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Geschichts- und Erin­ne­rungs­po­li­tik sind nichts Anrü­chi­ges — zumin­dest nicht, wenn die Begrif­fe die Tat­sa­che bezeich­nen, dass in Gesell­schaf­ten immer und not­wen­dig um his­to­ri­sche Deu­tun­gen und ihre Rele­vanz im öffent­li­chen Geden­ken gerun­gen wird, um ihre Ein­heit­lich­keit und Ver­bind­lich­keit bzw. ihre Offen­heit und Plu­ra­li­tät (Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät, Kon­tro­ver­si­tät) wie die die­sen Ori­en­tie­rungs- und Ver­stän­di­gungs­pro­zes­sen zu Grun­de lie­gen­den Struk­tu­ren, die dabei genutz­ten Ver­fah­ren, Instru­men­te usw.

Die­se Ein­sicht in die Legi­ti­mi­tät und Not­wen­dig­keit einer gesell­schaft­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung um Ver­gan­gen­heit und ihre (Be-)Deutung(en) ist das eine. Sie darf aber nicht dazu ver­füh­ren, das, was auf die­sem Poli­tik­feld (Geschichts­po­li­tik als poli­ty) geschieht, immer nur distan­ziert zu betrach­ten — im Gegen­teil: gera­de die Ein­sicht in die­se Not­wen­dig­keit und Legi­ti­mi­tät ruft dazu auf, sich aktiv an die­ser Aus­ein­an­der­set­zung zu betei­li­gen mit eige­nen Geschichts­po­li­ti­ken (poli­ci­es), und ande­re zu kri­ti­sie­ren und (natür­lich im Rah­men der plu­ra­len Ori­en­tie­rung) zu bekämpfen.

Dass um Geschich­te gerun­gen und gestrit­ten wird, ist also ein gutes Zei­chen. Ein­zel­ne (oder auch vie­le) dabei ver­tre­te­nen Deu­tun­gen und Inter­pre­ta­tio­nen sind oft­mals hoch pro­ble­ma­tisch — und zwar nicht nur in dem Sin­ne, dass sie “fal­sche” Dar­stel­lun­gen der eigent­lich rich­tig erkenn­ba­ren Ver­gan­gen­heit wären, son­dern gera­de weil ihnen poli­ti­sche Inter­es­sen eben­so zu Grun­de lie­gen wie Erkennt­nis­mög­lich­kei­ten und per­spek­ti­ven. Geschichts­po­li­tik ist so das­je­ni­ge Feld, in dem his­to­ri­sche Denutun­gen sowohl in ihrer Bin­dung an die Mög­lich­kei­ten der Erkennt­nis, an die nor­ma­ti­ven Qua­li­täts­kri­te­ri­en his­to­ri­scher Re-Kon­struk­ti­on und Inter­pre­ta­ti­on und an die hete­ro­ge­nen sozia­len, kul­tu­rel­len, poli­ti­schen und wei­te­re Per­spek­ti­ven und Inter­es­sen­la­gen the­ma­tisch wer­den. Sie kön­nen und müs­sen selbst zum Gegen­stand von Unter­su­chung und Ana­ly­se (“De-Kon­struk­ti­on”) wer­den — wie zum gegen­stand poli­ti­scher Aus­ein­an­der­set­zung. Dass die Geschichts­po­li­tik wie die Dis­zi­plin der Zeit­ge­schich­te  geprägt wird von der unauf­lös­ba­ren Ver­bin­dung von gefor­der­ter wis­sen­schaft­li­cher Distanz der Ana­ly­se einer- und der je eige­nen poli­ti­schen Per­spek­ti­ve ande­rer­seits, muss immer mit bedacht wer­den, soll­te aber kein Grund sein, die­ses Feld nur Exper­ten zu über­las­sen. — im Gegen­teil: Geschichts­un­ter­richt muss die­se Kom­ple­xe expli­zit ein­be­zie­hen, will er Ler­nen­de dazu befä­hi­gen, an der heiti­gen Gesell­schaft aktiv und pas­siv teilzuhaben.

In die­sem Sin­ne ist die aktu­el­le Kon­tro­ver­se um “Flucht und Ver­trei­bung”, um das geplan­te Denk­mal und Zen­trum für/​gegen Ver­trei­bun­gen und ganz aktu­ell um den aktu­el­len Beschluss des Deut­schen Bun­des­ta­ges, den 5. August als “Ver­trie­be­nen-Gedenk­tag” ein­zu­rich­ten, zu begrü­ßen — macht sie doch die ver­schie­de­nen Sicht­wei­sen und Inter­es­sen an der Geschich­te in unse­rer Gesell­schaft erst sicht­bar (wie übri­gens all die gleich­zei­tig und ver­setzt ablau­fen­den Debat­ten und Kon­tro­ver­sen um die Erin­ne­rung an die Bom­ben­an­grif­fe auf Dres­den, usw.).

Aus didak­ti­scher Per­spek­ti­ve ist die­se Debat­te also zu begrü­ßen und zu the­ma­ti­sie­ren. Unbe­scha­det davon ist es natür­lich not­wen­dig, in die­ser Fra­ge selbst Stel­lung zu bezie­hen. In die­sem Sin­ne haben gemäß heu­ti­gen Pres­se­be­rich­ten eine Rei­he nam­haf­ter deut­scher His­to­ri­ker zusam­men mit eini­gen Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen aus ande­ren Län­dern den Bun­des­tags­be­schluss kri­ti­siert. Die­ser Kri­tik ist m.E. in vol­lem Umfan­ge zuzu­stim­men. Dem anzu­er­ken­nen­den Bedürf­nis von Ver­trie­be­nen und Ange­hö­ri­gen nach Geden­ken und Erin­ne­run­gen kann und muss auf ande­re Art und Wei­se Rech­nung  getra­gen wer­den als mit einer Sym­bo­lik, die einer Gleich­set­zung von “Flucht und Ver­trei­bung” mit dem Holo­caust gleichkommt.