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Wie­der ein­mal eine klei­ne Refle­xi­on à pro­pos einer For­mu­lie­rung in einer Haus­ar­beit. Die­ses Mal zum Ver­ständ­nis des Kon­zepts der Perspektivität.

Ein(e) Stu­die­ren­de® schreibt zum geschichts­di­dak­ti­schen Ansatz von Peter Seix­as und Tim Mor­ton (The Big Six His­to­ri­cal Thin­king Con­cepts, 2013):

“… Und letzt­lich der inter­pre­ta­to­ri­sche Stand­punkt. Die­ser ergibt [sich] aus dem, wer oder was wir sind, und unse­rer Beein­fluss­bar­keit in der Betrach­tung von Geschich­te (Per­spek­ti­vi­tät). Dies sind in ers­ter Linie gesell­schaft­li­che und kul­tu­rel­le Aspek­te. Nach Ansicht von Peter Seix­as ergibt sich His­to­ri­cal Thin­king aus dem Zusam­men­spiel und der Lösung die­ser drei Pro­ble­me [zeit­li­che Ent­fer­nung; Ent­schei­dungs­not­wen­dig­keit beim His­to­ri­schen Den­ken; Per­spek­ti­vi­tät]. Er spricht die Span­nung zwi­schen der Krea­ti­vi­tät des His­to­ri­kers und den frag­men­ta­ri­schen Spu­ren der Ver­gan­gen­heit an und zeigt kri­tisch auf, dass eine Beein­fluss­bar­keit auf­grund der Her­kunft nicht aus­zu­schlie­ßen ist.”

Dar­an ist viel Rich­ti­ges — das Zitat zeigt aber auch einen Aspekt auf, der es Wert ist, kom­men­tiert zu wer­den. Die Ver­wen­dung des Begriffs “Beein­fluss­bar­keit” und der For­mu­lie­rung “nicht aus­zu­schlie­ßen” ver­weist impli­zit auf eine Vor­stel­lung einer unbe­ein­fluss­ten und unver­zerr­ten Erkennt­nis der Ver­gan­gen­heit, die zwar mit Seix­as als nicht zu errei­chen gekenn­zeich­net wird, wohl aber im Hin­ter­grund als nor­ma­ti­ve Folie mit­schwingt. Der Begriff “Beein­fluss­bar­keit” näm­lich ist nega­tiv konnotiert.
Das aber ist es gera­de nicht, was Seix­as (und ande­re) m.E. mei­nen, und was auch mir beson­ders wich­tig ist. Per­spek­ti­vi­tät bedeu­tet nicht eine lei­der not­wen­di­ge Ein­schrän­kung der Erkenn­bar­keit von Geschich­te im His­to­ri­schen Den­ken, son­dern eine unhin­ter­geh­ba­re Bedin­gung, die das His­to­ri­sche Erken­nen nicht beein­träch­tigt, son­dern gera­de­zu erst in Wert setzt. Per­spek­ti­vi­tät ist kei­ne Ein­schrän­kung, son­dern eine Bedin­gung — ohne die Per­spek­ti­ve blie­be die Ver­gan­gen­heit eine Ansamm­lung von Ein­zel­hei­ten ohne jeg­li­che Bedeu­tung. Ein Sinn der re-kon­stru­ier­ten Ver­gan­gen­heit ergibt sich letzt­lich erst dadurch, dass bereits die Re-Kon­struk­ti­on aus einer Per­spek­ti­ve erfolgt 1.
Geschich­te ist somit nicht “lei­der nur” ein Kon­strukt und die Per­spek­ti­vi­tät der Geschichts­kon­struk­ti­on, die Prä­gung (nicht aber Deter­mi­nie­rung) der jewei­li­gen Kon­struk­ti­on durch Posi­tio­nen im sozia­len, kul­tu­rel­len, poli­ti­schen Raum und durch indi­vi­du­el­le Cha­rak­te­ris­ti­ka ist kei­ne Beein­träch­ti­gung, son­dern Vor­aus­set­zung dafür, dass Geschich­te Sinn bil­den und ori­en­tie­rend wir­ken kann.
Nicht nur für kol­lek­ti­ve, son­dern auch für indi­vi­du­el­le Sinn­bil­dung — die ja in gesell­schaft­li­chem Rah­men erfolgt und für ein iden­ti­fi­zie­ren und Han­deln im gesell­schaft­li­chen Rah­men ori­en­tie­ren soll — ist es dann von Bedeu­tung, wie die jewei­li­gen Posi­tio­na­li­tä­ten und die in ihren gebil­de­ten Per­spek­ti­ven zu jenen ande­rer (ver­gan­ge­ner wie gegen­wär­ti­ger) Mit­glie­der der Gesellschaft(en) auf ver­schie­de­nen Maß­stab­s­ebe­nen in Bezie­hung gesetzt wer­den (kön­nen), und wie in der Refle­xi­on die­ser Posi­tio­nen, Per­spek­ti­ven und der von ihnen aus gebil­de­ten sinn­haf­ten Nar­ra­tio­nen Sinn auch für das jeweils eige­ne und das gemein­sa­me Sein und Han­deln gebil­det wer­den kann.

Anmer­kun­gen /​ Refe­ren­ces
  1. Vgl. Rüsen, Jörn (1975): Wert­ur­teils­streit und Erkennt­nis­fort­schritt. In: Jörn Rüsen und Hans Micha­el Baum­gart­ner (Hg.): His­to­ri­sche Objek­ti­vi­tät. Auf­sät­ze zur Geschichts­theo­rie. Göt­tin­gen: Van­den­hoeck & Ruprecht (Klei­ne Van­den­hoeck-Rei­he, 1416), S. 68 – 101, hier S. 86f.[]
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