Arbeitsbereich Geschichtsdidaktik / History Education, Universität Hamburg

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Vortrag zur Geschichte der Lehrerbildung in Hamburg

01. Februar 2019 Andreas Körber Keine Kommentare

Kör­ber, Andre­as (2019). Leh­rer­bil­dung an der Uni­ver­si­tät Ham­burg: Ein Rück­blick im Lich­te der anste­hen­den Reform (=(Fast) 100 Jah­re Uni­ver­si­tät Ham­burg). Ham­burg. https://​lec​tu​re2​go​.uni​-ham​burg​.de/​l​2​g​o​/​-​/​g​e​t​/​v​/​2​4​299

Opfer-Identifikation in der Erinnerungspädagogik — ein paar unsystematische Gedanken [2014]

29. Dezember 2018 Andreas Körber Keine Kommentare

1. Einleitung

Gedenk­stät­ten­päd­ago­gik ist eine Form his­to­ri­schen Ler­nens. Dem­entspre­chend fin­det an Gedenk­stät­ten sowohl in infor­mel­len und ’spon­ta­nen’ als auch in inten­tio­na­len, orga­ni­sier­ten Lern­pro­zes­sen his­to­ri­sches Ler­nen statt. Dabei spielt das Kon­zept der Iden­ti­fi­ka­ti­on mit den Opfern, resp. zumin­dest mit deren Per­spek­ti­ve, eine bedeu­ten­de Rol­le — wenn auch eine kei­nes­wegs ein­deu­ti­ge. Eini­ge Bei­spie­le mögen ausreichen.

  • So wird etwa auf der Web­sei­te der Aus­stel­lungs-Initia­ti­ve “Mit der Reichs­bahn in den Tod” in eher bedau­ern­dem Ton festgestellt:

    “Im ’nor­ma­len’ Geschichts­un­ter­richt gelingt es kaum emo­tio­na­le Iden­ti­fi­ka­ti­on mit den Opfern her­zu­stel­len, weil die Ver­bre­chen der Natio­nal­so­zia­lis­ten sel­ten durch Bio­gra­phien der Opfer per­so­na­li­siert wer­den.” 1

  • Chris­ti­an Schnei­der betont, dass die Iden­ti­fi­ka­ti­on mit den Opfern die Grund­la­ge der enga­gier­ten Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus und Holo­caust durch die poli­ti­sier­te aka­de­mi­sche Nach­kriegs­ge­nera­ti­on gewe­sen ist — anknüp­fend an die Posi­ti­on Max Hork­hei­mers, der den Ermor­de­ten sei­ne Stim­me gelie­hen habe. 2
  • Nor­bert Frei beton­te in glei­cher Rich­tung, dass die Iden­ti­fi­ka­ti­on mit den Opfern “Aus­druck einer bewuß­ten Distan­zie­rung gegen­über der Eltern­ge­nera­ti­on bedeu­te­te” und bei aller Kri­tik (etwa durch Diede­rich Diede­rich­sen) als “unan­ge­mes­se­ne Wär­me, als Ein­füh­lungs- und Ange­mes­sen­heits­be­geh­ren” den Vor­teil gehabt habe, den “Ant­ago­nis­mus zwi­schen Opfern und Tätern auf­recht­zu­er­hal­ten”. 3
  • Dem­ge­gen­über wird mehr­fach betont, 
    • dass für jun­ge Men­schen heu­te die­se Iden­ti­fi­ka­ti­on “nicht unbe­dingt das Nahe­lie­gen­de sei” 4
    • dass eine sol­che Iden­ti­fi­ka­ti­on für Jugend­li­che — zumal mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund — wenig attrak­tiv sei. 5

Von rechts­extre­mer (“revi­sio­nis­ti­scher”) Sei­te wird das (in den jeweils bespro­che­nen Mate­ria­li­en, Tex­ten o.ä. tat­säch­li­che oder ver­meint­li­che) Ziel einer Iden­ti­fi­ka­ti­on heu­ti­ger Jugend­li­cher mit den Opfern empört abge­lehnt, was als ein Indiz dafür gewer­tet wer­den kann, dass sie als durch­aus wirk­sam ein­ge­schätzt wird im Sin­ne einer men­schen­recht­lich fun­dier­ten, nicht-aggres­si­ven und nicht auf Res­sen­ti­ments beru­hen­den huma­nen Per­spek­ti­ve auf die eige­ne Ver­gan­gen­heit. 6

Es mag hilf­reich sein, die Ziel­vor­stel­lung der Iden­ti­fi­ka­ti­on mit der Opfer­per­spek­ti­ve unter zwei Gesichts­punk­ten nicht pri­mär gedenkstätten‑, son­dern geschichts­di­dak­ti­scher Pro­ve­ni­enz zu ana­ly­sie­ren. Der fol­gen­de Ver­such stellt dabei ledig­lich einen Dis­kus­si­ons­bei­trag dar, kein abschlie­ßen­des Ergeb­nis einer Ana­ly­se. Rück­mel­dun­gen sind daher mehr als willkommen.

2. Zum Begriff des historischen Lernens

Pro­zes­se der Geschichts­ver­mitt­lung (nicht nur) in Gedenk­stät­ten sind Sinn­bil­dungs­pro­zes­se. Inso­fern bei sol­chen Ver­an­stal­tun­gen his­to­ri­sche Nar­ra­tio­nen von Mit­ar­bei­tern, Besu­chern, Zeit­zeu­gen etc. aktua­li­siert, erzählt und mit­ein­an­der in Bezug gesetzt wer­den, so dass neue ent­ste­hen (kön­nen), besteht die­ses his­to­ri­sches Ler­nen in his­to­ri­schem Den­ken. Das bedeu­tet, dass in Anwen­dung his­to­ri­scher Kom­pe­ten­zen Ori­en­tie­run­gen und Iden­ti­tä­ten bestä­tigt oder ver­än­dert wer­den. Dies ent­spricht dem Kon­zept des his­to­ri­schen Ler­nens, das auch klas­si­schem Geschichts­un­ter­richt zu Grun­de liegt, in dem näm­lich den Ler­nen­den (trotz und bei aller Metho­den­ori­en­tie­rung) bestimm­te his­to­ri­sche Deu­tun­gen, Sach- und Wert­ur­tei­le wenn nicht ange­son­nen, so doch zur Refle­xi­on vor­ge­stellt wer­den. Es ist im Übri­gen auch in der Grund­fi­gur des Kon­zepts his­to­ri­schen Ler­nens bei Jörn Rüsen, für den his­to­ri­sches Ler­nen und his­to­ri­sches Den­ken grund­sätz­lich struk­tur­gleich sind: His­to­ri­sches Ler­nen besteht in Pro­zes­sen der Sinn­bil­dung über Zeiterfahrung.
Die­sem Kon­zept gegen­über exis­tiert aber auch ein wei­te­res Ver­ständ­nis his­to­ri­schen Ler­nens, das sich mit dem ers­ten nicht gegen­sei­tig aus­schließt, wohl aber zu die­sem “quer” liegt. His­to­ri­sches Ler­nen in die­sem Sin­ne ist die Befä­hi­gung zu eigen­stän­di­ger his­to­ri­scher Ori­en­tie­rung durch Sinn­bil­dung, nicht die­se Sinn­bil­dung selbst. His­to­risch gelernt hat dem­nach nicht nur und vor allem der­je­ni­ge, der mit einem neu­en Ver­ständ­nis einer his­to­ri­schen Zeit, eines Ereig­nis­ses, eines Zeit­al­ters oder Zusam­men­hangs aus­ge­stat­tet wird oder sich ein solch neu­es Ver­ständ­nis selbst erar­bei­tet, son­dern vor­nehm­lich der­je­ni­ge, der sei­ne kogni­ti­ve und emo­tio­na­le bzw. moti­va­tio­na­le Befä­hi­gung dazu ela­bo­riert hat. Natür­lich geht die­ses nicht ohne die Arbeit an kon­kre­ten Gegen­stän­den, The­men, Pro­ble­men und somit wird das erst­ge­nann­te Ver­ständ­nis his­to­ri­schen Ler­nens beim zwei­ten immer mit auf­zu­fin­den sein. Wich­tig ist hin­ge­gen im Sin­ne einer kom­pe­tenz­ori­en­tier­ten Didak­tik, dass ers­te­res Ver­ständ­nis nicht allein bleibt und so domi­nant wird, dass alle Befä­hi­gung zur Eigen­stän­dig­keit nur Gar­nie­rung wird.
Dies aber hat Kon­se­quen­zen für his­to­ri­sches Ler­nen auch an Gedenk­stät­ten. Wenn es nicht nur Iden­ti­fi­ka­tio­nen über­mit­teln soll, son­dern die Rezi­pi­en­ten auch dazu befä­hi­gen, mit neu­en Her­aus­for­de­run­gen die­ser Iden­ti­tä­ten in der nach- und außer­schu­li­schen Zukunft selbst­stän­dig und ver­stän­dig umzu­ge­hen, dann muss auch der Refle­xi­on und Ela­bo­ra­ti­on der “Denk­zeu­ge”, der Kate­go­rien und Begrif­fe sowie der Ver­fah­ren Auf­merk­sam­keit gewid­met wer­den. Dies hat Kon­se­quen­zen auch für den Umgang mit den Kate­go­rien “Täter” und “Opfer”.

3. Täter und Opfer als Thema und Identifikationsgegenstand in der heterogenen Gesellschaft

3.1 Zu den Begriffen “Täter” und “Opfer”

Die in der Gedenk­stät­ten­päd­ago­gik wie in der Erin­ne­rungs­kul­tur und ‑poli­tik ver­brei­tet ver­wen­de­ten Begrif­fe des “Täters” und des “Opfers” wie auch die wei­te­ren Begrif­fe der “Mit­läu­fer” und des “Hel­den” sind kei­nes­wegs “objek­ti­ve” Bezeich­nun­gen für Rol­len, wel­che Men­schen in ver­gan­ge­nen Situa­tio­nen und Hand­lungs­zu­sam­men­hän­gen ein­ge­nom­men bzw. aus­ge­füllt haben. An sich sind die­se Begrif­fe selbst nicht his­to­risch; viel­mehr han­delt es sich um sozia­le Begrif­fe, die für ver­gan­ge­ne wie gegen­wär­ti­ge und gar zukünf­ti­ge Zei­ten glei­cher­ma­ßen ver­wen­det wer­den kön­nen. Men­schen kön­nen sowohl in der Zeit ihres Erlei­dens eines Unrechts als “Opfer” (er/​sie wird Opfer einer tat eines ande­ren) bzw. wäh­rend der Zufü­gung eines Unrechts als “Täter” bezeich­net wer­den (es/​sie begeht eine Tat), wie die Erwar­tung die­se Bezeich­nun­gen für zukünf­ti­ge Situa­tio­nen und sozia­le Rol­len mög­lich macht (wenn wir so wei­ter machen, wer­den wir … zum Opfer fal­len — oder uns einer Tat schul­dig machen).
In der Geschichts- und Erin­ne­rungs­kul­tur wie in der Gedenk­stät­ten­päd­ago­gik und ver­wand­ten Dis­zi­pli­nen haben wir es aber mit einer Ver­wen­dung die­ser Begrif­fe zu tun, bei denen die Zeit­in­di­zes des Benann­ten und des Benen­nen­den in ande­rer Form aus­ein­an­der­tre­ten: Wenn wir hier jeman­den als “Opfer” bzw. als “Täter” bezeich­nen, ist es (eben­so wie bei den ver­wand­ten Bezeich­nun­gen “Held”, “Mit­läu­fer” etc.) muss weder er selbst noch sei­ne Mit­welt sei­ne Rol­le in der Zeit des Gesche­hens not­wen­dig mit die­sem Begriff bezeich­net haben. In den aller­meis­ten Fäl­len wird das der Fall gewe­sen sein, aber es ist nicht not­wen­dig. “Opfer” des Holo­caust sind gera­de auch die­je­ni­gen, die sich kei­nes­wegs “wie die Scha­fe zur Schlacht­bank” haben trei­ben las­sen, son­dern die aktiv Wider­stand geleis­tet haben, aber auch “Täter” sind kei­nes­wegs nur die­je­ni­gen, die in vol­lem Bewusst­sein und mit Absicht eine “Tat” began­gen haben. Es ist eine Eigen­schaft his­to­ri­scher Begrif­fe, dass sie Ereig­nis­se, Taten, Inten­tio­nen und Zustän­de einer Zeit mit dem Denk- und Wer­tungs­in­stru­men­ta­ri­um einer ande­ren Zeit bezeich­nen. Die Nut­zung der genann­ten Begrif­fe in der Zeit des Gesche­hens selbst lässt bei­de Zeit­ho­ri­zon­te nut zusam­men­fal­len, schon bei der Vor-Aus­sicht in die Zukunft tre­ten sie aus­ein­an­der. Rele­vant wird das Phä­no­men aber dann, wenn es um die Ver­gan­gen­heit geht.
Die­se mit Blick auf Begrif­fe for­mu­lier­te Ein­sicht ist dabei nur eine Vari­an­te einer grund­sätz­li­chen Erkennt­nis über die Natur von Geschich­te und Erin­ne­rung: Sie las­sen sich nicht anders fas­sen als in Form von je gegen­wär­ti­gen Aus­sa­gen über Ver­gan­ge­nes. 7 Sie zeigt, dass Begrif­fe im His­to­ri­schen (wie in allen ande­ren Berei­chen) nicht nur Ter­mi­ni sind, mit denen ‘objek­tiv’ gege­be­nes bezeich­net wird, son­dern dass sie Kon­zep­te sind, mit denen die Welt orga­ni­siert wird. 8
Die skiz­zier­te Ein­sicht ist ins­be­son­de­re im Blick auf die Täter rele­vant: Nicht jeder, der heu­te, in Kennt­nis sowohl des Gesamt­zu­sam­men­hangs der Ereig­nis­se als auch ihrer Ergeb­nis­se und Fol­gen, nicht zu letzt aber auch im Besitz von Infor­ma­tio­nen über Inten­tio­nen etc. (zu Recht) mit dem Begriff des “Täters” bezeich­net wird, muss sich selbst als sol­cher gese­hen haben. Selbst gut gemein­te Hand­lun­gen kön­nen für den Sta­tus des “Täters” qua­li­fi­zie­ren, ohne dass dies ein vali­des Argu­ment gegen die­se Bezeich­nung lie­fern wür­de. Das gilt selbst für vie­le Täter im Holo­caust, denen (wie Harald Wel­zer plau­si­bel argu­men­tiert) oft nicht vor­ge­wor­fen wer­den kann, dass sie “unethisch” gehan­delt hät­ten, wohl aber, dass das Uni­ver­sum, dem gegen­über sie mora­lisch han­deln zu müs­sen glaub­ten, ein­ge­schränkt war und ande­re Men­schen (ihre “Opfer”) der­art sys­te­ma­tisch aus­schloss, dass Hand­lun­gen, die wir aus ande­rer (uni­ver­sa­lis­ti­scher) Per­spek­ti­ve als “Taten” (=Ver­bre­chen) qua­li­fi­zie­ren müs­sen, ihnen als “Hel­den­ta­ten” vor­ge­kom­men sein mögen. Nicht alles was nach “bes­tem Wis­sen und Gewis­sen” getan wird, muss also posi­tiv beur­teilt wer­den. Aller­dings bedarf es auch hier einer Dif­fe­ren­zie­rung: es besteht durch­aus ein Unter­schied zwi­schen der his­to­ri­schen Beur­tei­lung der “Taten” eines Hexen­rich­ters des 16. Jahr­hun­derts, des­sen Todes­ur­teil wir heu­te eben­falls miss­bil­li­gen müs­sen, und der­je­ni­gen der Taten der Ver­bre­cher des Holo­caust: Letz­te­ren war es denk­mög­lich, ihren exklu­si­ves “mora­li­sches” Uni­ver­sum als sol­ches zu erken­nen, die Mons­tro­si­tät eines Den­kens zu erfas­sen, wel­ches Men­schen aus der Teil­ha­be an der Qua­li­tät des Mensch­seins aus­schloss. Die­se kon­junk­ti­vi­sche Mög­lich­keit, auch anders (bes­ser) gekonnt zu haben, qua­li­fi­ziert die Hand­lun­gen zu “Taten”.
Ein zwei­ter Aspekt kommt hin­zu: Alle die­se Begrif­fe haben als his­to­ri­sche Bezeich­nun­gen für Men­schen die Eigen­schaft, sie schein­bar auf die durch sie benann­te Eigen­schaft zu redu­zie­ren. Das ist vor allem mit Blick auf die Opfer, aber auch für die Täter von Belang — wenn auch in etwas ande­rer Art und Wei­se: Auch wenn kein Täter nur Täter war, wenn selbst der kom­men­dant von Ausch­witz ein lie­ben­der Fami­li­en­va­ter war, so bleibt er doch Täter. Es gibt kein Auf­wie­gen des Schlech­ten durch das Gute. Ande­rer­seits ist es durch­aus ein Pro­blem, die Opfer nur als Opfer zu den­ken. Sie waren mehr als das. Sie waren Men­schen mit einem voll­stän­di­gen Leben, mit Hoff­nun­gen, Plä­nen (und wohl nicht immer nur ehren­wer­ten), mit Schwie­rig­kei­ten — und mit der Fähig­keit zum Han­deln. Vol­lens pro­ble­ma­tisch wird es bei den­je­ni­gen, die Täter und Opfer in einer Per­son ver­ei­nen, bei Kapos, Funk­ti­ons­häft­lin­gen, bei lei­den­den, die ihr eige­nes Leid ver­rin­gert haben mögen, indem sie absicht­lich oder auch nur unab­sicht­lich ande­ren wei­te­res Leid zuge­fügt haben — und natür­lich bei den Tätern, die auch “gute” Momen­te hatten.
Es muss also fest­ge­hal­ten wer­den, dass “Opfer” und Täter” wie all die ande­ren Bezeich­nun­gen mit Vor­sicht zu genie­ßen sind, weil sie Essen­tia­li­sie­ren und weil sie den Zeit­in­dex der in ihren kon­zen­trier­ten Nar­ra­ti­ve (frü­he­res Gesche­hen und Han­deln von spä­ter beur­teilt) nicht offen zur Schau stellen.
Als letz­ter Aspekt sei erwähnt, dass ins­be­son­de­re der Opfer-Begriff eine zwei­te Dop­pel­deu­tig­keit auf­weist, die zumin­dest in der deut­schen Spra­che gege­ben ist: “Opfer von” (engl. “vic­tim”) und “Opfer für” (engl. “sacri­fice”) fal­len in einem Wort zusam­men. Das bedingt Unein­deu­tig­kei­ten nar­ra­ti­ver Ver­wen­dun­gen, die beson­ders aus­sa­ge­kräf­tig, aber auch pro­ble­ma­tisch sein kön­nen. Es ermög­licht etwa, eine spe­zi­fi­sche nar­ra­ti­ve Abbre­via­tur in unter­schied­li­che Nar­ra­ti­ve auf­zu­lö­sen ohne sie ändern zu müs­sen. 9 Im Fol­gen­den ist zumeist “Opfer von” gemeint, d.h. die pas­si­ve Form der Vik­ti­mi­sie­rung steht im Vordergrund.

3.2 Deutungsangebote von Täter- und Opfer-Orientierung an unterschiedliche Rezipientengruppen

Im Fol­gen­den wird der Ver­such gemacht, mit Hil­fe einer erwei­ter­ten Typo­lo­gie von Sinn­bil­dungs­mus­tern nach Rüsen die Deu­tungs­an­ge­bo­te trans­pa­rent und dis­ku­tier­bar zu machen, die For­men der Opfer- und Täter-The­ma­ti­sie­rung Ler­nen­den anbie­ten. Dabei ist zu beach­ten, dass die Deu­tun­gen nur skiz­ziert wer­den kön­nen, und auch ledig­lich Ange­bo­te darstellen.

3.3 Affirmative Opfer-Identifikation — ein Problem

Wen wir uns zunächst einer Form der Opfer-Iden­ti­fi­ka­ti­on zu, die in Lern­pro­zes­sen und ‑kon­zep­ten vor­herr­schend zu sein scheint, der affir­ma­ti­ven Iden­ti­fi­ka­ti­on. Es geht dabei dar­um, dass sich die Ler­nen­den im Zuge des Lern­pro­zes­ses mit den Gegen­stän­den ihres Ler­nens, näm­lich den Opfern des Holo­caust, iden­ti­fi­zie­ren. Gemeint ist, dass sie durch eine Kom­bi­na­ti­on kogni­ti­ver wie emo­tio­na­ler Leis­tun­gen eine Nähe zu den Opfern auf­bau­en. Kogni­tiv geht es dar­um, dass die Ler­nen­den Infor­ma­tio­nen über die Opfer erwer­ben, vor allem über ihr Leben und Schick­sal. Die­se Infor­ma­tio­nen betref­fen dabei gera­de nicht nur die Opfer als Opfer, son­dern sol­len die­se aus der Anony­mi­tät und Sche­ma­ti­sie­rung, wel­che die Klas­si­fi­ka­ti­on als Opfer mit sich bringt, her­aus­ho­len und die Opfer als Men­schen sicht- und erkenn­bar machen. Der Eigen­schaft “Opfer” zu sein, ist dem­nach für die­se Tätig­keit und das damit ange­streb­te Ler­nen not­wen­di­ge, nicht aber hin­rei­chen­de Bedin­gung. His­to­risch gese­hen, geht es zum einen dar­um, in tra­di­tio­na­ler Sinn­bil­dung an die Lebens­welt und das Leben der Men­schen, der Indi­vi­du­en, die zu Opfern wur­den, anzu­schlie­ßen, und die Ver­nei­nung, die Nega­ti­on, die ihnen durch die Täter wider­fah­ren sind, rück­wir­kend auf­zu­he­ben. Es geht also in dop­pel­tem Sin­ne um tra­di­tio­na­les his­to­ri­sches Denken:

  • in posi­tiv-tra­di­tio­na­lem Sin­ne soll die Iden­ti­tät und die Indi­vi­dua­li­tät der Men­schen, ihre nicht nur ange­tas­te­te, son­dern negier­te Wür­de nor­ma­tiv auf­ge­grif­fen wer­den, soll die Zeit inso­fern “still­ge­stellt” wer­den, dass die Ver­nei­nung die­ser Wür­de kein Ende bedeu­tet. Dies ist gemeint, wenn gesagt wird, es gehe dar­um, den Opfern ihre Iden­ti­tät und ihre Wür­de wiederzugeben.
  • in nega­tiv-tra­di­tio­na­ler Sinn­bil­dung soll der durch die Tat der Täter beab­sich­tig­te und her­ge­stell­te Zustand einer Welt ohne die­se Men­schen und ihre Wür­de, einer Welt, die die­se Men­schen nicht aner­kennt und wert­schätzt, de-legi­ti­miert wer­den. Die­se Zeit wird gera­de nicht still­ge­stellt, son­dern auf­ge­ho­ben. Tra­di­tio­nal ist die­ses his­to­ri­sche Den­ken in dem Sin­ne, dass die­se Zeit gera­de nicht einer Dyna­mik unter­wor­fen wird oder Regeln aus ihr abge­lei­tet wer­den, son­dern dass die Ableh­nung die­ses Zustan­des nor­ma­tiv auf Dau­er gestellt wird: “nie wieder”.

Kom­bi­niert ergibt sich somit eine his­to­ri­sche Sinn­bil­dungs­lo­gik, die gera­de­zu in kon­tra­fak­ti­scher Nor­ma­ti­vi­tät den his­to­risch gewor­de­nen Zustand auf­zu­he­ben und sein Gegen­teil zeit­lich still zu stel­len trach­tet. Es geht um die posi­tiv-tra­di­tio­na­le Anknüp­fung an eine Mensch­lich­keit, die gera­de nicht ein­fach tra­diert wer­den kann, weil sie gebro­chen war — gleich­zei­tig aber um den Appell, die­se ver­lo­re­ne und im eige­nen Den­ken wie­der­ge­won­ne­ne Ori­en­tie­rung an einem Kon­zept von Men­schen­wür­de und Mensch­lich­keit ohne Exklu­sio­nen, tra­di­tio­nal wei­ter­zu­ge­ben an die jun­gen Generationen.

Die­se spe­zi­fi­sche Form tra­di­tio­na­len Den­kens, wel­che nicht “wie­der-gut-machen” will, wohl aber “wie­der gut sein” und die­ses unge­bro­chen wei­ter­gibt, muss jedoch wei­ter dif­fe­ren­ziert wer­den. Es ist näm­lich durch­aus frag­lich, ob (und wenn ja, wie) die in ihr beschlos­se­ne Inten­ti­on his­to­ri­scher Ori­en­tie­rung addres­sa­ten­neu­tral ist und ob und wie sie “ver­mit­telt” wer­den kann.

Zunächst ist nach dem Sub­jekt der­ar­ti­ger Ori­en­tie­rung zu fra­gen. Wenn Men­schen für sich eine sol­che Ori­en­tie­rung gewon­nen haben, ist das in aller Regel nicht ohne spe­zi­fi­sche (wie­der­um kogni­ti­ve und emo­tio­na­le) Denk­leis­tun­gen mög­lich geworden.

Wer als Ange­hö­ri­ger der Täter-Gesell­schaft eine sol­che Ori­en­tie­rung gewon­nen hat, hat dazu ande­re Denk­leis­tun­gen erbrin­gen müs­sen als jemand, die/​der fami­li­är, sozi­al und/​oder kul­tu­rell einer Opfer­grup­pe zuzu­rech­nen ist — und schon gar als jemand, die/​der bei­de oder ganz ande­re Ver­bin­dun­gen “mit­bringt”. Die Aus­gangs­la­gen des his­to­ri­schen Den­kens prä­gen die Perspektiven:

Für Ange­hö­ri­ge einer Opfer­grup­pe (sei­en es Juden, Sin­ti und Roma, Homo­se­xu­el­le, Kom­mu­nis­ten uder ande­re) sich bio­gra­phisch mit Opfern des Holo­caust iden­ti­fi­ziert, hat in aller Regel eine ande­re Sinn­bil­dung zu voll­brin­gen als die/​derjenige, die/​der selbst kei­ner sol­chen Grup­pe ange­hört — zumin­dest wenn das Objekt der Iden­ti­fi­ka­ti­on der eige­nen Grup­pe ange­hört. Wer sich etwa als heu­ti­ger Kom­mu­nist mit der Ver­fol­gung und Ermor­dung von Kom­mu­nis­ten im Drit­ten Reich aus­ein­an­der­setzt, kann viel eher im Sin­ne einer tra­di­tio­na­len Sinn­bil­dung  von einem his­to­ri­schen “Wir” aus­ge­hen und das betrach­te­te Opfer zu den “eige­nen” rech­nen. Die zu bear­bei­ten­den Fra­gen his­to­ri­schen Den­kens lau­ten dann ganz anders als etwa dann, wenn ein Ange­hö­ri­ger einer (damals) natio­na­len oder zumin­dest staats­treu­en Grup­pie­rung sich mit der glei­chen Per­son auseinandersetzt.

Affir­ma­ti­ve Iden­ti­fi­ka­ti­on mit dem Opfer erfor­dert im ers­te­ren Fal­le wenig mehr als die Gleich­set­zung — bis hin zur Fra­ge, inwie­fern auch die jewei­li­gen Kon­tex­te gleich­ge­setzt wer­den kön­nen oder gar müs­sen. Es ist denk­bar (und oft vor­ge­kom­men) , die Ver­fol­gung von Kom­mu­nis­ten im Drit­ten Reich in affir­ma­tiv-tra­di­tio­na­lem Sin­ne zu nut­zen zur Stif­tung einer gegen­wär­ti­gen Iden­ti­tät der (ver­meint­lich oder real) wei­ter­hin Ver­folg­ten.  Affir­ma­ti­ve Iden­ti­fi­ka­ti­on mit den Opfern wäre dann — ganz im Sin­ne des land­läu­fi­gen Iden­ti­fi­ka­ti­ons­be­griffs — Gleich­set­zung. Sie kann Iden­ti­tät sta­bi­li­sie­ren, dabei aber auch Unter­schie­de aus­blen­den. Die­se Form der affir­ma­tiv tra­di­tio­na­len Iden­ti­fi­ka­ti­on ist mög­lich, indem das Opfer gera­de in sei­ner Eigen­schaft als poli­ti­sches Opfer ange­spro­chen und gedacht wird.

Im ande­ren Fall eines ANge­hö­ri­gen einer Nicht-Opfer-Grup­pe, der sich affir­ma­tiv-iden­ti­fi­zie­rend mit einem Opfer aus­ein­an­der set­zen soll, das gera­de nicht sei­ner Grup­pe ange­hört, sind ganz ande­re men­ta­le Ope­ra­tio­nen erfor­der­lich. Wenn eine sol­che Iden­ti­fi­ka­ti­on gelin­gen soll, muss auf eine Art und Wei­se auch die poli­ti­sche Dif­fe­renz (Geg­ner­schaft) mit reflek­tiert und his­to­ri­siert wer­den. Dies kann dahin­ge­hend gedacht wer­den (und “gelin­gen”), dass (a) die eige­ne poli­ti­sche Ori­en­tie­rung in Fra­ge gestellt wird, also gewis­ser­ma­ßen poli­tisch umge­lernt wird, was wie­der­um ein anders gela­ger­tes his­to­ri­sches Den­ken in Gang set­zen muss, oder/​und dass (b) zumin­dest dif­fe­ren­ziert wird zwi­schen der poli­ti­schen Ori­en­tie­rung und der mensch­li­chen Wür­de des dama­li­gen Opfers, und so die sich in der Tat mani­fes­tie­ren­de Gleich­set­zung und die damit ein­her­ge­hen­de Legi­ti­ma­ti­on der Ent­rech­tung rück­wir­kend auf­ge­ho­ben wird. Salopp aus­ge­drückt: Wer sich als kon­ser­va­tiv den­ken­de® Bürger(in) mit sozia­lis­ti­schen oder kom­mu­nis­ti­schen Opfern affir­ma­tiv aus­ein­an­der­setzt, muss nicht auch gleich Kommunist(in) oder Sozialist(in) wer­den. Die Aner­ken­nung des in der poli­ti­schen Ver­fol­gung lie­gen­den Unrechts kann zumin­dest zur Zivi­li­sie­rung der poli­ti­schen Dif­fe­ren­zen führen.

Dazu gehört somit auch, die/​den ande­ren (die/​das Opfer) gera­de nicht als  als Ver­tre­ter der poli­tisch “ande­ren” wahr­zu­neh­men, son­dern auch (und vor allem) als Men­schen. Erfor­der­lich ist eine Differenzierungsleistung.

4. Schluss

Es ergibt sich somit eine Dif­fe­ren­zie­rung von Deu­tungs­an­ge­bo­ten in Iden­ti­fi­ka­ti­ons­ori­en­tier­tem his­to­ri­schem Ler­nen, die in Lehr- und Lern­pro­zes­sen berück­sich­tigt wer­den muss. Es kann und muss näm­lich nicht nur dar­um gehen, jeweils ein­ein­deu­ti­ge, für alle glei­cher­ma­ßen for­mu­lier­ba­re Schluss­fol­ge­run­gen über das Damals und für das Heu­te und Mor­gen zu zie­hen. Das wür­de der legi­ti­men Plu­ra­li­tät weder des dama­li­gen noch des heu­ti­gen Lebens gerecht. Viel­mehr muss immer auch berück­sich­tigt wer­den, dass und wie die­sel­be Ver­gan­gen­heit für Men­schen unter­schied­li­cher Posi­tio­nen und Per­spek­ti­ven ver­schie­de­nes bedeu­ten kann und wie zugleich nicht iden­ti­sche, son­dern kom­pa­ti­ble gemein­sa­me Schluss­fol­ge­run­gen nötig sind.

Iden­ti­fi­ka­ti­ons-Gegen­stand Ler­ner
(Kom­bi­na­tio­nen mög­lich und wahr­schein­li­cher als ein­ein­deu­ti­ge Zuordnungen)
Täter bzw. ‑nach­fah­ren Opfer bzw. ‑nach­fah­ren Zuschau­er bzw. ‑nach­fah­ren
ohne spe­zi­fi­zier­ten Bezug (evtl.: eini­ge Migranten)
Täter affir­ma­tiv Ein­nah­me der tra­di­tio­nal ver­län­ger­ten Per­spek­ti­ve der Täter(-nachfahren) in nor­ma­ti­ver Hin­sicht: Beschrei­bung, Erklä­rung und Bewer­tung der Vor­gän­ge, Hand­lun­gen, Taten im Denk- und Wert­ho­ri­zont der Täter (apo­lo­ge­tisch, affirmativ). nicht denk­bar (?)
refle­xiv Refle­xi­on auf die eige­nen per­sön­li­chen, fami­liä­ren und kul­tu­rel­len Bezie­hun­gen zu Tätern und der Gesell­schaft der Täter, auf fort­wir­ken­de Ele­men­te die­ser Kul­tur, und auf die Fol­gen die­ser Bezie­hun­gen für das eige­ne Den­ken und Han­deln (etwa: Entlastungswünsche) Ein­la­dung
  • zur Refle­xi­on auf die Ver­bin­dun­gen auch der eige­nen sozia­len, kul­tu­rel­len, reli­giö­sen Wir-Grup­pe zu den Tätern und zur Täter-Kul­tur (tra­di­tio­na­le Sinnbildung: 
    • Inwie­fern sind Vor­stel­lun­gen und Wer­te, die in der Täter-Gesell­schaft gal­ten, auch in meiner/​unserer heu­ti­gen Kul­tur wirk­sam und gültig?
    • Wel­che von ihnen kön­nen oder müs­sen inwie­fern sie als mit-ursäch­lich ange­se­hen werden?
    • Inwie­fern sind eini­ge von ihnen wei­ter­hin vertretbar?)
  • zur Refle­xi­on auf die Loya­li­tä­ten und Iden­ti­fi­ka­tio­nen mit Ange­hö­ri­gen der Täter-Gesell­schaft, die das eige­ne heu­ti­ge Selbst­ver­ständ­nis und das eige­ne Den­ken über den Holo­caust prägen;
  • zur Refle­xi­on auf Erkennt­niss, die aus der Geschich­te des Holo­caust und der Täter für ande­re, aber ver­gleich­ba­re Situa­tio­nen abzu­lei­ten sind: 
    • auf Mög­lich­kei­ten eige­nen ver­gleich­ba­ren Han­delns in ande­ren Zusammenhängen
Ein­la­dung zur Refle­xi­on auf die Struk­tu­ren, Wer­te, Hand­lungs­wei­sen in der dama­li­gen Täter-Gesell­schaft, die die Hand­lun­gen ermög­licht haben, wie auch die Hand­lungs­wei­sen, die zum Weg­schau­en bewo­gen haben.

Refle­xi­on auf die Bedeu­tung der eige­nen Zuge­hö­rig­keit zu Men­schen, die ein­fach “mit­ge­macht” haben für deren und die eige­ne Deu­tung und Bewer­tung der Ereig­nis­se, Struk­tu­ren und Handlungen.

Opfer affir­ma­tiv Ein­la­dung
  • zur kon­tra­fak­ti­schen Iden­ti­fi­ka­ti­on mit den Opfern, zur Beur­tei­lung der Hand­lungs­wei­sen, Struk­tu­ren und Ereig­nis­se aus ihrer Sicht, zur Über­nah­me ihrer Perspektive;
  • zur Aus­blen­dung der eige­nen Prä­gung durch per­sön­li­che, sozia­le, kul­tu­rel­le Ver­bin­dun­gen zu Tätern aus der Refle­xi­on über eige­ne Denk- und Handlungsweisen
Ein­la­dung zur
  • Iden­ti­fi­ka­ti­on in der Logik tra­di­tio­na­ler Sinn­bil­dung: Selbst­po­si­tio­nie­rung in einer als fort­wäh­rend denk­ba­ren Opferrolle.
Ein­la­dung zur Iden­ti­fi­ka­ti­on in der Logik exem­pla­ri­scher Sinn­bil­dung, zum Ver­gleich (bzw. zur Gleich­set­zung) der eige­nen Posi­ti­on in der heu­ti­gen Gesell­schaft mit der­je­ni­gen der Opfer in der dama­li­gen Gesellschaft.
refle­xiv Ein­la­dung
  • zur Refle­xi­on auf die Bedeu­tung der  fami­liä­ren, sozia­len, kul­tu­rel­len Zuge­hö­rig­keit zu Men­schen, die Opfer wur­den, für die eige­ne Sicht­wei­se der Ereig­nis­se, Struk­tu­ren und Handlungen;
  • Refle­xi­on auf die Prä­gung der Wer­te und Hand­lungs­wei­sen sowie der Sicht­wei­sen der eige­nen Grup­pe durch die Opfererfahrung
Mit­läu­fer affir­ma­tiv Ein­nah­me einer Per­spek­ti­ve, die das “Nicht-Mit­ge­tan” haben als hin­rei­chend affir­miert; (ver­meint­li­che oder wirk­li­che) Ein­fluss­lo­sig­keit ‘klei­ner Leu­te’ damals wird als Ent­schul­di­gung affir­miert und mit Ein­fluss­lo­sig­keit auch in der heu­ti­gen Gesell­schaft tra­di­tio­nal ver­bun­den — gera­de auch hin­sicht­lich der Anfor­de­run­gen des Erinnerns
refle­xiv Ein­la­dung zur Refle­xi­on über die Rol­le der “Zuschau­er” und “Mit­läu­fer”
ohne spe­zi­fi­zier­ten Bezug affir­ma­tiv
refle­xiv

 

Anmer­kun­gen /​ Refe­ren­ces
  1. Kin­der und Jugend­li­che — Mit der Reichs­bahn in den Tod[]
  2. Der Tagungs­be­richt unter der alten URL der Pro­jekt­grup­pe “NS-Doku­men­ta­ti­ons­zen­trum Mün­chen” (Zeu­gen­schaft und Erin­ne­rungs­kul­tur. Der künf­ti­ge Umgang mit dem Ver­mächt­nis der Zeit­zeu­gen­ge­ne­ra­ti­on in der Bil­dungs­ar­beit zum Natio­nal­so­zia­lis­mus; 11.5.2009)ist nicht mehr ver­füg­bar. Ein ande­rer Tagungs­be­richt von Kath­rin Koll­mei­er und Tho­mas Rink fin­det sich bei H‑SOZ-KULT: Tagungs­be­richt: Zeu­gen­schaft und Erin­ne­rungs­kul­tur. Der künf­ti­ge Umgang mit dem Ver­mächt­nis der Zeit­zeu­gen­ge­ne­ra­ti­on in der Bil­dungs­ar­beit zum Natio­nal­so­zia­lis­mus, 05.12.2008 Mün­chen, in: H‑Soz-Kult, 08.05.2009, <www​.hsoz​kult​.de/​c​o​n​f​e​r​e​n​c​e​r​e​p​o​r​t​/​i​d​/​t​a​g​u​n​g​s​b​e​r​i​c​h​t​e​-​2​598>. []
  3. So berich­tet in Cha­rim Isol­de: Wah­rer als wahr. Zur Pri­va­ti­sie­rung des Geden­kens. http://​kul​tur​po​li​tik​.t0​.or​.at/​t​x​t​?​t​i​d​=​3​2​f​d​1​5​0​a​8​a​3​a​c​4​5​4​6​a​a​f​6​c​3​8​4​9​8​8​9​5ed[]
  4. FAS: “Arbeit mit Fotos”. http://​www​.fasena​.de/​a​r​c​h​i​v​/​f​o​t​o​s​.​htm mit Bezug auf Abram/​Heyl[]
  5. Astrid Mes­ser­schmidt: “Refle­xi­on von Täter­schaft – his­to­risch-poli­ti­sche Bil­dung in der Ein­wan­de­rungs­ge­sell­schaft“. https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/EGFTN1%5B1%5D_messerschmidt_de.pdf[]
  6. Vgl. etwa Albert von Königs­loew: “Was Kin­der über den Holo­caust erfah­ren sol­len” In: Die blaue Nar­zis­se. 11.2.2008 [Der­zeit nicht mehr online erreich­bar. Er ist noch auf­find­bar in archi​ve​.org. []
  7. “… the­re is no kno­wa­ble past in terms of what “it’ means. The­re is only what we may call the-past-as-histo­ry. […] We can only repre­sent the past through the form we give to its rea­li­ty.” Alan Mun­slow (2002): “Pre­face”. In: Jenk­ins, Keith (2002): Re-Thin­king Histo­ry. Lon­don, New York: Rout­ledge, S. XIV.[]
  8. Es ist daher auch ein Kate­go­rien­feh­ler, wenn Zeit­zeu­gen und in einer frag­li­chen Ver­gan­gen­heit aktiv gehan­delt Haben­de spä­ter Gebo­re­nen oder Hin­zu­ge­kom­me­nen ver­bie­ten wol­len, über die­se Zeit zu urtei­len. Die oft gehör­te Aus­sa­ge “Das könnt Ihr nicht beur­tei­len, weil Ihr nicht dabei gewe­sen seid” ver­kennt (oder unter­schlägt), dass wir gar nicht anders kön­nen, als uns aus spä­te­rer Zeit­li­cher Per­spek­ti­ve ein urteil über die frü­he­re zu machen. Das geht uns allen mit der gan­zen Geschich­te so: Wäre die­se Posi­ti­on vali­de, dürf­te nie­mand heut­zu­ta­ge noch ein Urteil über Napo­le­on fäl­len oder über Karl den Gro­ßen etc. Selbst die Zeit­zeu­gen erzäh­len und urtei­len nicht aus ihrem dama­li­gen Wis­sen und vor dama­li­gen Hin­ter­grund. Auch sie ken­nen die zwi­schen­zeit­li­chen Ereig­nis­se und sehen die Ereig­nis­se inzwi­schen aus ande­rer Per­spek­ti­ve. Die zitier­te For­de­rung negiert dies ledig­lich. Sie kommt einem Ver­bot his­to­ri­schen Den­kens gleich, das nicht nur unzu­läs­sig ist, son­dern über­haupt der Tod der his­to­ri­schen Ori­en­tie­rung wäre.[]
  9. “40.000 Söh­ne der Stadt lie­ßen ihr Leben für Euch” stand und steht auf der Ste­le am Ham­bur­ger Rat­haus­markt, die 1929/​1932 ent­hüllt wur­de. Mit dem ori­gi­na­len, an eine Pie­tà ange­lehn­ten, Reli­ef einer trau­ern­den Frau und Toch­ter von Ernst Bar­lach löst sich die­ses mög­li­cher­wei­se auf in ein “wur­den geop­fert”; mit dem auf­flie­gen­den Adler (bzw. Phoe­nix) von Hans Mar­tin Ruwoldt, den die Natio­nal­so­zia­lis­ten dort anbrin­gen lie­ßen, wer­den aus den 40.000 Hel­den; heu­te ist dort wie­der die “Pie­tà” zu sehen.[]
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Neuerscheinung: Bjerg/​Körber/​Lenz/​v. Wrochem (Eds.; 2014): Teaching Historical Memories

12. Februar 2014 Andreas Körber Keine Kommentare

Bjerg, Hel­le; Kör­ber, Andre­as; Lenz, Clau­dia; von Wro­chem, Oli­ver (2014; Eds.): Tea­ching His­to­ri­cal Memo­ries in an Inter­cul­tu­ral Per­spec­ti­ve. Con­cepts and Methods. Expe­ri­en­ces and Results from the Teac­Mem Pro­ject. Ber­lin: Metro­pol (Neu­en­gam­mer Kol­lo­qui­en; 4); ISBN: 9783863311148. Darin:

  • Kör­ber, Andre­as: “His­to­ri­cal Thin­king and His­to­ri­cal Com­pe­ten­ci­es as Didac­tic Core Con­cepts”; pp. 69 – 96.
  • Kör­ber, Andre­as “De-Con­s­truc­ting Memo­ry Cul­tu­re.” pp. 145 – 150.

 

 

 

In die­ser Woche ist eine Publi­ka­ti­on erschie­nen, an wel­cher Mit­glie­der des Arbeits­be­reichs betei­ligt waren:

Bjerg, Helle/​Körber, Andreas/​Lenz, Clau­dia et al. (Hg.) (2014): Tea­ching His­to­ri­cal Memo­ries in an Inter­cul­tu­ral Per­spec­ti­ve. Con­cepts and Methods (= Neu­en­gam­mer Kol­lo­qui­en, Band 4), Berlin.

Bjerg/Körber/Lenz/von Wrochem (Eds.; 2014)

Vgl. auch: Blog-Ein­trag im Blog des Pro­jects TeacMem

Der Erste Weltkrieg im Geschichtsunterricht — aber wie?

02. Februar 2014 Andreas Körber Keine Kommentare

“Der Ers­te Welt­krieg ist fes­ter Bestand­teil des Geschichts­un­ter­richts. Die dabei ver­folg­ten Lern­zie­le haben sich im Lau­fe der Zeit immer mehr von kon­kre­ten ereig­nis- und ver­laufs- ori­en­tier­ten Inhal­ten hin zu dem Anlie­gen ent­wi­ckelt, das Lei­den der Men­schen und den men­schen­ver­ach­ten­den Cha­rak­ter des neu­ar­ti­gen Krie­ges in den Mit­tel­punkt zu stel­len. Eine sol­che Per­spek­ti­ve lässt viel­fäl­ti­ge kul­tur­ge­schicht­li­che Fra­ge­stel­lun­gen zu, die neue Her­an­ge­hens­wei­sen bei der Aus­ein­an­der­set­zung mit der Ver­gan­gen­heit und ihren his­to­ri­schen Akteu­ren erfordern.”

Mit die­sen Wor­ten eröff­net das LVR-Indus­trie­mu­se­um Ober­hau­sen die Ankün­di­gung einer Fort­bil­dung, die sich an “Unter­rich­ten­de[.] des Faches Geschich­te aller Aus­bil­dungs­pha­sen und Qua­li­fi­ka­ti­ons­stu­fen” rich­tet, mit dem Ziel, ihnen “aktu­el­le For­schung und die Arbeit mit neu­en Quel­len zu aus­ge­wähl­ten The­men zunächst in Fach­vor­trä­gen vor­zu­stel­len” und in “anschlie­ßen­den Work­shops” gemein­sam mit ihnen “Umset­zungs­mög­lich­kei­ten im Unter­richt” zu reflek­tie­ren, wobei “Fra­ge­stel­lun­gen, Zugän­ge und Metho­den dis­ku­tiert und Mate­ria­li­en prä­sen­tiert” wer­den, “die geeig­net sind, den Schü­le­rin­nen und Schü­lern neue und span­nen­de Facet­ten his­to­ri­scher Lebens­wel­ten zu erschließen.”

Die For­mu­lie­rung weist — inso­fern sie nicht die didak­ti­sche Dis­kus­si­on, son­dern die Rea­li­tät des Geschichts­un­ter­richts und sei­ner Ent­wick­lung zutref­fend beschreibt — auf einen nicht gering zu schät­zen­den, son­dern zu unter­stüt­zen­den Fort­schritt im Geschichts­ler­nen hin und ist gar noch zurück­hal­tend for­mu­liert. Die “kon­kre­ten ereig­nis- und ver­laufs-ori­en­tier­ten Inhal­te” waren ja oft­mals nicht Aus­druck einer Ori­en­tie­rung an wis­sen­schaft­li­cher Neu­tra­li­tät und Objek­ti­vi­tät, son­dern — neben eben­so zu fin­den­den mani­fest feind­se­li­gen Instru­men­ta­li­sie­run­gen — viel­mehr Instru­ment einer Natio­nal­erzie­hung mit­tels “Ver­mitt­lung” der in natio­na­len Kate­go­rien als die “eige­ne” gese­hen Auf­fas­sung im Gewan­de einer betont sach­li­chen Darstellung.

Nicht zuletzt durch die schon in der Zwi­schen­kriegs­zeit ein­set­zen­den (damals noch zeit­lich wie sozi­al nur begrenzt wirk­sa­men) Bemü­hun­gen um eine “Ent­gif­tung” der Schul­buch­dar­stel­lun­gen (damals von Sieg­fried Kawer­au, nach dem Zwei­ten Welt­krieg von Georg-Eckert in dem von ihm auf­ge­bau­ten und im spä­ter nach ihm benann­ten Schul­buch­in­sti­tut vor­an­ge­trie­ben), aber auch durch die sozi­al­his­to­ri­sche Kri­tik am his­to­ri­schen Den­ken des deut­schen Idea­lis­mus (Georg Iggers) und schließ­lich durch Bemü­hun­gen vie­ler sozi­al- wie all­tags­his­to­risch ori­en­tier­ter Didak­ti­ker und Lehrer.

Gleich­wohl — mit den dabei zu Recht abge­lehn­ten und hof­fent­lich in der Tat wei­test­ge­hend über­wun­de­nen natio­nal- eth­no­zen­tri­schen Kon­zep­ten haben auch die in der Fort­bil­dungs­an­kün­di­gung erwähn­ten und in der Ver­an­stal­tung in kul­tur­wis­sen­schaft­li­cher Rich­tung fort­zu­schrei­ben­den didak­ti­schen Kon­zep­te gemein­sam, dass in ihnen eine bestimm­te Deu­tung und Wer­tung den Ler­nen­den prä­sen­tiert, mit Mate­ria­li­en plau­si­bel, metho­disch auf­ge­schlos­sen, in den bes­ten Fäl­len auch zur Refle­xi­on eröff­net wird. Die­ser letzt­lich — in der Ter­mi­no­lo­gie des FUER-Kom­pe­tenz­mo­dells — “re-kon­struk­ti­ve” Zugriff ist — das sei noch ein­mal betont — rich­tig und wich­tig. Er wird zudem gera­de auch ange­sichts der erwei­ter­ten Mög­lich­kei­ten durch die neu­en Medi­en nicht nur inhalt­lich, son­dern auch metho­disch vor­an­ge­trie­ben wer­den (müs­sen), wie der­zeit etwa unter ande­rem (mit Bezug auf die Euro­pea­na 1914 – 1928-Samm­lung) Dani­el Bern­sen in sei­nem Blog argu­men­tiert: (“Working with the Euro­pea­na 1914 – 18 coll­ec­tions in the histo­ry class­room – Part 1/​3: Scar­ci­ty vs. abun­dance.” In: Medi­en im Geschichts­un­ter­richt 1.2.2014)

Aber es reicht mei­nes Erach­tens nicht aus. Gera­de die der­zeit wie­der leb­haf­te Debat­te (nicht nur) in Eng­land und Deutsch­land um Ursa­che und Schuld am Ers­ten Welt­krieg, die ja gera­de nicht mehr allein eine Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen einer “deut­schen” und einer “eng­li­schen” Posi­ti­on ist und auch nicht mit den Kate­go­rien einer “lin­ken” vs. einer kon­ser­va­ti­ven Geschichts­schrei­bung und ‑inter­pre­ta­ti­on erschlos­sen wer­den kann, die die “natio­na­len” Per­spek­ti­ven und Posi­tio­nen über­la­gern wür­den, son­dern bei wel­cher höchst aktu­el­le Vor­stel­lun­gen über die Euro­päi­sche Uni­on, die Rol­le Deutsch­lands in Euro­pa eine Rol­le spie­len, ver­deut­licht, dass es bei Geschich­te (zumal “in der Gesell­schaft”) nie allein um Aspek­te der “ver­gan­ge­nen Lebens­wel­ten” geht, auch wenn es inno­va­ti­ve und sol­che sind, wel­che huma­nis­ti­sche Kri­te­ri­en anwenden.

Nötig ist viel­mehr (nicht als Ersatz, aber als Ergän­zung) der genann­ten inno­va­ti­ven Ansät­ze die (de-kon­struk­ti­ve) The­ma­ti­sie­rung der öffent­li­chen Dis­kus­sio­nen um die Ver­gan­gen­heit, die ihr zuge­wie­se­ne Bedeu­tung und die Deu­tun­gen, die ihr zuteil wer­den. Dabei muss mehr und ande­res in den Blick kom­men und als Mate­ri­al zur deu­ten­den und urtei­len­den Erschlie­ßung bereit­ge­stellt wer­den als mög­lichst ein­deu­ti­ge und gut erschließ­ba­re Quel­len und Dar­stel­lun­gen. Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät ist dann — wie es die didak­ti­sche Theo­rie seit lan­gem for­dert — mehr als ein Mit­tel zur best­mög­li­chen Annä­he­rung an die ver­gan­ge­ne Wirk­lich­keit und ihre Kom­ple­xi­tät, son­dern wird als Merk­mal das gesell­schaft­li­chen Geschichts­de­bat­te selbst unhintergehbar.

Da glei­che gilt aber wie­der­um für die zeit­li­che, die his­to­ri­sche Dimen­si­on: Eine gewis­ser­ma­ßen nur zwei Zeit­ebe­nen in den Blick (“damals” und “heu­te”) neh­men­de Auf­be­rei­tung reicht nicht aus, viel­mehr müs­sen die heu­ti­gen Posi­tio­nen und Per­spek­ti­ven in Rela­ti­on gesetzt wer­den zu sol­chen meh­re­rer Zeit­ebe­nen seit dem the­ma­ti­sier­ten Ereig­nis. Die Arti­kel der gegen­wär­ti­gen Debat­te (also etwa der Bei­trag von Geppert/​Neitzel/​Stephan/​Weber mit den Ant­wor­ten von Ull­rich und/​oder Her­zin­ger, aber auch die von bzw. über Micha­el Gove, Tri­st­ram Hunt, Boris John­son, Richard Evans) — samt ihren Bezü­gen auf­ein­an­der — bil­de­ten somit nur eine “Schicht” des rele­van­ten Mate­ri­als. Dazu gehö­ren dann — als eine wei­te­re Schicht — auch rele­van­te Aus­zü­ge der “Fischer-Kon­tro­ver­se”, und — nicht zuletzt — expli­zi­te Refle­xio­nen der ver­wen­de­ten Kon­zep­te und Begriffe.

Geschichts- und Erinnerungspolitik im Bundestag in der Kritik (zu Recht)

14. Februar 2011 Andreas Körber Keine Kommentare

Geschichts- und Erin­ne­rungs­po­li­tik sind nichts Anrü­chi­ges — zumin­dest nicht, wenn die Begrif­fe die Tat­sa­che bezeich­nen, dass in Gesell­schaf­ten immer und not­wen­dig um his­to­ri­sche Deu­tun­gen und ihre Rele­vanz im öffent­li­chen Geden­ken gerun­gen wird, um ihre Ein­heit­lich­keit und Ver­bind­lich­keit bzw. ihre Offen­heit und Plu­ra­li­tät (Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät, Kon­tro­ver­si­tät) wie die die­sen Ori­en­tie­rungs- und Ver­stän­di­gungs­pro­zes­sen zu Grun­de lie­gen­den Struk­tu­ren, die dabei genutz­ten Ver­fah­ren, Instru­men­te usw.

Die­se Ein­sicht in die Legi­ti­mi­tät und Not­wen­dig­keit einer gesell­schaft­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung um Ver­gan­gen­heit und ihre (Be-)Deutung(en) ist das eine. Sie darf aber nicht dazu ver­füh­ren, das, was auf die­sem Poli­tik­feld (Geschichts­po­li­tik als poli­ty) geschieht, immer nur distan­ziert zu betrach­ten — im Gegen­teil: gera­de die Ein­sicht in die­se Not­wen­dig­keit und Legi­ti­mi­tät ruft dazu auf, sich aktiv an die­ser Aus­ein­an­der­set­zung zu betei­li­gen mit eige­nen Geschichts­po­li­ti­ken (poli­ci­es), und ande­re zu kri­ti­sie­ren und (natür­lich im Rah­men der plu­ra­len Ori­en­tie­rung) zu bekämpfen.

Dass um Geschich­te gerun­gen und gestrit­ten wird, ist also ein gutes Zei­chen. Ein­zel­ne (oder auch vie­le) dabei ver­tre­te­nen Deu­tun­gen und Inter­pre­ta­tio­nen sind oft­mals hoch pro­ble­ma­tisch — und zwar nicht nur in dem Sin­ne, dass sie “fal­sche” Dar­stel­lun­gen der eigent­lich rich­tig erkenn­ba­ren Ver­gan­gen­heit wären, son­dern gera­de weil ihnen poli­ti­sche Inter­es­sen eben­so zu Grun­de lie­gen wie Erkennt­nis­mög­lich­kei­ten und per­spek­ti­ven. Geschichts­po­li­tik ist so das­je­ni­ge Feld, in dem his­to­ri­sche Denutun­gen sowohl in ihrer Bin­dung an die Mög­lich­kei­ten der Erkennt­nis, an die nor­ma­ti­ven Qua­li­täts­kri­te­ri­en his­to­ri­scher Re-Kon­struk­ti­on und Inter­pre­ta­ti­on und an die hete­ro­ge­nen sozia­len, kul­tu­rel­len, poli­ti­schen und wei­te­re Per­spek­ti­ven und Inter­es­sen­la­gen the­ma­tisch wer­den. Sie kön­nen und müs­sen selbst zum Gegen­stand von Unter­su­chung und Ana­ly­se (“De-Kon­struk­ti­on”) wer­den — wie zum gegen­stand poli­ti­scher Aus­ein­an­der­set­zung. Dass die Geschichts­po­li­tik wie die Dis­zi­plin der Zeit­ge­schich­te  geprägt wird von der unauf­lös­ba­ren Ver­bin­dung von gefor­der­ter wis­sen­schaft­li­cher Distanz der Ana­ly­se einer- und der je eige­nen poli­ti­schen Per­spek­ti­ve ande­rer­seits, muss immer mit bedacht wer­den, soll­te aber kein Grund sein, die­ses Feld nur Exper­ten zu über­las­sen. — im Gegen­teil: Geschichts­un­ter­richt muss die­se Kom­ple­xe expli­zit ein­be­zie­hen, will er Ler­nen­de dazu befä­hi­gen, an der heiti­gen Gesell­schaft aktiv und pas­siv teilzuhaben.

In die­sem Sin­ne ist die aktu­el­le Kon­tro­ver­se um “Flucht und Ver­trei­bung”, um das geplan­te Denk­mal und Zen­trum für/​gegen Ver­trei­bun­gen und ganz aktu­ell um den aktu­el­len Beschluss des Deut­schen Bun­des­ta­ges, den 5. August als “Ver­trie­be­nen-Gedenk­tag” ein­zu­rich­ten, zu begrü­ßen — macht sie doch die ver­schie­de­nen Sicht­wei­sen und Inter­es­sen an der Geschich­te in unse­rer Gesell­schaft erst sicht­bar (wie übri­gens all die gleich­zei­tig und ver­setzt ablau­fen­den Debat­ten und Kon­tro­ver­sen um die Erin­ne­rung an die Bom­ben­an­grif­fe auf Dres­den, usw.).

Aus didak­ti­scher Per­spek­ti­ve ist die­se Debat­te also zu begrü­ßen und zu the­ma­ti­sie­ren. Unbe­scha­det davon ist es natür­lich not­wen­dig, in die­ser Fra­ge selbst Stel­lung zu bezie­hen. In die­sem Sin­ne haben gemäß heu­ti­gen Pres­se­be­rich­ten eine Rei­he nam­haf­ter deut­scher His­to­ri­ker zusam­men mit eini­gen Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen aus ande­ren Län­dern den Bun­des­tags­be­schluss kri­ti­siert. Die­ser Kri­tik ist m.E. in vol­lem Umfan­ge zuzu­stim­men. Dem anzu­er­ken­nen­den Bedürf­nis von Ver­trie­be­nen und Ange­hö­ri­gen nach Geden­ken und Erin­ne­run­gen kann und muss auf ande­re Art und Wei­se Rech­nung  getra­gen wer­den als mit einer Sym­bo­lik, die einer Gleich­set­zung von “Flucht und Ver­trei­bung” mit dem Holo­caust gleichkommt.

Neuer Artikel zu interkulturellem Geschichtslernen

01. November 2010 Andreas Körber Keine Kommentare

Auf dem ers­ten “Neu­en­gam­mer Kol­lo­qui­um” habe ich einen Vor­trag zum his­to­ri­schen Ler­nen an Gedenk­stät­ten gehal­ten. Er ist in der Doku­men­ta­ti­on der Tagung erschienen:

 

Kör­ber, Andre­as (2010): “Zeit­ge­mä­ßes schu­li­sches Geschichts-Ler­nen in Gedenk­stät­ten.” In: Wro­chem, Oli­ver v. u.a. (Hgg: 2010): Das KZ Neu­en­gam­me und sei­ne Außen­la­ger. Geschich­te, Nach­ge­schich­te, Erin­ne­rung, Bil­dung. Ber­lin: Metro­pol (Neu­en­gam­mer Kol­lo­qui­en; 1); <a href=“https://portal.dnb.de/opac.htm?query=9783940938879&method=simpleSearch”>ISBN: 9783940938879</a>; S. 392 – 413.

Vorgestellt: Konzeptionelle Überlegungen für die geplante Ausstellung über Flucht und Vertreibungen

10. September 2010 Andreas Körber Keine Kommentare

Ges­tern wur­de in Ber­lin offi­zi­ell das Kon­zept­pa­pier “Kon­zep­tio­nel­le Über­le­gun­gen für die Aus­stel­lun­gen der »Stif­tung Flucht, Ver­trei­bung, Ver­söh­nung«” vor­ge­stellt. Damit geht gewis­ser­ma­ßen — gleich­zei­tig “über­schat­tet” bzw. “beleuch­tet” von der erneu­er­ten Debat­te um Revan­chis­mus und Rela­ti­vis­mus um Frau Stein­bach — die Aus­ein­an­der­set­zung um die geplan­te Aus­stel­lung und das “Zen­trum für Ver­trei­bun­gen” in eine neue Run­de, den nun liegt ein ers­tes “offi­zi­el­les” Papier vor, das sich als Anstoß zu einer Debat­te versteht.

Beglei­tet wird die­se neue Pha­se von einer auch orga­ni­sier­ten Debat­te in einem Forum von H‑SOZ-U-KULT, die hier zu fin­den ist: http://​hsoz​kult​.geschich​te​.hu​-ber​lin​.de/​f​o​r​u​m​/​t​y​p​e​=​d​i​s​k​u​s​s​i​o​n​e​n​&​i​d​=​1​351.

Das erwähn­te Kon­zept­pa­pier ent­hält auch (als 6.) ein Kapi­tel über Ziel­grup­pen und “geschichts­di­dak­ti­sche Ziel­set­zun­gen” der zu kon­zi­pie­ren­den und in ihm selbst zunächst grob kon­zi­pier­ten Aus­stel­lung. An der Erar­bei­tung hat jedoch wie­der kein Geschichts­di­dak­ti­ker betei­ligt gewe­sen — wohl auch gar nicht erst gefragt wor­den: Die Autoren sind mit Prof. Dr. Mar­tin Schul­ze Wes­sel ein Ost­eu­ro­pa­his­to­ri­ker an der LMU, Dr. K. Erik Fran­zen (Wiss. Mit­ar­bei­ter am Col­le­gi­um Caro­li­num) ein Exper­te für Böh­mi­sche Geschich­te, Prof. Dr. Clau­dia Kraft (Erfurt) eine Exper­tin für pol­ni­sche Geschich­te und deutsch-pol­ni­sche Bezie­hun­gen, Prof. Dr. Ste­fa­nie Schü­ler-Spring­orum (Ham­burg) eine Exper­tin für jüdi­sche Geschich­te, PD Dr. Vol­ker Zim­mer­mann (Prag) ein Exper­te für die Geschich­te der Suden­ten­deut­schen, sowie Dr. Mar­tin Zückert (Col­le­gi­um Caro­li­num, Mün­chen) ein wei­te­rer Exper­te für tsche­chi­sche Geschich­te. Aus dem Bereich der Geschichts­di­dak­tik ist mit Tim Völ­ke­ring ledig­lich der Autor einer – wenn auch sehr posi­tiv auf­ge­nom­me­nen – Staats­examens­ar­beit über zwei Aus­stel­lun­gen zum gege­be­nen The­men­be­reich ver­tre­ten, der offen­kun­dig zur Zeit an einer Dis­ser­ta­ti­on zum The­ma arbeitet.

Damit bestä­tigt sich der damals auf die Erstel­lung der neu­en Dau­er­aus­stel­lung des DHM in Ber­lin bezo­ge­ne Befund Mar­tin Sab­rows von 2005 über die Mar­gi­na­li­sie­rung der Geschichts­di­dak­tik 1.

Damals haben die geschichts­di­dak­ti­schen Reak­tio­nen auf die rea­li­sier­te Aus­stel­lung dann jedoch durch­aus gezeigt, dass geschichts­di­dak­ti­sche Gesichts­punk­te sehr wert­voll gewe­sen wären. 2.

Mit die­sen Hin­wei­sen soll nicht gesagt sein, dass die im erwähn­ten Kapi­tel 6 nie­der­ge­leg­ten didak­ti­schen Über­le­gun­gen (u.a. ein Hin­weis auf Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät, Über­le­gun­gen zur Frra­ge, wie die­ser Gegen­stand gegen­über Immi­gran­ten ‘ver­mit­telt’ wer­den kann usw.) zu kri­ti­sie­ren seien.

Den­noch sei aber ange­regt, in einer Haus­ar­beit das Kon­zept­pa­pier und die fol­gen­de Dis­kus­si­on (ggf. im Ver­gleich mit sol­chen ande­rer Aus­stel­lun­gen zum glei­chen oder ande­ren The­men) ein­mal einer geschichts­di­dak­ti­schen Ana­ly­se zu unter­zie­hen und didak­tisch zu kommentieren:

Gefragt wer­den könn­te etwa (u.a.)

  • danach, wel­cher Geschichts­be­griff sich im Aus­stel­lungs­kon­zept niederschlägt: 
    • Wird ver­sucht, mit Hil­fe der Aus­stel­lung ein (wie auch immer lücken­haf­tes) Bild der his­to­ri­schen Wirk­lich­keit zu prä­sen­tie­ren — qua­si los­ge­löst von der gegen­wär­ti­gen Perspektive?
    • Oder erscheint die Geschich­te von Flucht und Ver­trei­bung hier als Ergeb­nis eines spe­zi­fi­sche gegen­wär­ti­gen, von den Debat­ten der seit­her ver­gan­ge­nen Zeit gepräg­ten und geschäf­ten (aber auch fokus­sier­ten) Bli­ckes in die Vergangenheit?
    • Ist Geschich­te im Kon­zept eher die iden­ti­täts­abs­trak­te, deu­tungs- und wer­tungs­neu­tra­le Re-Kon­struk­ti­on eines gege­be­nen his­to­ri­schen Zusam­men­hangs, auf dem kon­tro­ver­se Deu­tun­gen, Wer­tun­gen und Zuschrei­bun­gen, iden­ti­täts­kon­kre­te und hei­ße Erin­ne­run­gen erst auf­bau­en müs­sen, bzw. an dem sie sich zu mes­sen haben?
    • Oder erscheint Geschich­te als ein Kom­plex aus sowohl fachwissenschaftlich-“objektiv” rekon­stru­ier­ba­ren und rekon­stru­ier­ten “Fak­ten” und Zusam­men­hän­gen und die­se eben­so durch­set­zen­den Erin­ne­run­gen, bedeu­tungs­ge­la­de­nen Geschich­ten (im Plural)
  • Gefragt wer­den kann also danach, wel­che Qua­li­tät “Geschich­te” hat und wel­che Funktion(en) wer­den ihr hier zuge­wie­sen wer­den. Geht es 
    • vor­nehm­lich um Infor­ma­ti­on, um Prä­sen­ta­ti­on gesi­cher­ten Wis­sens, etwa als Bei­trag zur Ver­sach­li­chung einer als davon deut­lich geschie­de­nen ver­stan­de­nen gesell­schaft­li­chen Debatte?
    • vor­nehm­lich um die Prä­sen­ta­ti­on von Iden­ti­fi­ka­ti­ons­an­ge­bo­ten, also um die Prä­sen­ta­ti­on einer oder meh­re­rer an spe­zi­fi­sche Deu­tun­gen ange­la­ger­te Deu­tun­gen, wie die Geschich­te von Flucht und Ver­trei­bung in der heiti­gen Gesell­schaft gese­hen wer­den kann?
    • um die Prä­sen­ta­ti­on der gesell­schaft­li­chen Deu­tun­gen zum The­ma Flucht und Ver­trei­bung in ihrer Viel­falt und Kon­tro­ver­si­tät — gewis­ser­ma­ßen als Bei­trag zur Ori­en­tie­rung in der Debatte?
  • gefragt wer­den kann nach dem Ver­hält­nis von Aus­stel­lung und Didaktik: 
    • Inwie­weit wird der Didak­tik im Aus­stel­lungs­kon­zept eine “nach­ge­la­ger­te” Auf­ga­be der Ver­mitt­lung des in der Aus­stel­lung prä­sen­tier­ten Wis­sens (bzw. der Deu­tun­gen) zuge­wie­sen? Inwie­weit geht es bei den didak­ti­schen Über­le­gun­gen um die Didak­ti­sie­rung der gege­be­nen Aus­stel­lung duch Füh­run­gen, Arbeits­ma­te­ria­li­en etc.
    • inwie­weit bezie­hen sich die didak­ti­schen Über­le­gun­gen auf die media­le und metho­di­sche Gestal­tung der aus­stel­lung, also etwa auf die Anordung der The­men und Aus­sa­gen, die media­le Prä­sen­ta­ti­on (etwa die Ent­schei­dung für schrift­li­che, bild­li­che Quel­len, Zeit­zeu­gen­prä­sen­ta­tio­nen, für Inter­ak­ti­vi­tät und Multimedialität?
    • inwie­weit sind Prä­sen­ta­ti­ons­grund­sät­ze didak­tisch legi­ti­miert — etwa hin­sicht­lich nicht nur mul­ti­per­spek­ti­vi­scher Aus­wahl son­dern auch kon­tro­ver­ser Prä­sen­ta­ti­on, hin­sicht­lich des ange­nom­me­nen Besu­chers etc.
    • inwie­weit wird die Aus­stel­lung selbst als didak­ti­sche Ver­an­stal­tung ver­stan­den — inwie­weit flie­ßen also didak­ti­sche Über­le­gun­gen nicht nur in die Prä­sen­ta­ti­on, son­dern in die Aus­wahl der zu prä­sen­tie­ren­den The­men und Per­spek­ti­ven ein etc.
    • wel­che Zie­le der Ver­an­stal­tung “Aus­stel­lungs­be­such” für unter­schied­li­che Ziel­grup­pen wer­den anti­zi­piert und bedient, zurück­ge­wie­sen, oder dia­lo­gisch bearbeitet?
  • Gefragt wer­den kann danach, wie die Aus­stel­lungs­ma­cher sich die Besu­cher vor­stel­len, und zwar sowohl hin­sicht­lich der Ziel­grup­pen (dazu gibt Kap. 6 eini­ges her) als auch nach den anti­zi­pier­ten oder aber gar geplan­ten Akti­vi­tä­ten beim Ausstellungsbesuch: 
    • Wird der Besu­cher eher als pas­si­ver Kon­su­ment gedacht, der in der Aus­stel­lung eine eher rezep­ti­ve Rol­le gegen­über prä­sen­tier­tem his­to­ri­schen Sinn einnimmt?
    • Wird er als ein eher aktiv nach eige­nen Kri­te­ri­en und Fra­gen die prä­sen­tier­ten Infor­ma­tio­nen auf- und zusam­men­su­chend sowie aus ihnen und sei­nem Vor­wis­sen neue Fra­gen und Vor­stel­lun­gen gene­rie­rend vorgestellt?
    • Gibt es Über­le­gun­gen dazu, ob Erwar­tun­gen und Ansprü­che der Besu­cher (wel­cher Art auch immer) eher bedient oder eher auf­ge­bro­chen wer­den sol­len: Will die Aus­stel­lung etwa einen als pas­siv-rezi­pie­rend gedach­ten Besu­cher eher mit einer kor­rek­ten, aber in sich geschlos­se­nen Geschich­te “ver­sor­gen” — oder soll ihm eher zuge­mu­tet wer­den, mit zuein­an­der in Span­nung ste­hen­den Expo­na­ten selbst­stän­dig umzugehen?
  • Gefragt wer­den kann nach der “Umset­zung” von didak­ti­schen Prinzipien: 
    • Wie wird im Aus­stel­lungs­kon­zept etwa das Prin­zip der “Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät” ver­stan­den und umgesetzt? 
      • Wird dar­un­ter aus­schließ­lich oder vor­nehm­lich die Prä­sen­ta­ti­on von Doku­men­ten ver­stan­den, wel­che unter­schied­li­che Hand­lungs- und Lei­dens (all­ge­mei­ner: Beteiligungs-)positionen im dama­li­gen Gesche­hen und unter­schied­li­che Wahr­neh­mun­gen, Deu­tun­gen und Bewer­tun­gen des­sel­ben durch damals Betei­lig­te (sei es in Form zeit­ge­nös­si­scher Quel­len, sei es in Form spä­te­rer Zeit­zeu­gen­do­ku­men­te) verstanden?
      • betrifft das Kon­zept der Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät auch die expli­zi­te Gegen­über­stel­lung von unter­schied­li­chen Deu­tun­gen und Wer­tun­gen aus spä­te­rer Zeit — etwa durch His­to­ri­ker, unter­schied­li­che poli­ti­sche und gesell­schaft­li­che Grup­pen oder gar “Lager”, durch His­to­ri­ker und Betrof­fe­ne der unter­schied­li­chen betei­lig­ten “Natio­nen”, “Völ­ker”, “Volks­grup­pen” usw. (“Kon­tro­ver­si­tät”)
      • Eröff­net die Aus­stel­lung gemäß dem Kon­zept die Mög­lich­keit (for­dert sie ihm viel­leicht gar ab), zu bestimm­ten Fra­gen ein eige­nes, die eige­ne Per­spek­ti­ve beto­nen­en­des Urteil zu bil­den. Schafft sie somit Platz und Raum für Plu­ra­li­tät — und fängt sie die­se Plu­ra­li­tät inso­fern ein, als dass sie dem Besu­cher, der so zu eige­nem Urtei­len ermun­tert wür­de, die ehr­li­che, ver­ste­hen­de, aner­ken­nen­de Aus­ein­an­der­set­zung mit ande­ren Sicht­wei­sen nicht nur ermög­licht, son­dern eben­so abver­langt. Schafft die Aus­stel­lung eine “Per­spek­ti­ve­n­er­wei­te­rung”?
      • Erscheint die­se Kon­tro­ver­si­tät (wenn sie denn berück­sich­tigt ist) als Anhäng­sel, wel­ches (viel­leicht gegen Ende der Aus­stel­lung, wie bei der Ber­li­ner Aus­stel­lung zum Hei­li­gen Römi­schen Reich Deut­scher Nati­on) erst am Aus­gang, qua­si als Kom­men­tar zur “Ver­ar­bei­tung” prä­sen­tiert wird — oder wer­den unter­schied­li­che Sicht­wei­sen und Urtei­le so sicht­bar gemacht, dass sie dem Besu­cher neue Fra­gen öff­nen, mit denen er die Aus­stel­lung dann (neu) betrach­ten kann?
Anmer­kun­gen /​ Refe­ren­ces
  1. Mar­tin Sab­row, Nach dem Pyr­rhus­sieg. Bemer­kun­gen zur Zeit­ge­schich­te der Geschichts­di­dak­tik, in: Zeit­his­to­ri­sche Forschungen/​Studies in Con­tem­po­ra­ry Histo­ry, Online-Aus­ga­be, 2 (2005), H. 2, URL:, Abschnitt 2[]
  2. vgl. etwa die Bei­trä­ge von Uwe Danker/​Astrid Schwa­be und Karl-Hein­rich Pohl/​Katja Köhr in GWU 58 (2007) sowie SCHNEIDER, GERHARD (2007): “Kon­ven­tio­nell und kor­rekt – Zur Eröff­nung der Dau­er­aus­stel­lung des Deut­schen His­to­ri­schen Muse­ums Ber­lin (DHM).” In: Zeit­schrift für Geschichts­di­dak­tik 6; S. 232 – 242.[]
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Sinnbildungsmuster und Triftigkeiten — eine Fingerübung aus einer Klausur

26. Juli 2010 Andreas Körber Keine Kommentare

Auf­ga­be 1. Unter­su­chen Sie (mit kur­zer Begrün­dung) den fol­gen­den Text auf den­­/​die in ihm erkennbare(n) Sinnbildungstyp(en)!

M1 1

“1954 wird in den USA das Unter­neh­men McDo­nalds gegrün­det. Kurz dar­auf wird Deutsch­land – Weltmeister.
1974 – der Bic­Mac fei­ert sei­nen ers­ten Geburts­tag in Deutsch­land. Kurz dar­auf wird Deutsch­land – Weltmeister.
1990 baut McDo­nalds das ers­te Restau­rant in Ost­deutsch­land. Kurz dar­auf wird Deutsch­land – Weltmeister.
2010 führt McDo­nalds den McWrap ein. Den Rest kön­nen Sie sich ja vorstellen.”
McDo­nalds Wer­bung 2010. Zitiert nach http://​www​.you​tube​.com/​w​a​t​c​h​?​v​=​j​b​9​V​x​m​U​d​N​K​w​&​f​e​a​t​u​r​e​=​p​l​a​y​e​r​_​e​m​b​e​d​ded (gele­sen 31.5.2010).

Mus­ter­lö­sung
In dem Text ist min­des­tens eine exem­pla­ri­sche Sinn­bil­dung erkenn­bar, inso­fern aus meh­re­ren Bei­spie­len des Zusam­men­tref­fens zwei­er Ereig­nis­se zu unter­schied­li­chen Zeit­punk­ten eine Regel abge­lei­tet wird, die auf die Gegen­wart über­tra­gen wird: Immer wenn die Fir­ma McDo­nalds eine Inno­va­ti­on ein­führt, wird Deutsch­land Welt­meis­ter. Ansatz­wei­se lässt sich auch eine tra­di­tio­na­le Sinn­bil­dung erken­nen bzw. kon­stru­ie­ren, inso­fern die Exis­tenz der Fir­ma McDo­nalds als Bedin­gung für das Welt­meis­ter-Wer­den der Deut­schen Natio­nal­mann­schaft ange­führt wer­den könn­te und somit ein Fort­be­stand der Fir­ma und gar ihr Pro­spe­rie­ren gewünscht wer­den könn­te. Eine gene­ti­sche Sinn­bil­dung kann ich nicht erken­nen, da etwa eine Qua­li­täts­stei­ge­rung nicht behaup­tet wird. Das wäre anders, wenn irgend­wie dar­ge­legt wür­de, dass Deutsch­land immer öfter, immer siche­rer, immer leich­ter Welt­meis­ter wür­de, oder wenn eine Rei­he von a) ers­ter Qua­li­fi­ka­ti­on über b) Teil­nah­me an der End­run­de, c) Viertel‑, d) Halb- und e) Final­teil­nah­me bis zum f) Welt­meis­ter­ti­tel kon­stru­iert wor­den und die­se an die Bedin­gung einer Tätig­keit von McDo­nalds geknüpft wor­den wäre.

Auf­ga­be 2. Skiz­zie­ren Sie Mög­lich­kei­ten, den Gel­tungs­an­spruch der der Aus­sa­ge in M1  zu prü­fen und ihn ggf. zu erhöhen!

Mus­ter­lö­sung

Gel­tungs­an­sprü­che von his­to­ri­schen Aus­sa­gen wer­den geprüft, indem ihre Trif­tig­kei­ten geprüft wer­den. Sie wer­den erhöht, indem die Trif­tig­kei­ten gestei­gert wer­den. Jede Geschich­te kann/​muss in jeder der drei Dimen­sio­nen “trif­tig” sein. Nach RÜSEN gibt es drei Trif­tig­keits­di­men­sio­nen: empi­ri­sche, nor­ma­ti­ve und narrative.

  1. Empi­ri­sche Trif­tig­keit: Die empi­ri­sche Trif­tig­keit betrifft den Erfah­rungs­ge­halt der Geschich­te. Es müss­te zunächst geprüft wer­den, ob Deutsch­land tat­säch­lich 1954, 1974, 1990 Welt­meis­ter gewor­den ist. Das ist ange­sichts der ver­brei­te­ten Eupho­rie wohl nicht sys­te­ma­tisch nötig, wäre aber mög­lich (die Bil­der im Video haben die wenn auch nicht hin­rei­chen­de Funk­ti­on sol­cher Bele­ge). Dazu müss­te aber geprüft wer­den, ob die Fa. McDo­nalds tat­säch­lich 1954 gegrün­det wur­de (Ein­trag in ein Han­dels­re­gis­ter, Fir­men­ge­schich­te), ob der “Big­Mac” tat­säch­lich 1973 in Deutsch­land ein­ge­führt wur­de (so dass er 1974 sei­nen “ers­ten Geburts­tag fei­ern” konn­te), ob tat­säch­lich 1990 das ers­te Restau­rant in Ost­deutsch­land gebaut wur­de (Bau­ge­neh­mi­gung prü­fen, zunächst reich viel­leicht auch eine ent­spre­chen­de Wer­bung in einer Zeit­schrift wie der “SuperIl­lu”). Dazu muss geprüft wer­den, ob tat­säch­lich der McWrap 2010 neu ein­ge­führt wurde.
  2. Nor­ma­ti­ve Trif­tig­keit: Eine Geschich­te ist nor­ma­tiv trif­tig, wenn sie den Nor­men des Publi­kums ent­spricht, ihnen wich­tig und zustim­mungs­fä­hig erscheint. Es wäre zu über­le­gen, ob “Welt­meis­ter” wer­den in der Tat etwas ist, was der Wer­be­ziel­grup­pe bedeu­tend und (in die­sem Fal­le posi­tiv) erscheint. Das ist basal ohne Wei­te­res Ein­sich­tig. Die Wer­bung basiert auf der all­ge­mei­nen Fuß­ball-WM-Eupho­rie in Deutsch­land. Sie macht sich die­sen zu nut­ze. Eine wert­be­zo­ge­ne Hal­tung des Publi­kums zur Fa. McDo­nalds kann hin­ge­gen weni­ger stark vor­aus­ge­setzt, d.h. als Bedin­gung für die Trif­tig­keit ange­se­hen wer­den, soll sie doch mit dem Wer­be­spot über­haupt erst her­ge­stellt wer­den. Gestei­gert trif­tig wäre die Nar­ra­ti­on, wenn argu­men­tiert wer­den könn­te, dass der Zusam­men­hang auch ande­ren Men­schen eben­so bedeut­sam erscheint. Das wird einer­seits schwie­ri­ger, weil die­se Wer­bung gegen­über, sagen wir, Aus­län­dern in Deutsch­land nicht eben­so ein­fach funk­tio­niert und in die­ser empha­ti­schen Form in ande­ren Län­dern, etwa den USA gar nicht funk­tio­nie­ren wür­de. Inso­fern die Geschich­te aber einer Per­spek­ti­ve­n­er­wei­te­rung durch­aus zugäng­lich ist, etwa durch Her­aus­nah­me der pathe­ti­schen, nor­ma­ti­ves Ein­ver­neh­men hei­schen­den Anspra­che des Zuschau­ers, und all­ge­mei­ner dar­ge­legt wür­de, dass die Akti­vi­tä­ten von McDo­nalds in Deutsch­land zu des­sen Erfolg bei­getra­gen hät­ten, wäre die nor­ma­ti­ve Trif­tig­keit durch­aus stei­ger­bar. Die glei­che Geschich­te kann dann auch in ande­ren Län­dern erzählt wer­den, ohne auf Wider­spruch zu sto­ßen — aller­dings wäre die Empha­se wohl dahin.
  3. Nar­ra­ti­ve Trif­tig­keit. Der in der Geschich­te behaup­te­te Zusam­men­hang zwi­schen Akti­vi­tä­ten der Fa. McDo­nalds und den Erfol­gen Deutsch­lands bei Fuß­ball-Welt­meis­ter­schaf­ten müss­te plau­si­bel gemacht wer­den: War­um soll Deutsch­land immer dann Welt­meis­ter wer­den, wenn McDo­nalds inno­va­tiv wird? Dazu müss­te zum Einen geprüft wer­den, ob denn McDo­nalds nicht auch in ande­ren Welt­meis­ter­schafts­jah­ren etwas Neu­es ein­ge­führt hat, ohne dass Deutsch­land Welt­meis­ter gewor­den wäre. Dann näm­lich brä­che die behaup­te­te die Regel in sich zusam­men. Zudem müss­te eine Logik ange­führt wer­den, war­um Inno­va­tio­nen bei McDo­nalds Ein­fluss haben soll­ten auf die Welt­meis­ter­schaft – und nicht nur Zufall sind. Das wird schwer­lich gelin­gen. Zur Stei­ge­rung der Trif­tig­keit müss­te McDo­nalds also ent­we­der anfüh­ren, dass es NUR in die­sen Jah­ren Inno­va­tio­nen gege­ben habe (was nicht stim­men wird), und WARUM ihre Inno­va­tio­nen zur Welt­meis­ter­schaft Deutsch­lands bei­tra­gen (etwa weil sie die Stim­mung im Lan­de heben, oder weil die Mann­schaft immer als ers­te davon profitiert).
Anmer­kun­gen /​ Refe­ren­ces
  1. Die Wer­bung besitzt ganz offen­kun­dig einen deut­li­chen Grad an Iro­nie (erkenn­bar u.a. an der pathe­ti­schen Spra­che und der Hin­ter­grund­mu­sik). McDo­nalds erwar­tet von kei­nem Zuschau­er, tat­säch­lich den Zusam­men­hang zu glau­ben. Gera­de des­halb eig­net sich die­se Wer­bung aber für eine Fin­ger­übung.[]
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Körber, Andreas: Zeitgemäßes schulisches Geschichts-Lernen in Gedenkstätten. In: Das KZ Neuengamme und seine Außenlager. Geschichte, Nachgeschichte, Erinnerung, Bildung. Hrsg. von Oliver von Wrochem. Berlin 2010 (Neuengammer Kolloquien Bd. 1). S. 392 – 413.

29. Mai 2010 Andreas Körber Keine Kommentare

Kör­ber, Andre­as: Zeit­ge­mä­ßes schu­li­sches Geschichts-Ler­nen in Gedenk­stät­ten. In: Das KZ Neu­en­gam­me und sei­ne Außen­la­ger. Geschich­te, Nach­ge­schich­te, Erin­ne­rung, Bil­dung. Hrsg. von Oli­ver von Wro­chem. Ber­lin 2010 (Neu­en­gam­mer Kol­lo­qui­en Bd. 1). S. 392 – 413.

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