etwa Klaus Schroe­der) sowohl Sand­küh­ler als auch Mei­din­ger als Gewährs­leu­te sei­ner Kri­tik an ver­meint­lich nega­ti­ven Ent­wick­lun­gen in Bezug auf den Geschichts­un­ter­richt zitiert, zum ande­ren dadurch, dass Sand­küh­ler selbst in einem „Gast­bei­trag“ in DIE ZEIT kri­tisch auf einen Arti­kel repli­ziert hat, wel­cher in Ableh­nung der „Fakten“-Orientierung die im neu­en Lehr­plan von Sach­sen-Anhalt geplan­ten Ände­run­gen des Geschichts­un­ter­richts vor­stellt und dabei sowohl einen der Mit­au­toren (Dirck Hein­ecke) wie auch Sand­küh­lers Ber­li­ner Kol­le­gen (von der Frei­en Uni­ver­si­tät) Mar­tin Lücke zu Wort kom­men lässt.2

Was ist dran an die­sen Kri­ti­ken – und was ist von ihnen zu halten?

Sandkühlers Kritik an Louisa Reichstetters Artikel

Begin­nen wir mit Sand­küh­lers Kri­tik am ZEIT-Arti­kel von Loui­sa Reich­stet­ter: Loui­sa Reich­stet­ter berich­tet in ihrem stre­cken­wei­se iro­nisch-salopp geschrie­be­nen Arti­kel über die Reform­be­stre­bun­gen in Sach­sen-Anhalt zunächst über eine Unter­richts­stun­de. Da ver­set­zen sich Schü­le­rin­nen und Schü­ler in die Rol­le his­to­ri­scher Akteu­re (Rosa Luxem­burg und Phil­ipp Schei­de­mann) in einem aller­dings fik­tio­nal aktua­li­sier­ten Set­ting, näm­lich einer Talk­show mit Publi­kums­be­fra­gung. Wer sich Geschichts­un­ter­richt nur als Aktua­li­sie­rung (auch im Detail) ver­bürg­ter Ereig­nis­se vor­stel­len kann, dem dürf­te die­ses Insze­nie­rung in der Tat wie eine Bedro­hung vor­kom­men. Ver­steht man Unter­richt aber (auch) als Raum, in wel­chem Her­aus­for­de­run­gen eige­nen Den­kens insze­niert wer­den, in wel­chem Schü­le­rin­nen und Schü­ler nicht nur wie­der­ge­ben oder (ggf. per­spek­ti­visch) vari­ie­ren, was sie aus Quel­len und mög­lichst „neu­tra­len“ Dar­stel­lun­gen (dazu s.u.) über­nom­men haben, son­dern in wel­chen sie selbst den­ken, inter­pre­tie­ren und urtei­len müs­sen, der wird sol­chen Arran­ge­ments deut­lich posi­ti­ver gegen­über stehen.

Aller­dings beruht Sand­küh­lers Kri­tik am Arti­kel Reich­stet­ters auf durch­aus frag­wür­di­ger Lek­tü­re und Zitier­wei­se. Er schreibt etwa gleich im drit­ten Absatz:

„‘Ein­füh­lung‘ in Epo­chen, lesen wir, sei sol­chem ‚Fak­ten­wis­sen‘ vor­zu­zie­hen. ‚Ein­füh­lung‘ ist jedoch eine Kunst aus der Mot­ten­kis­te des 19. Jahr­hun­derts, als die Ver­tre­ter des His­to­ris­mus mein­ten, die Dif­fe­renz zwi­schen Ges­tern und Heu­te durch eben­die­se Eigen­schaft über­win­den zu kön­nen.“3

Bei letz­te­rem ist Sand­küh­ler durch­aus und unum­wun­den zuzu­stim­men. „Ein­füh­lung“ in Epo­chen ist Unsinn. Nicht nur, dass ers­tens die his­to­ris­ti­sche Metho­de der Ein­füh­lung aus heu­ti­ger erkennt­nis­theo­re­ti­scher Sicht nicht halt­bar ist, zwei­tens selbst Leo­pold von Ran­ke als der wohl bekann­tes­te Advo­kat des Ide­als, sich selbst gleich­sam aus­zu­lö­schen, die Unmög­lich­keit die­ses Unter­fan­gens (das gleich­wohl sein Ide­al blieb) ein­sah, bezog sie immer auf Per­so­nen, nicht aber auf Abs­trak­ta wie Insti­tu­tio­nen und Epo­chen, denn die zugrun­de­lie­gen­de Ver­ste­hens­leh­re pos­tu­liert die Gleich­heit mensch­li­chen Füh­lens und Wol­lens über die Zei­ten hin­weg : Jeg­li­cher Ver­such der „Ein­füh­lung“ setz­te die inten­si­ve Aus­ein­an­der­set­zung mit den Lebens- und Lei­dens­be­din­gun­gen sowie mehr noch den ihnen zuge­hö­ri­gen Äuße­run­gen in Form von Doku­men­ten vor­aus (was Droy­sen spä­ter als „for­schend zu ver­ste­hen“ umschrieb). Die aber ist gera­de in einem Geschichts­un­ter­richt auf der Basis mög­lichst objek­ti­ver, geklär­ter Infor­ma­tio­nen nicht mög­lich. Ein­füh­lung (in wen oder was auch immer) auf der Basis von 1 ½ Sei­ten Dar­stel­lungs­text und drei bis vier Quel­len­aus­zü­gen in gegen­wär­ti­ger Spra­che wäre auch bei Gel­tung der his­to­ris­ti­schen Theo­rie Unsinn. Das aber ist gar nicht das Pro­blem. Es besteht viel­mehr dar­in, dass eine Ein­füh­lung in Epo­chen im Text von Reich­stet­ter gar nicht gefor­dert oder über eine ent­spre­chen­de For­de­rung berich­tet wird. Eine For­mu­lie­rung die­ser Art fin­det sich ledig­lich (in der gedruck­ten Fas­sung) links neben der beglei­ten­den Illus­tra­ti­on in Form der Fra­ge „Muss man in Geschich­te Fak­ten wis­sen? Oder geht es dar­um, sich in Epo­chen ein­zu­füh­len?“4 und wird im Text weder zustim­mend noch ableh­nend, ja nicht ein­mal erwä­gend auf­ge­grif­fen. Es scheint sich um eine eher pro­vo­ka­tiv gemein­te redak­tio­nel­le Auf­lo­cke­rung zu handeln.

Im Text wer­den als inno­va­ti­ve Ansät­ze viel­mehr durch­aus anspruchs­vol­le Vor­stel­lun­gen von Zie­len his­to­ri­schen Ler­nens zitiert und (über­wie­gend) mit dem Kon­zept der „Kom­pe­ten­zen“ ver­bun­den. Das umfasst in der gegen­wär­ti­gen plu­ra­len Mei­nungs- und Aus­hand­lungs­ge­sell­schaft drin­gend Benö­tig­tes. Geschichts­un­ter­richt soll demnach

„in Jugend­li­chen vor allem ein kri­ti­sches Geschichts­be­wusst­sein wecken, ihnen einen Sinn ver­mit­teln für die Inter­pre­ta­ti­on von Zei­ten und Fak­ten, für das Poli­ti­sche, für Iden­ti­tä­ten und Gerech­tig­keit. Im bes­ten Fal­le ent­wi­ckeln Schü­ler dann die Fähig­keit, nicht nur selbst zu for­mu­lie­ren und zusam­men­zu­fas­sen, son­dern bestehen­de Nar­ra­ti­ve und ver­meint­li­che Fak­ten zu hin­ter­fra­gen. Im aller­bes­ten Fal­le wer­den aus ihnen auf die­se Wei­se kri­ti­sche Köp­fe, die die Ursa­chen der kom­ple­xen poli­ti­schen Sach­ver­hal­te ihrer Gegen­wart dis­ku­tie­ren und sich nicht von bil­li­gen Paro­len begeis­tern las­sen. So gese­hen ist Geschich­te eines der wich­tigs­ten Fächer im Kanon überhaupt. “

Soweit Sand­küh­lers Kri­tik sich also nicht auf die durch­aus pro­ble­ma­ti­schen Ten­den­zen der Ver­kür­zung des zu the­ma­ti­sie­ren­den Zeit­ho­ri­zon­tes bezieht, die im Arti­kel auch als Mei­din­gers Kri­tik­punk­te zitiert wer­den (wenn auch kei­nes­wegs zustim­mend), fehlt ihr die Grund­la­ge. Bleibt aller­dings der zwei­te Punkt, der Stel­len­wert von „Fak­ten­wis­sen“.

So kri­ti­siert Sand­küh­ler an der von Reich­stet­ter geschil­der­ten Sze­ne, die Schü­le­rin­nen und Schü­ler bräuch­ten zuvor erwor­be­nes Wis­sen, um Luxem­burg und Schei­de­mann dar­stel­len zu kön­nen. Woher er aller­dings die Infor­ma­ti­on nimmt, dass die Schü­le­rin­nen und Schü­ler in der geschil­der­ten Sze­ne dies nicht zuvor getan haben, bleibt sein Geheim­nis. Immer­hin ist von „Papie­ren“ die Rede, von denen die Dar­stel­len­den ihren „Text“ able­sen. Die Dar­stel­lung ist ja offen­kun­dig (soweit aus der äußerst kur­zen Schil­de­rung abzu­le­sen) auch gar nicht das Zen­trum der Stun­de. Ob Luxem­burg und Schei­de­mann über­haupt in einer sol­chen Kon­stel­la­ti­on hät­ten dis­ku­tie­ren kön­nen, wo doch der eine „am 9. Novem­ber 1918 die Repu­blik aus­rief“ die ande­re „am 15. Janu­ar 1919 ermor­det wur­de“, wie ihm wich­tig erscheint; ist für die Stun­de wohl eher zweit­ran­gig. Es geht dem Leh­rer um die Erar­bei­tung der unter­schied­li­chen zeit­ge­nös­si­schen Vor­stel­lun­gen von Repu­blik, wel­che ins­be­son­de­re die ande­ren Mit­glie­der der Klas­sen aus den gespiel­ten Argu­men­ta­tio­nen her­aus­ar­bei­ten sol­len. Inwie­fern dies den „his­to­ri­schen Per­so­nen“ weni­ger „gerecht“ wer­den kann als etwa eine qua­si objek­ti­ve Dar­stel­lung die­ser poli­ti­schen Vor­stel­lun­gen in einem tro­cke­nen Autoren­text in einem Schul­buch, ist doch durch­aus fraglich.

Es geht aber wohl weni­ger um akti­ve, täti­ge und ein­fach rezi­pie­ren­de Schü­le­rin­nen und Schü­ler als um die Zie­le und Gelin­gens­be­din­gun­gen his­to­ri­scher Bil­dung und his­to­ri­schen Ler­nens. Was also ist der Kern von Geschichts­un­ter­richt? Die Ver- oder bes­ser Über­mitt­lung eines fest­ste­hen­den, als „geklärt“ gel­ten­den Kanons an Wis­sen und Deu­tun­gen – oder die Befä­hi­gung zu eige­nem kri­ti­schen Den­ken?5

Vitzthum, Meidinger, Sandkühler und die „Fakten“

Grund­li­nie der Argu­men­ta­tio­nen Vitzth­ums, Mei­din­gers und Sand­küh­lers in allen hier betrach­te­ten Arti­keln ist die Beto­nung der Bedeu­tung im Geschichts­un­ter­richt zu ver­mit­teln­der „Fak­ten“ und des chro­no­lo­gi­schen Auf­baus des Geschichts­un­ter­richts andererseits.

Begon­nen sei mit dem jüngs­ten der vier aus­ge­wähl­ten Arti­kel, in wel­chem Vitzt­hum gegen den neu­en Geschichts­lehr­plan von Sach­sen-Anhalt und das dort fokus­sier­te Kon­zept „nar­ra­ti­ver Kom­pe­tenz“ pole­mi­siert. Kern der Pole­mik ist die von Vitzt­hum zitier­te Kom­pe­tenz­de­fi­ni­ti­on, die Schü­le­rin­nen und Schü­ler sol­len „auf der Grund­la­ge der Aus­sa­gen von Zeit­zeu­gen eine bio­gra­phi­sche oder the­ma­ti­sche Dar­stel­lung ver­fas­sen“ sowie „auf der Grund­la­ge der Aus­sa­gen von Zeit­zeu­gen die Per­spek­ti­vi­tät auf den Pro­zess der Ver­ei­ni­gung bei­der deut­scher Staa­ten her­aus­ar­bei­ten“ kön­nen.6

Bevor sei­ne Dia­gno­se, dar­in kom­me ein „Miss­trau­en gegen­über einer all­ge­mein­gül­ti­gen his­to­ri­schen Erzäh­lung“ zum Aus­druck ana­ly­siert wer­den soll und die fol­gen­de Ent­ge­gen­set­zung von Kom­pe­ten­zen und Wis­sen und der Kri­tik, letz­te­re sei­en wich­ti­ger als Wis­sen, sei die kon­kre­te Kom­men­tie­rung der bei­den Zita­te genau­er betrach­tet. Vitzt­hum schreibt:

„Klingt nach Kul­tus­bü­ro­kra­ten­deutsch, ist aber gleich­wohl auf­schluss­reich. Offen­sicht­lich hat man sich in Sach­sen-Anhalt ent­schie­den, das für die Lebens­welt der Jugend­li­chen noch immer zen­tra­le Ereig­nis der Wie­der­ver­ei­ni­gung vor­nehm­lich durch die Erzäh­lun­gen jener zu beleuch­ten, die es erlebt haben.

Klar, eine sol­che Her­an­ge­hens­wei­se hat etwas für sich. Sie wirkt authen­tisch, leben­dig, unmit­tel­bar. Aber sie ist auch in höchs­tem Maße sub­jek­tiv, gefärbt durch rein per­sön­li­che Erfah­run­gen. Zudem sind Zeit­zeu­gen oft nicht die­je­ni­gen, die Geschich­te gemacht, son­dern jene, die sie erlebt haben oder gar erle­ben mussten.“

Hier­an ist (min­des­tens) zwei­er­lei zu bemer­ken. Da ist zunächst der letz­te Satz, der die Vali­di­tät der Zeit­zeu­gen­er­zäh­lun­gen als Infor­ma­ti­ons­quel­le für die Schü­le­rin­nen und Schü­ler in Zwei­fel zieht, weil die­se „in höchs­tem Maße sub­jek­tiv“ sei­en, „gefärbt durch rein per­sön­li­che Erfah­run­gen“. Dass die­se Eigen­schaf­ten kei­nes­wegs nur Zeit­zeu­gen­er­zäh­lun­gen zuer­kannt wer­den müs­sen, son­dern einem Groß­teil auch von tra­di­tio­nel­len schrift­li­chen Quel­len, etwa Brie­fen, Tage­buch­auf­zeich­nun­gen usw., ist nur das eine. Offen­kun­dig will Vitzt­hum die­se aber auch gar nicht den Quel­len gegen­über stel­len, son­dern den Dar­stel­lun­gen, die somit im Umkehr­schluss als „objek­tiv“ und nicht gefärbt aus­ge­ge­ben wer­den. Dass auch dies nur in begrenz­tem Maße zutrifft, dass viel­mehr Per­spek­ti­vi­tät und Deu­tungs­cha­rak­ter auch die­sen zukommt, ist eine Ein­sicht, die Schü­le­rin­nen und Schü­ler gar nicht früh genug gewin­nen kön­nen. Die Geschichts­di­dak­tik hat dar­aus auch schon vor lan­ger Zeit die For­de­rung abge­lei­tet, nicht nur mit Blick auf die Quel­len, son­dern auch die Dar­stel­lun­gen habe das Prin­zip der Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät zu gel­ten, das in Bezug auf letz­te­re als „Kon­tro­ver­si­tät“ bezeich­net wird. Bei­de, die For­de­rung nach der Nut­zung von Quel­len aus meh­re­ren rele­vant am jeweils dama­li­gen Gesche­hen betei­lig­ten oder sich auf es bezie­hen­den, wie auch nach ihrer Beleuch­tung nicht nur aus einer, son­dern meh­re­ren zurück­bli­cken­den Per­spek­ti­ven, ist dabei die Kon­se­quenz aus der Ein­sicht, dass eine „objek­ti­ve“, nicht in irgend­ei­ner Wei­se gefärb­te „pure“ Prä­sen­ta­ti­on gar nicht denk­bar ist, sowie (und das ist fast noch wich­ti­ger), dass Schü­le­rin­nen und Schü­ler ler­nen müs­sen, die Unter­schied­lich­keit von Sicht­wei­sen auf Ver­gan­gen­heit und Geschich­te, die ihnen zugrun­de­lie­gen­den Per­spek­ti­ven, die Bedeu­tung der­sel­ben für Inter­pre­ta­tio­nen und Wer­tun­gen zu erken­nen und damit umzu­ge­hen. Ein Unter­richt, der Per­spek­ti­vi­tät leug­net, sie hin­ter „objek­ti­ver“ Dar­stel­lung zu ver­ste­cken sucht, ver­hin­dert gera­de­zu die Ent­wick­lung der Befä­hi­gung zu ver­ant­wort­li­chem und (quel­len- wie darstellungs-)kritischem his­to­ri­schem Denken.

Es kommt aber noch mehr dazu. Vitzth­ums Wie­der­ga­be der Zie­le ist nicht wirk­lich red­lich und erweist sich selbst als eben­so per­spek­ti­visch, inter­es­sen­ge­lei­tet. Im Lehr­plan wird näm­lich kei­nes­wegs gefor­dert, dass die Schü­le­rin­nen und Schü­ler allein „auf der Grund­la­ge der Aus­sa­gen von Zeit­zeu­gen eine bio­gra­phi­sche oder the­ma­ti­sche Dar­stel­lung ver­fas­sen“. Die­se Kom­pe­tenz­for­mu­lie­rung steht viel­mehr im engen Zusam­men­hang mit der­je­ni­gen, „auf der Grund­la­ge der Aus­sa­gen von Zeit­zeu­gen die sub­jek­ti­ve Sicht auf den Pro­zess der Ver­ei­ni­gung bei­der deut­scher Staa­ten her­aus­ar­bei­ten“ und auch (über die Zeit­zeu­gen­the­ma­ti­sie­rung hin­aus­füh­rend) „die aktu­el­le öffent­li­che Wider­spie­ge­lung der deutsch-deut­schen Geschich­te unter­su­chen und pro­ble­ma­ti­sie­ren (z. B. öffent­li­che Debat­te, Muse­um)“ zu kön­nen.7

Hier wird deut­lich, dass der Lehr­plan die Zeit­zeu­gen­er­zäh­lun­gen gera­de nicht als die allei­ni­ge und zen­tra­le Infor­ma­ti­ons- und Deu­tungs­quel­le vor­se­hen, der die Schü­le­rin­nen und Schü­ler qua­si aus­ge­lie­fert wären, son­dern sie eben­so als Gegen­stand der Ana­ly­se und Refle­xi­on vor­schrei­ben. Ob die­se schie­fe Dar­stel­lung dar­an liegt, dass Vitzt­hum sich (aus eige­ner Erfah­rung?) einen Geschichts­un­ter­richt nicht vor­stel­len kann oder will, in wel­chem die Schü­le­rin­nen und Schü­ler den ihnen prä­sen­tier­ten Mate­ria­li­en gegen­über nicht nur eine rezi­pie­ren­de Hal­tung ein­neh­men, son­dern ler­nen (und sich trau­en), die­se auch auf ihre jewei­li­gen Perspektive(n) und die dar­in zum Aus­druck kom­men­den Inter­es­sen, Deu­tun­gen und Wer­tun­gen her­aus­zu­ar­bei­ten (ohne sie damit not­wen­di­ger­wei­se zu dele­gi­ti­mie­ren), wird nicht deut­lich – wohl aber, dass der Lehr­plan deut­lich stär­ker zur Befä­hi­gung der Schü­le­rin­nen und Schü­ler zum eigen­stän­di­gen Den­ken anlei­tet – Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung eben. Die­ser gegen­über aber kommt in Vitzth­ums Text ein „all­ge­mei­nes Miss­trau­en“ zum Aus­druck, vor allem dar­in, dass er sich his­to­ri­sches Den­ken und Geschichts­be­wusst­sein nicht als gleich­wer­ti­ge Dimen­si­on his­to­ri­schen Ler­nens begrei­fen kann oder will, son­dern als ver­meint­lich fest­ste­hen­dem Wis­sen unterzuordnen.

Damit steht er nicht allein, wie in sei­nem abschlie­ßen­den Zitat aus der Replik Tho­mas Sand­küh­lers auf Reich­stet­ter deut­lich wird:

„Der Ber­li­ner Geschichts­di­dak­ti­ker Tho­mas Sand­küh­ler ver­tei­digt in der ‚Zeit‘ das Fak­ten­wis­sen. ‚Ohne Inhal­te kann man aber kei­ne Kom­pe­ten­zen erwer­ben‘, schreibt er. Er sieht die Gefahr, dass die Refor­men genau das nicht bewir­ken, was sie ver­spre­chen: Mehr Men­schen mit Geschichts­be­wusst­sein her­vor­zu­brin­gen. ‚His­to­ri­sche Bil­dung wird immer mehr zum Pri­vi­leg gebil­de­ter Schich­ten, die ihren eige­nen Wer­tehim­mel reproduzieren.‘“

Über den letz­te­ren Gedan­ken, dass die Ori­en­tie­rung von Geschichts­un­ter­richt bestimm­te „Schich­ten“ der Bevöl­ke­rung pri­vi­le­giert, lässt sich tat­säch­lich pro­duk­tiv nach­den­ken. Ob aller­dings die Vor­ga­be eines Kanons von „Wis­sen“, der aus einer bür­ger­li­chen Per­spek­ti­ve tra­di­tio­nal fort­ge­schrie­ben wur­de und als „objek­tiv“ gilt, nicht eben die­sen Effekt haben muss, näm­lich die Per­spek­ti­ven, die Inter­es­sen, die Fra­gen und Deu­tun­gen vie­ler Schü­le­rin­nen und Schü­ler, die nicht bereits einen sol­chen Hin­ter­grund haben (und viel­leicht auch ihre) sowie die von ihnen aus ihren sozia­len und kul­tu­rel­len (und wei­te­ren) Bezugs­rah­men mit­ge­brach­ten und auch in ihnen wich­ti­gen Per­spek­ti­ven aus­zu­blen­den, gering­zu­ach­ten und sie auf ande­re Wei­se zu benach­tei­li­gen, muss eben­so gefragt wer­den. Das Fol­gen­de kann und soll die­se Fra­ge nicht klä­ren, wohl aber dazu beitragen:

Fakten, Wissen und Kompetenzen: Eine Frage der Hierarchie?

Zur Fra­ge der „Fak­ten“: Mei­din­ger und Sand­küh­ler beto­nen, dass Schü­le­rin­nen und Schü­ler sol­che „ver­mit­telt“ bekom­men müss­ten, weil ihnen sonst eine Grund­ori­en­tie­rung eben­so fehl­te wie die Grund­la­ge für eige­ne his­to­ri­sche Denk­leis­tun­gen. Hier­zu ist zu bemer­ken, dass die über­wie­gen­de Zahl der His­to­ri­ker wie auch ins­be­son­de­re die Geschichts­theo­rie inzwi­schen sehr deut­lich her­aus­ge­ar­bei­tet hat und akzep­tiert, dass es „Fak­ten“ im Sin­ne unab­hän­gi­ger Aus­sa­gen in der Dis­zi­plin Geschich­te nicht geben kann. Dies basiert auf der grund­le­gen­den Ein­sicht, dass unter­schie­den wer­den muss zwi­schen der „Ver­gan­gen­heit“ als der grund­le­gen­den Ein­gen­schaft aller gewe­se­nen Ge- und Bege­ben­hei­ten und im Über­tra­ge­nen Sin­ne auch ihrer Gesamt­heit einer­seits und „Geschich­te“ ander­seits als der­je­ni­gen Form, in wel­cher in jeder Gegen­wart auf Ver­gan­ge­nes und Ver­gan­gen­heit Bezug genom­men wer­den kann. Letz­te­re ist immer (unter ande­rem) selek­tiv, par­ti­ku­lar und vor allem sprach­lich kon­stru­iert. Was immer über Ver­gan­ge­nes aus­ge­sagt wer­den kann, ist zutiefst geprägt von heu­ti­gen Denk­wei­sen und Begrif­fen sowie vom Wis­sen um die spä­te­ren Entwicklungen.

Selbst dort, wo Historiker:innen im Sin­ne der Ethik des deut­schen His­to­ris­mus (der geschichts­wis­sen­schaft­li­chen Erkennt­nis­theo­rie und Schu­le des spä­ten 19. und frü­hen 20. Jahr­hun­derts) ver­su­chen, die­se ihre eige­nen Prä­gun­gen zu über­win­den und das Ver­gan­ge­ne „aus sich her­aus“ zu ver­ste­hen, kön­nen sie die­se Per­spek­ti­ve nicht able­gen, die im Übri­gen nicht nur eine zeit­lich-retro­spek­ti­ve ist, son­dern auch sozia­le, kul­tu­rel­le, poli­ti­sche und ande­re Ele­men­te ent­hält. Die Vor­stel­lung unab­hän­gi­ger, gesi­cher­ter „Fak­ten“ als Gegen­stand des Geschichts­un­ter­richts ver­kennt, dass alle For­mu­lie­run­gen sol­cher Fak­ten jeweils bestimm­ten Per­spek­ti­ven, Erkennt­nis­in­ter­es­sen und Wer­te­sys­te­men und aus ihnen her­aus for­mu­lier­ten Erkennt­nis­in­ter­es­sen sind.8

Die­se Ein­sicht erfor­dert als Kon­se­quenz kei­nes­wegs – wie zuwei­len ande­ren didak­ti­schen Kon­zep­ten vor­ge­wor­fen – eine Ver­nach­läs­si­gung von Wis­sen und Kennt­nis­sen, wohl aber das Prin­zip, Wis­sen und Erkennt­nis­se nur so zu ver­mit­teln, dass ihre Per­spek­ti­vi­tät, ihre Zeit­ge­bun­den­heit und damit auch ihr erkennt­nis­theo­re­ti­scher Sta­tus nicht ver­deckt wer­den. Das aber geschieht, wenn die Ver­mitt­lung und Kennt­nis von „Fak­ten“ als Vor­aus­set­zung und Grund­la­ge gefor­dert wird und die­je­ni­ge der fach­spe­zi­fi­schen Metho­den sowie Ope­ra­tio­nen des gegen­warts­be­zo­ge­nen Ori­en­tie­rens ihn unter- oder nach­ge­ord­net wer­den. Alle Pos­tu­la­te „erst die Fak­ten – dann das Den­ken“ ver­de­cken die grund­le­gen­de Eigen­schaft allen Wis­sens, per­spek­ti­ven- und erkennt­nis­ab­hän­gig zu sein.

Wenn aber ver­meint­lich “objek­ti­ve Fak­ten” die „Inhal­te“ (bes­ser: Gegen­stän­de) des Geschichts­un­ter­richts dar­stel­len, wer­den die Ler­nen­den nur als Rezi­pi­en­ten ver­meint­lich fest­ste­hen­den Wis­sens ange­se­hen und ange­spro­chen, eines Wis­sens, das nicht nur ihren eige­nen kul­tu­rel­len, sozia­len und ande­ren Posi­tio­nen und Per­spek­ti­ven ent­frem­det ist, son­dern auch denen der viel­fäl­ti­gen Akteu­re der Vergangenheit.

Wor­auf es dem­ge­gen­über aber ankä­me, ist, die Ler­nen­den als den­ken­de Sub­jek­te anzu­se­hen und anzu­spre­chen, um sie zu befä­hi­gen, nicht nur Wis­sen zu erwer­ben, son­dern die dar­in jeweils erkenn­ba­ren Per­spek­ti­ven und Deu­tun­gen eben­so zu erken­nen, wie ihre eige­nen, auf die Bedeu­tung die­ser Per­spek­ti­vi­tät zu reflek­tie­ren und schließ­lich die dazu erfor­der­li­chen Fähig­kei­ten zu verbessern.

Die theo­re­ti­sche Ein­sicht in die Per­spek­ti­vi­tät his­to­ri­schen Wis­sens und his­to­ri­scher Ein­sich­ten in Ver­bin­dung mit der Erkennt­nis der Viel­falt der Per­spek­ti­ven soll­te es somit eigent­lich ver­bie­ten soll­te, ein für alle ver­bind­li­ches „Fakten“-Wissen vor­zu­ge­ben. Dar­an ändern auch etwa­ige Ziel­set­zun­gen nichts, durch eine sol­che ver­bind­li­che, gemein­sa­me Fak­ten­grund­la­ge und Geschich­te den sozia­len Zusam­men­halt zu för­dern oder über­haupt erst her­zu­stel­len, oder auch den Schü­le­rin­nen und Schü­lern wenigs­tens die „bes­te“ jeweils „ver­füg­ba­re“ Geschich­te (Seix­as) zu präsentieren.

Glei­ches gilt im Übri­gen für die Metho­den­ori­en­tie­rung, sofern sie Arbeits­wei­sen wie etwa die Quel­len­ori­en­tie­rung und die Inter­pre­ta­ti­on als Gegen­stän­de von Geschichts­un­ter­richt nur mit ihrer Her­kunft aus der aka­de­mi­schen Geschichts­wis­sen­schaft begrün­det. Auch dies trennt die Ein­sich­ten in die Kon­struk­ti­ons­be­din­gun­gen his­to­ri­schen Wis­sens von den Pro­duk­ten. Das wird ins­be­son­de­re dort augen­fäl­lig, wenn – wie etwa im Ent­wurf des Geschichts­leh­rer­ver­ban­des für „Bil­dungs­stan­dards“ von 2006 und 2010/​11 vor­ge­schla­gen wird, die zu ver­mit­teln­den „Medi­en- und Metho­den­kom­pe­tenz“ an ande­ren Inhal­ten und Wis­sens­be­stän­den zu the­ma­ti­sie­ren als die „inhalt­li­che Ori­en­tie­rungs­kom­pe­tenz“. Letz­te­re soll offen­kun­dig als nicht zu hin­ter­fra­gen­des Grund­ge­rüst bestehen bleiben.

In Vitzth­ums älte­rem Arti­kel – in wel­chem einer­seits durch­aus eini­ge sehr beden­kens­wer­te Fehl­ent­wick­lun­gen benannt wer­den, wie etwa die wei­te­re Reduk­ti­on des Faches Geschich­te im Umfang, ande­rer­seits aber auch völ­lig kri­tik­los auf metho­disch äußerst frag­wür­di­ger Basis for­mu­lier­te und Kennt­nis­se mit Deu­tun­gen unzu­läs­sig ver­men­gen­de Kri­tik von Klaus Schroe­der am Ergeb­nis von Schul­un­ter­richt nach­ge­be­tet wird – wird ent­spre­chend Hans-Peter Mei­din­ger mit der For­mu­lie­rung zitiert, „Inhal­te“ wür­den „ver­han­del­bar“, weil sie „nur einem Zweck“ dien­ten, näm­lich der „Kom­pe­tenz­ver­mitt­lung“.9

Das ist eine böse Kari­ka­tur der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung. Sie über­trägt offen­kun­dig ahnungs­los an der all­ge­mei­nen Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung des Bil­dungs­we­sens nach PISA geäu­ßer­te Kri­tik einer Reduk­ti­on der Bil­dung auf „Mess­ba­res“ auf das Fach Geschich­te. Es ist hier nicht der Ort, dar­über zu befin­den, ob sol­che Kri­tik mit Bezug auf ande­re Schul­fä­cher berech­tigt ist oder nicht. Im Bereich der Geschichts­di­dak­tik gibt es kein mir bekann­tes Kom­pe­tenz­mo­dell, wel­ches eine ein­fa­che „Output“-Orientierung im Sin­ne eines Trai­nings inhalts­un­ab­hän­gi­ger Fer­tig­kei­ten for­dern oder beför­dern wür­de.10 Die aller­meis­ten von ihnen model­lie­ren anspruchs­vol­le For­men der Aus­ein­an­der­set­zung mit his­to­ri­schen Inhal­ten, kei­nes ver­langt eine Zurück­stel­lung von Inhal­ten zuguns­ten von Kom­pe­ten­zen – auch nicht das von mir mit ver­ant­wor­te­te Kom­pe­tenz­mo­dell „his­to­ri­sches Den­ken“, wel­ches wohl am deut­lichs­ten die Beson­der­heit der Kompetenz(en) als auf unter­schied­li­che Gegen­stän­de zum Zwe­cke der Ori­en­tie­rung anzu­wen­den­de Kom­ple­xe aus Fähig­kei­ten, Fer­tig­kei­ten und Wis­sen her­aus­stellt.11

Fach­lich wie geschichts­di­dak­tisch vali­der wie auch päd­ago­gisch ehr­li­cher als die von Vitzt­hum im Anschluss an Mei­din­ger prä­sen­tier­te Ent­ge­gen­set­zung von „Wis­sen“ und „Kom­pe­ten­zen“ sind sol­che Kon­zep­tio­nen, in denen Wis­sen in Form von Kennt­nis­sen von Ein­zel­hei­ten und Zusam­men­hän­gen kei­nes­wegs aus­ge­spart und ver­nach­läs­sigt wer­den, aber weder prio­ri­tär gegen­über noch sepa­riert von Fähig­kei­ten his­to­ri­schen Den­kens geför­dert wer­den, und zwar sol­chen, wel­che den Schü­le­rin­nen nicht nur den Nach­voll­zug der Erkennt­nis­se von His­to­ri­kern ermög­li­chen, son­dern eben­so und beson­ders, ihre eige­nen Per­spek­ti­ven auf die Ver­gan­gen­heit und die Bedeu­tung der­sel­ben für sie und ihre Lebens­welt zu reflek­tie­ren. Das wäre im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung, näm­lich die Beför­de­rung der Fähig­kei­ten, Fer­tig­kei­ten und auch der Bereit­schaft der Schü­le­rin­nen und Schü­ler, selbst­stän­dig his­to­risch zu den­ken, und dabei Wis­sen und Ein­sich­ten zu erwer­ben sowie wei­ter auf- und umzu­bau­en nicht als ver­meint­lich fest­ste­hen­de „Fak­ten“, son­dern als immer wie­der zu beden­ken­de Inter­pre­ta­tio­nen. Kom­pe­tenz­ori­en­tier­ter Unter­richt ist dann alles ande­re als „Stri­cken ohne Wol­le“, aber eben auch (um im Bild zu blei­ben) kei­ne rei­ne Pull­over­kun­de, son­dern Befähigung.

Die Illusion des chronologisch zu erwerbenden Chronologiegerüsts

Als letz­ter Aspekt der genann­ten Zei­tungs­bei­trä­ge und der Dis­kus­si­on über den Geschichts­un­ter­richt ist die in den letz­ten Jah­ren mehr­fach in der Bericht­erstat­tung vor­ge­brach­te Argu­men­ta­ti­on zu prü­fen, Schü­le­rin­nen und Schü­ler benö­tig­ten als Grund­ge­rüst des his­to­ri­schen Den­kens die Chro­no­lo­gie. Sie schient nicht nur in Mei­din­gers und Vitzth­ums Argu­men­ta­ti­on sowie in Sand­küh­lers Fra­ge an Reich­stet­ter durch, ob mit dem von ihr abge­lehn­ten „alten chro­no­lo­gi­schen Durch­gang“ „etwa“ das Fak­ten­wis­sen gemeint sei, war aber auch im Umfeld der öffent­li­chen und poli­ti­schen Dis­kus­si­on um die neu­en Fach­anfor­de­run­gen für den Geschichts­un­ter­richt in Schles­wig-Hol­stein wie um die neu­en Bil­dungs­plä­ne in Ber­lin und Bran­den­burg deut­lich zu hören.12 Der dor­ti­ge Lan­de­vor­sit­zen­de des Phi­lo­lo­gen­ver­ban­des, Hel­mut Sieg­mon, wird – neben dem Fach­vor­sit­zen­den eines Kie­ler Gym­na­si­ums – dazu von Franz Jung in einem Bericht über die Anhö­run­gen mit den Wor­ten zitiert, wol­le man „his­to­ri­sche Ent­wick­lun­gen begrei­fen, brau­che man die Kau­sal­ket­te der zeit­li­chen Abläu­fe.“13

An der Fest­stel­lung, die Chro­no­lo­gie sei nun ein­mal die Kern­di­men­si­on des Faches Geschich­te, sei­ner Bezugs­dis­zi­plin, der Geschichts­wis­sen­schaft, oder bes­ser: der Domä­ne des his­to­ri­schen Den­kens, ist über­haupt nichts aus­zu­set­zen – im Gegen­teil. Die den­ken­de, inter­pre­tie­ren­de und ori­en­tie­ren­de Ver­ar­bei­tung zeit­be­zo­ge­ner Infor­ma­tio­nen über Zei­ten, die nicht nur im Rah­men der eige­nen Bio­gra­phie zu ver­or­ten sind, son­dern weit dar­über hin­aus in der Ver­gan­gen­heit wei­sen, ist in der Tat das Pro­pri­um des Faches und die von kei­nem ande­ren Fach, kei­ner ande­ren Dis­zi­plin und Domä­ne als Kern­be­reich the­ma­ti­sier­te Fähig­keit. Dar­aus aber zu fol­gern, dass es sinn­voll ist, die­se zeit­be­zo­ge­nen Infor­ma­tio­nen den Ler­nen­den auch in chro­no­lo­gi­scher Rei­hen­fol­ge zu prä­sen­tie­ren, ist durch­aus gro­tesk. Das „chro­no­lo­gi­sche Prin­zip“ ist daher in den letz­ten Jahr­zehn­ten auch zuneh­mend in die Kri­tik gera­ten.14

Dafür ist zum Teil ver­ant­wort­lich, dass es (nicht zu Unrecht) mit dem oben kri­ti­sier­ten Kon­zept von Geschichts­un­ter­richt ver­bun­den wird,15 den Schü­le­rin­nen und Schü­lern eine fest­ste­hen­de Nar­ra­ti­on, einen Bestand an Wis­sen und Deu­tun­gen zur Über­nah­me vor­zu­ge­ben. Der­zeit ist die­se Struk­tur in den Schul­bü­chern nur noch in durch metho­den- und kom­pe­tenz­ori­en­tier­te Ein­schü­be unter­bro­che­ner Form prä­sent, was wohl auf sei­ne letzt­lich unge­bro­che­ne Prä­senz in den Bil­dungs- und Lehr­plä­nen zurück­zu­füh­ren ist. Gera­de die­se Dop­pel­struk­tur, wie auch die Tat­sa­che, dass die ver­blei­ben­den chro­no­lo­gi­schen Kapi­tel kei­nes­wegs (mehr?) eine (gar lücken­los) zusam­men­hän­gen­de Geschich­te prä­sen­tie­ren, son­dern jeweils in sich zusam­men­hän­gen­den The­men­kom­ple­xen glei­chen mit mehr oder weni­ger gro­ßen Lücken dazwi­schen, die zudem in zeit­li­cher, räum­li­cher Hin­sicht sowie zwi­schen Sek­to­ren der Geschich­te (Poli­tik, Kul­tur, Wirt­schaft, Ideen­ge­schich­te, All­tags­ge­schich­te usw.) eini­ger­ma­ßen groß­zü­gig sprin­gen und wech­seln, zeigt die Absur­di­tät beson­ders deutlich.

Gat­tungs­ge­schicht­lich scheint die chro­no­lo­gi­sche Kon­zep­ti­on des Geschichts­un­ter­richts auf die Figur der Erzäh­lung der „eige­nen“ Geschich­te eines Vol­kes, einer sozia­len Grup­pe zurück­zu­ge­hen, mit denen die alten den jun­gen Mit­glie­dern eine zeit­lich ori­en­tier­te und ori­en­tie­ren­de Vor­stel­lung gemein­sa­mer Her­kunft und der Ent­ste­hung und Ent­wick­lung der Gemein­schaft gaben. In fami­liä­ren Zusam­men­hän­gen gibt es sol­ches als Erzäh­lung durch die Groß­el­tern gegen­über den Enkeln wohl auch heu­te noch. Aber abge­se­hen davon, dass es sich dabei um jeweils klei­ne Grup­pen han­delt, haben die­se Erzäh­lun­gen zwar zumeist chro­no­lo­gi­sche Struk­tur, wer­den aber kaum über meh­re­re Jah­re hin­weg ver­teilt erzählt, son­dern viel­mehr in vie­len kür­ze­ren „Por­tio­nen“, die jeweils the­ma­tisch ange­legt sind sowie sich in ihrer Form und den Anfor­de­run­gen, die sie an die Zuhö­rer stel­len, an jene anpas­sen. Kaum ein Opa wird sei­nem Enkel zuerst von den ältes­ten Zei­ten erzäh­len und alle Fra­gen zum Heu­te auf einen Jah­re spä­ter statt­fin­den­den Ter­min ver­trös­ten, oder bei Fra­gen nach einem Vor­her dar­auf ver­wei­sen, dass das schon frü­her „dran“ gewe­sen wäre.

Bestehen schon hin­sicht­lich der Funk­ti­on von Geschich­te als Erzähl­ver­an­stal­tung in klei­nen, über­schau­ba­ren Ein­hei­ten schwe­re Beden­ken an der Sinn­haf­tig­keit einer Par­al­le­li­sie­rung von Lern- und Erzähl­zeit in Form des chro­no­lo­gi­schen Prin­zips, so ist die Über­tra­gung die­ses Ver­fah­rens auf gro­ße Ziel­grup­pen (die jun­ge Gene­ra­ti­on), gro­ße sozia­le For­men (Klas­sen­ver­bän­de) und vor allem auch gro­ße zu the­ma­ti­sie­ren­de Zeit­räu­me erst recht pro­ble­ma­tisch. Das Erzäh­len der Geschich­te einer (moder­nen) Nati­on oder einer post-tra­di­tio­na­len,16 plu­ra­len Gesell­schaft erfor­dert grund­sätz­lich den Gebrauch von abs­trak­ten Begrif­fen nicht nur für Akteu­re (Staat, Volk, Nati­on) und Kon­zep­te (Herr­schaft, Krieg, Demo­kra­tie), son­dern auch für die Bezeich­nung von Zeit. Sol­che Begrif­fe aber und beson­ders auch das Kon­zept eines durch sie erschlos­se­nen linea­ren Zusam­men­hangs (der moder­nen Natio­nal­ge­schich­ten zu Grun­de liegt) kön­nen nicht vor­aus­ge­setzt, son­dern müs­sen selbst nach und nach, schritt­wei­se, erwor­ben wer­den – und das nicht als ver­meint­lich gege­be­ne Grö­ßen, son­dern als zwar nicht unsin­ni­ge, aber doch kon­tin­gen­te, kon­ven­tio­nel­le Kon­zep­te und Begriffe.

Wenn man nun moder­ne und/​oder post-tra­di­tio­na­le Geschichte(n) in die­sem Sin­ne über meh­re­re Jah­re hin­weg chro­no­lo­gisch erzählt (was in die­ser ein­fa­chen Form wohl nie­mand mehr tut) oder „erar­bei­ten lässt“ mit Hil­fe von Quel­len und ande­ren Mate­ria­li­en, dann ver­deckt man viel­mehr durch das Vor­aus­set­zen der Chro­no­lo­gie und durch ihre Ver­tei­lung über den gesam­ten Erzähl- oder Lern­zeit­raum ihre eige­ne Qua­li­tät und ihre Stel­lung das das zen­tra­le Orga­ni­sa­ti­ons­prin­zip. Es ist gar nicht so sehr die Unfair­nis, von Schü­le­rin­nen und Schü­lern zu erwar­ten, dass sie eine Zeit­vor­stel­lung rein addi­tiv mit „Inhalt“ fül­len und dabei „schon gehab­tes“ über Jah­re hin­weg behal­ten und prä­sent haben („das hat­tet ihr schon“) sowie Gegen­warts­be­zü­ge und Vor­grif­fe abzu­tun („das kommt spä­ter“) als viel­mehr die Nicht-Expli­zie­rung der die Chro­no­lo­gie kon­sti­tu­ie­ren­den und struk­tu­rie­ren­den Prinzipien.

Chro­no­lo­gie ist also zu wich­tig, als dass man sie als impli­zi­tes Prin­zip nut­zen dürf­te. Das gilt ins­be­son­de­re des­halb, weil unser heu­ti­ges Chro­no­lo­gie­kon­zept ja kei­nes­wegs ein­fach ist. Die Unter­tei­lung der Zeit nicht nur mit­tels nume­ri­scher Ska­len (Jah­re), die auf­grund der Unter­tei­lung in „v.Chr.“ und „n. Chr.“ (bzw. „u.Z.“) und der damit ver­bun­de­nen nega­ti­ven Zah­len schon kei­nes­wegs ein­fach ist (von unter­schied­li­chen Null­punk­ten in Her­kunfts- und Reli­gi­ons­kul­tu­ren man­cher Schü­le­rin­nen und Schü­ler sowie abwei­chen­den Bezeich­nun­gen der Jahr­hun­der­te ganz abge­se­hen), reicht ja für ein chro­no­lo­gi­sches „Grund­ge­rüst“ kei­nes­wegs aus. Hin­zu kom­men eine Rei­he durch­aus unter­schied­li­cher (und kei­nes­wegs ein­deu­ti­ger) Peri­odi­sie­run­gen wis­sen­schaft­li­cher („Vor­ge­schich­te“, „Früh­ge­schich­te“, „Antike“/“Altertum“, „Mit­tel­al­ter“, „Frü­he Neu­zeit“, „Vor­mo­der­ne“, „Neu­zeit“, „Moder­ne“, , „Zeit­ge­schich­te“, „Gegen­wart“,) mit ihren kei­nes­wegs ein­deu­ti­gen Abgren­zun­gen und kul­tu­rel­len Kon­no­ta­tio­nen (man den­ke an Peter von Moos‘ „Gefah­ren des Mit­tel­al­ter­be­griffs“, aber auch die unter­schied­li­chen Bestim­mun­gen der „Zeit­ge­schich­te“), sowie nicht-sys­te­ma­ti­scher Bezeich­nun­gen („Römer­zeit“, „Zwi­schen­kriegs­zeit“, „Nach­kriegs­zeit“). Dass uns wie die­se zu nicht „wis­sen­schaft­li­chen“, kul­tu­rell aber bedeut­sa­men Zeit­be­zeich­nun­gen ste­hen („vor dem Krieg“, „1968“, „zur Zeit des Pro­phe­ten“, „als Uroma geflo­hen ist“) , wel­chen Logi­ken sie jeweils fol­gen, usw., ist nicht wirk­lich en pas­sant zu erwer­ben, wenn sie jeweils „chro­no­lo­gisch dran“ sind. Das Argu­ment, dass fast alle die­se Bezeich­nun­gen den Schü­le­rin­nen und Schü­lern im All­tag wie in den Medi­en immer schon begeg­net sind, bevor letz­te­res der Fall ist, braucht wohl gar nicht mehr erwähnt zu werden.

Chro­no­lo­gie als Kon­zept und als sta­bi­les Gerüst erwirbt man wohl am bes­ten nicht dadurch, dass im Zuge einer ansons­ten (weit­ge­hend) unver­än­der­ten der Prä­sen­ta­ti­on von kon­ven­tio­nel­ler nar­ra­ti­ver Deu­tung (im Autoren­text), der Ein­übung in zen­tra­le Begrif­fe und der exem­pla­ri­schen Inter­pre­ta­ti­on von Quel­len sowie der immer wie­der ein­mal statt­fin­den­den Dis­kus­si­on offe­ner Fra­gen inner­halb die­ser Kom­ple­xe die „Daten“ und „Fak­ten“ nach­ein­an­der auf­ge­nom­men und anein­an­der gehängt werden.

Hin­zu kommt, dass das impli­zi­te Vor­aus­set­zen der chro­no­lo­gi­schen Abfol­ge nicht nur gera­de nicht in der Sache selbst gege­be­nen und daher selbst­ver­ständ­li­chen, son­dern fach­lich wie kul­tu­rell in durch­aus unter­schied­li­chen For­men und unter­schied­li­cher Qua­li­tät ent­wi­ckel­ten Kon­zep­te zeit­li­cher Ord­nung gera­de­zu aus der Auf­merk­sam­keit der Schü­le­rin­nen und Schü­ler her­aus­nimmt – es sug­ge­riert auch, dass in der chro­no­lo­gi­schen Abfol­ge eine Not­wen­dig­keit lie­ge. Wenn schon der Vor­sit­zen­de des schles­wig-hol­stei­ni­schen Phi­lo­lo­gen­ver­ban­des die chro­no­lo­gi­sche Anord­nung der Ereig­nis­sen umstands­los und ein­zig als „Kau­sal­ket­te“ anspricht und somit ent­we­der (wohl mehr nolens als volens) ein „post hoc ergo prop­ter hoc“ unter­stellt, wenn nicht gar eine mate­ria­le Geschichts­phi­lo­so­phie, dann wird die­ser Ein­druck bei Schü­le­rin­nen und Schü­lern wohl noch deut­li­cher ent­ste­hen. Als gäbe es nicht auch eine gan­ze Rei­he ande­rer For­men zeit­li­cher Zusam­men­hän­ge, die es zu beden­ken und zu prü­fen gäbe als nur kau­sa­le.17

Viel plau­si­bler ist dage­gen ein Erwerb eines Grund­be­stan­des an „Fak­ten“ (hier: von Kennt­nis­sen über Ver­gan­ge­nes) und auch einer vali­den, nicht-tri­via­len und vor allem belast­ba­ren Vor­stel­lung eines zeit­li­chen Grund­ge­rüsts als zuneh­men­de Aus­dif­fe­ren­zie­rung über eine Abfol­ge meh­re­rer the­ma­ti­scher Ein­hei­ten hin­weg, die jeweils zwar nicht das gan­ze “Uni­ver­sum des His­to­ri­schen” umfas­sen, wohl aber wesent­li­che Abschnit­te des­sel­ben. Bei Anfän­gern (wohl den jün­ge­ren Schü­lern) wären somit eher gro­be, dafür aber kei­nes­wegs ein­ge­schränk­te Ein­tei­lun­gen von Zeit. Im Schul­al­ter dürf­te das wohl nicht erst bei einer dicho­to­men Unter­schei­dung von „heu­te“ und „frü­her“ anfan­gen, wohl aber muss auch die­se mög­lich sein. Mehr­fa­che fol­gen­de Aus­dif­fe­ren­zie­run­gen des tem­po­ra­len Gerüsts und immer wie­der statt­fin­den­de Ver­glei­che der chro­no­lo­gi­schen Kon­zep­te und Ter­mi­no­lo­gie unter­ein­an­der ermög­li­chen dann den kumu­la­ti­ven (nicht addi­ti­ven) Auf­bau eines fle­xi­blen, ope­ra­blen Kon­zepts von Zeit. Das ist mög­lich, indem Geschichts­un­ter­richt nicht mehr chro­no­lo­gisch vor­geht, son­dern in Form einer Anein­an­der­rei­hung von soge­nann­ten „Längs­schnit­ten“, die sich jeweils the­ma­tisch unter­schei­den, aber auch dar­in, dass quer zu ihnen (über sie hin­weg) der Grad der Dif­fe­ren­zie­rung von chro­no­lo­gi­scher und „sach­be­zo­ge­ner“ Ter­mi­no­lo­gie, der Anspruch an die Ver­fü­gung über Kon­zep­te, Fähig­kei­ten und Metho­den­be­herr­schung sowie schließ­lich an Refle­xi­vi­tät schritt­wei­se erhöht wird.18

Chro­no­lo­gi­sche Rück- und Vor­auf­be­zü­ge erfor­dern dann kei­nes­wegs Erin­ne­rungs- und War­tel­eis­tun­gen über meh­re­re Jah­re, viel­mehr kön­nen (und müs­sen) die Schü­le­rin­nen und Schü­ler jeweils Bezug auf die vor­he­ri­gen, die „gan­ze“ Zeit­ska­la umfas­sen­den Kennt­nis­se zurück­grei­fen. Die Lern­pro­gres­si­on des Geschichts­un­ter­richts liegt dann nicht mehr ent­lang, son­dern quer zur Chro­no­lo­gie. Auch das wird einem Geschichts­ler­nen gerecht, das sich als Befä­hi­gung zum Den­ken, nicht als Vor­ga­be und Rezep­ti­on einer kon­ven­tio­nel­len Deu­tung versteht.

Gera­de wer der Mei­nung ist, dass die Chro­no­lo­gie das unver­zicht­ba­re Grund­ge­rüst ist, müss­te sich im Inter­es­se eines sys­te­ma­ti­schen Auf­baus belast­ba­rer Chro­no­lo­gie­kon­zep­te vom her­kömm­li­chen chro­no­lo­gi­schen Unter­richt verabschieden.

Zitier­te Lite­ra­tur

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Vitzt­hum, Tho­mas (2015): Der fata­le Nie­der­gang des Schul­fa­ches Geschich­te. Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on, Wei­ma­rer Repu­blik, DDR: Immer mehr deut­sche Schü­ler wis­sen dar­über – nichts. Geschich­te kommt an vie­len Schu­len mit Sys­tem zu kurz. Es droht ver­brei­te­te his­to­ri­sche Amne­sie. In: Die Welt, 14.12.2015. Online ver­füg­bar unter http://​www​.welt​.de/​p​o​l​i​t​i​k​/​d​e​u​t​s​c​h​l​a​n​d​/​a​r​t​i​c​l​e​1​4​9​9​0​9​2​2​7​/​D​e​r​-​f​a​t​a​l​e​-​N​i​e​d​e​r​g​a​n​g​-​d​e​s​-​S​c​h​u​l​f​a​c​h​s​-​G​e​s​c​h​i​c​h​t​e​.​h​tml.

Vitzt­hum, Tho­mas (2016): Wenn im Geschichts­un­ter­richt Jah­res­zah­len egal sind. In: DIE WELT [online], 22.08.2016. Online ver­füg­bar unter http://​www​.welt​.de/​p​o​l​i​t​i​k​/​d​e​u​t​s​c​h​l​a​n​d​/​a​r​t​i​c​l​e​1​5​7​8​0​7​7​7​4​/​W​e​n​n​-​i​m​-​G​e​s​c​h​i​c​h​t​s​u​n​t​e​r​r​i​c​h​t​-​J​a​h​r​e​s​z​a​h​l​e​n​-​e​g​a​l​-​s​i​n​d​.​h​tml.

Völ­kel, Bär­bel (2011): Immer mehr des­sel­ben? Ein­la­dung zu einer kri­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung mit dem chro­no­lo­gi­schen Geschichts­un­ter­richt. In: GWU 62 (2011), S. 353 – 362.

Anmer­kun­gen /​ Refe­ren­ces
  1. Vitzt­hum 2015; Vitzt­hum 2016. []
  2. Sand­küh­ler 2016 als Replik auf Reich­stet­ter 2016. []
  3. Sand­küh­ler 2016. []
  4. Reich­stet­ter 2016. []
  5. Es han­delt sich natür­lich nicht um ein­fa­che Alter­na­ti­ven. Man kann sie auch als Kom­po­nen­ten begrei­fen, aus denen in unter­schied­li­chen Zusam­men­set­zun­gen jeder (?) Geschichts­un­ter­richt zusam­men­ge­setzt ist. Aller­dings ist dann frag­lich, ob es nicht noch ande­re sol­che Kom­pe­ten­zen gibt, und ob sol­che Zusam­men­set­zun­gen nicht inne­re Wider­sprü­che auf­wei­sen (kön­nen). Die Fra­ge reicht etwa bis hin­ein in die Ter­mi­no­lo­gie, ob man von „Struk­tu­rie­rungs­kon­zep­ten“ oder „Dar­stel­lungs­kon­zep­ten“ spre­chen soll (vgl. den m.E. fal­schen Ter­mi­no­lo­gie­wech­sel von Bar­ri­cel­li 2007; zu Bar­ri­cel­li 2012; sowie Pan­del 2006). []
  6. Vitzt­hum 2016. Zita­te aus: Both et al. 2016, S. 13. []
  7. Both et al. 2016, S. 13. []
  8. Vgl. „Gera­de […] Ran­ke war bewußt, daß es sich bei den soge­nann­ten Fak­ten um Kon­struk­te han­del­te“. Süss­mann 2000, 30, FN 28. []
  9. Vitzt­hum 2015. []
  10. Bar­ri­cel­li et al. 2012. Kör­ber 2018; dem­nächst auch Kör­ber 2021a. []
  11. Kör­ber et al. 2007; dar­in Bor­ries 2007 zum Ver­hält­nis von (nicht so bezeich­ne­tem) „Fakten“-Wissen und Kom­pe­ten­zen; vgl. auch Düvel und Kör­ber 2012. []
  12. Jung 2015. Vgl. die Bei­trä­ge in Demo­kra­ti­sche Geschich­te 26 (2016): Schwa­be 2016, Stel­lo 2016, Pohl 2016, Dan­ker 2016. []
  13. Jung 2015. []
  14. Kör­ber 2004, Völ­kel 2011, Dan­ker 2016. []
  15. Vgl. kri­tisch: „chro­no­lo­gi­scher Durch­gang und Kanon lie­gen dicht bei­ein­an­der.“ Dan­ker 2016, S. 306. []
  16. Gir­mes 1997. []
  17. Dem wider­spricht nicht, dass „Cau­se and Con­se­quence“ eines der sechs zen­tra­len Kon­zep­te his­to­ri­schen Den­kens bei Peter Seix­as bezeich­net (Seix­as und Mor­ton 2013, S. 102) – im Gegen­teil! Auch Kau­sa­li­tät darf nicht unter­stellt, son­dern muss als Denk­form expli­ziert, reflek­tiert und auch geübt wer­den. []
  18. Vgl. hier­zu jetzt Kör­ber 2021b []
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“Historytelling” — eine Fortsetzung der Diskussion mit Thomas Hellmuth

09. Juli 2016 Andreas Körber Keine Kommentare

Vor eini­gen Tagen hat Tho­mas Hell­muth auf Public Histo­ry Weekly einen Bei­trag geschrie­ben (“Ein Plä­doy­er für ‘Histo­rytel­ling’ im Unter­richt”), auf den sowohl Lind­say Gib­son als auch ich geant­wor­tet haben. Eine erneu­te Replik des Autors war offen­kun­dig als Schluss der Debat­te gedacht, denn es gibt kein wei­te­res Kom­men­tar­feld mehr.

Die­ser Schluss der Debat­te ist miss­lich, denn die Replik Hell­muths for­dert durch­aus zu wei­te­rer Aus­ein­an­der­set­zung auf. Ohne die­se Debat­te hier nun in eine unnö­ti­ge Län­ge zie­hen zu wol­len, möch­te ich doch auf eini­ge weni­ge Punk­te erneut eingehen:

  • Gegen den Ein­be­zug viel­fäl­ti­ger Metho­den der Pro­duk­ti­on und Ana­ly­se von Nar­ra­tio­nen in den Geschichts­un­ter­richt ist nichts zu sagen. In der Tat hat Hell­muth Recht, wenn er hier noch Poten­ti­al sieht. Aller­dings wirft sei­ne Replik wie der ursprüng­li­che Bei­trag durch­aus pro­ble­ma­ti­sche Fra­gen auf.
  • Zunächst: Zur von Hell­muth beklag­ten strik­ten “Tren­nung” von Re-Kon­struk­ti­on und De-Kon­struk­ti­on im FUER-Modell ist zu sagen, dass das FUER-Modell gera­de kei­ne strik­te unter­richt­li­che Tren­nung in Pha­sen for­dert, in denen ent­we­der nur das eine oder das ande­re the­ma­ti­siert, geübt etc. wer­den dürf­te. Die­ser Aus­sa­ge liegt offen­kun­dig ein Miss­ver­ständ­nis des Kom­pe­tenz­mo­dells als auch sei­nes Modell­cha­rak­ters zugrun­de: Das Modell unter­schei­det “Kom­pe­ten­zen” (Fähig­kei­ten, Fer­tig­kei­ten und Bereit­schaf­ten), nicht sau­ber von­ein­an­der zu tren­nen­de Pha­sen oder Schrit­te. Die tat­säch­li­che Aus­ein­an­der­set­zung, der kon­kre­te Lern­pro­zess ver­läuft oft wenig sys­te­ma­tisch, wie ja auch der For­schungs­pro­zess der His­to­ri­ker in der Rea­li­tät nicht dem Kreis­lauf­mo­dell Rüsens folgt — etwa in der Form eines ein­ma­li­gen nach­ein­an­der­fol­gen­den Durch­lau­fens der ein­zel­nen Schrit­te vom Ori­en­tie­rungs­be­dürf­nis­sen über die Akti­vie­rung lei­ten­der Hin­sich­ten zur metho­di­sier­ten Zuwen­dung zur Ver­gan­gen­heit und danach zur Dar­stel­lung. Nein, das Leben ist unsys­te­ma­tisch. Gera­de des­halb ist aber die ana­ly­ti­sche Unter­schei­dung der Ope­ra­tio­nen so wich­tig, dass man (im bes­ten Fal­le) immer weiß, was man gera­de tut; ob man also gera­de selbst syn­the­tisch-kon­struk­tiv neu­en Sinn bil­det oder den in einer Nar­ra­ti­on ent­hal­te­nen Sinn her­aus­ar­bei­tet; in weni­ger sys­te­ma­ti­schen Situa­tio­nen (wo man eine Geschich­te liest, neue Fra­gen ent­wi­ckelt, nie­der­schreibt, mit neu­en, eige­nen Ideen wei­ter­liest etc.) soll­te man sich mit Hil­fe die­ser Unter­schei­dun­gen klar machen kön­nen, wel­chen Sta­tus das eige­ne Tun gera­de hat, usw. Auch bei “Sto­rytel­ling” in Form einer krea­ti­ven wie ana­ly­ti­schen Beschäf­ti­gung mit frem­den und neu­en eige­nen Geschich­ten hat die­se Unter­schei­dung also durch­aus ihren Sinn.
  • Wich­ti­ger aber ist, dass Hell­muth in sei­ner Replik mei­ne Skep­sis gegen­über sei­ner Auf­fas­sung, es sei nicht pro­ble­ma­tisch, wenn erfun­de­ne Geschich­ten als “wah­rer” emp­fun­den wür­den, nicht argu­men­ta­tiv auf­greift, son­dern ledig­lich mit Hil­fe eini­ger Zita­te bekräf­tigt und in leicht iro­ni­schem Ton mei­ne Skep­sis gegen­über einer Über­schrei­tung einer roten Linie kommentiert.
    Dazu sei klar­ge­stellt, dass ich die “rote Linie” nicht dort über­schrit­ten sehe, wo mit fik­tio­na­len Tex­ten gear­bei­tet wird und Schü­ler auch sol­che erfin­den sol­len, wohl aber, wenn die “Wahr­heit” solch erfun­de­ner Tex­te nicht unter­sucht, ana­ly­siert und reflek­tiert wird — und zwar mit Bezug auf die erkennt­nis­theo­re­ti­schen Stan­dards der Geschichts­wis­sen­schaft -, son­dern wo sie eher affir­miert werden.Die von Hell­muth ange­führ­ten Auto­ri­tä­ten Jor­ge Sem­prun, Ruth Klü­ger und José Sara­ma­go hel­fen in die­ser Fra­ge gera­de nicht wei­ter. Nicht, dass die von ihnen ange­führ­te “Wahr­heit” der erfun­de­nen Geschich­ten kei­ne wäre — aber sie hat doch einen ande­ren Sta­tus. Eine ein­di­men­sio­na­le Unter­schei­dung zwi­schen “unwahr” — “wahr” — “wah­rer” greift hier nicht, viel­mehr ist das Kon­zept der Wahr­heit dif­fe­ren­zier­ter zu ana­ly­sie­ren und anzu­wen­den — gera­de auch, wenn es um Lern­si­tua­tio­nen geht.
    Wenn die For­de­rung Hell­muths nun dar­auf gin­ge Whar­heits­an­sprü­che, mit Hil­fe von Objektivitäts‑, oder bes­ser Plau­si­bi­li­täts-Kri­te­ri­en (Rüsen 2013) zu ana­ly­sie­ren (um nicht den älte­ren Begriff der Trif­tig­keit zu benut­zen), so dass Schü­le­rin­nen ler­nen zu dif­fe­ren­zie­ren, dass Geschich­ten durch­aus in unter­schied­li­chem Maße empi­risch, nor­ma­tiv und nar­ra­tiv trif­tig sein kön­nen, und wie dann auch empi­risch weni­ger trif­ti­gen Geschich­ten nar­ra­ti­ve Plau­si­bi­li­tät eig­nen kann — dann wäre alles in Ord­nung. Die Asser­ti­on, dass sol­che Geschich­ten ein­fach “wah­rer” sein kön­nen, hilft aller­dings nicht.
    Die von Hell­muth ange­führ­ten Auto­ri­tä­ten sind aber auch noch in ande­rer Hin­sicht pro­ble­ma­tisch in die­sem Zusam­men­hang. Zumin­dest bei Sem­prún und Klü­ger, aber auch bei Sára­ma­go (zumin­dest in sei­nen Sold­ados de Sala­mi­na) bezieht sich die beson­de­re, erhöh­te Wahr­heit zumin­dest par­ti­ell auch dar­auf, dass die­se fik­tio­na­len Geschich­ten eine “Wahr­heit” aus­zu­drü­cken ver­mö­gen, die “tro­cke­ne”, kogni­ti­vis­ti­sche Geschichts­wis­sen­schaft nicht leis­ten kann, weil sie mit der bio­gra­phi­schen und gene­ra­tio­nel­len Erfah­rung die­ser Autoren in beson­de­rer Wei­se auf­ge­la­den sind. Es geht hier ganz offen­kun­dig um die Wahr­heit der tota­li­tä­ren Erfah­rung von Leid und Unmensch­lich­keit, die eben nicht ein­fach wis­sen­schaft­lich erfasst und inter­sub­jek­tiv ver­mit­telt wer­den kann.
    Ist nun aber die­ser Modus der “Wahr­heit” eben­so ein­fach auch Geschich­ten zuzu­ge­ste­hen, die Schü­le­rin­nen und Schü­ler (gleich wel­chen fami­li­en­bio­gra­phi­schen und/​oder kul­tu­rel­len bezu­ges) zu Gegen­stän­den des Geschichts­un­ter­richts “erfin­den” — wie es bei Hell­muth offen­kun­dig gemeint ist? Kön­nen sie auch die­se Form der Wahr­heit bean­spru­chen? Wenn in sol­che Geschich­te exis­ten­ti­el­le Bedürf­nis­se, Per­spek­ti­ven etc. ein­flie­ßen, dann sicher. Aber gilt es auch für Geschich­ten, die sich Schü­le­rin­nen und Schü­ler zu his­to­ri­schen The­men im Unter­richt aus­den­ken? Kann sol­che Art Wahr­heit durch didak­ti­sche Pla­nung gesi­chert, her­ge­stellt wer­den? Ist ein unter­richt­li­ches “Histo­rytel­ling” zu distan­ten Gegen­stän­den ein­fach so die­ser lite­ra­risch-exis­ten­ti­el­len Form der nar­ra­ti­ven Wahr­heit zu vergleichen?
  • Das nun ist eine der wesent­li­chen Her­aus­for­de­run­gen der Beschäf­ti­gung mit Nar­ra­ti­vi­tät: Schü­ler kön­nen, nein: müs­sen ler­nen, dass und wie lite­ra­ri­sche und his­to­ri­sche “Wahr­heit” sich auf­ein­an­der bezie­hen kön­nen, auch auch, dass sie sich unter­schei­den. Unter­richt­lich ist also nicht die Fra­ge zen­tral, ob von Schü­lern erfun­de­ne Geschich­ten “wahr” sein kön­nen, son­dern die The­ma­ti­sie­rung der Art und Wei­se und des (per­spek­ti­visch durch­aus unter­schied­li­chen) Gra­des, wie sie “wahr” oder bes­ser: plau­si­bel sind — und wem gegen­über die­se Plau­si­bi­li­tä­ten einen Anspruch auf Gel­tung bean­spru­chen können.

Ins­ge­samt also: Nichts gegen “Histo­rytel­ling” — aber doch als Mit­tel zur Refle­xi­on über die Gemein­sam­kei­ten udn Unter­schie­de, über die Prin­zi­pi­en und Kri­te­ri­en von “Wahr­heit” im his­to­ri­schen und im lite­ra­ri­schen Bereich.

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