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Ges­tern wur­de in Ber­lin offi­zi­ell das Kon­zept­pa­pier “Kon­zep­tio­nel­le Über­le­gun­gen für die Aus­stel­lun­gen der »Stif­tung Flucht, Ver­trei­bung, Ver­söh­nung«” vor­ge­stellt. Damit geht gewis­ser­ma­ßen — gleich­zei­tig “über­schat­tet” bzw. “beleuch­tet” von der erneu­er­ten Debat­te um Revan­chis­mus und Rela­ti­vis­mus um Frau Stein­bach — die Aus­ein­an­der­set­zung um die geplan­te Aus­stel­lung und das “Zen­trum für Ver­trei­bun­gen” in eine neue Run­de, den nun liegt ein ers­tes “offi­zi­el­les” Papier vor, das sich als Anstoß zu einer Debat­te versteht.

Beglei­tet wird die­se neue Pha­se von einer auch orga­ni­sier­ten Debat­te in einem Forum von H‑SOZ-U-KULT, die hier zu fin­den ist: http://​hsoz​kult​.geschich​te​.hu​-ber​lin​.de/​f​o​r​u​m​/​t​y​p​e​=​d​i​s​k​u​s​s​i​o​n​e​n​&​i​d​=​1​351.

Das erwähn­te Kon­zept­pa­pier ent­hält auch (als 6.) ein Kapi­tel über Ziel­grup­pen und “geschichts­di­dak­ti­sche Ziel­set­zun­gen” der zu kon­zi­pie­ren­den und in ihm selbst zunächst grob kon­zi­pier­ten Aus­stel­lung. An der Erar­bei­tung hat jedoch wie­der kein Geschichts­di­dak­ti­ker betei­ligt gewe­sen — wohl auch gar nicht erst gefragt wor­den: Die Autoren sind mit Prof. Dr. Mar­tin Schul­ze Wes­sel ein Ost­eu­ro­pa­his­to­ri­ker an der LMU, Dr. K. Erik Fran­zen (Wiss. Mit­ar­bei­ter am Col­le­gi­um Caro­li­num) ein Exper­te für Böh­mi­sche Geschich­te, Prof. Dr. Clau­dia Kraft (Erfurt) eine Exper­tin für pol­ni­sche Geschich­te und deutsch-pol­ni­sche Bezie­hun­gen, Prof. Dr. Ste­fa­nie Schü­ler-Spring­orum (Ham­burg) eine Exper­tin für jüdi­sche Geschich­te, PD Dr. Vol­ker Zim­mer­mann (Prag) ein Exper­te für die Geschich­te der Suden­ten­deut­schen, sowie Dr. Mar­tin Zückert (Col­le­gi­um Caro­li­num, Mün­chen) ein wei­te­rer Exper­te für tsche­chi­sche Geschich­te. Aus dem Bereich der Geschichts­di­dak­tik ist mit Tim Völ­ke­ring ledig­lich der Autor einer – wenn auch sehr posi­tiv auf­ge­nom­me­nen – Staats­examens­ar­beit über zwei Aus­stel­lun­gen zum gege­be­nen The­men­be­reich ver­tre­ten, der offen­kun­dig zur Zeit an einer Dis­ser­ta­ti­on zum The­ma arbeitet.

Damit bestä­tigt sich der damals auf die Erstel­lung der neu­en Dau­er­aus­stel­lung des DHM in Ber­lin bezo­ge­ne Befund Mar­tin Sab­rows von 2005 über die Mar­gi­na­li­sie­rung der Geschichts­di­dak­tik 1.

Damals haben die geschichts­di­dak­ti­schen Reak­tio­nen auf die rea­li­sier­te Aus­stel­lung dann jedoch durch­aus gezeigt, dass geschichts­di­dak­ti­sche Gesichts­punk­te sehr wert­voll gewe­sen wären. 2.

Mit die­sen Hin­wei­sen soll nicht gesagt sein, dass die im erwähn­ten Kapi­tel 6 nie­der­ge­leg­ten didak­ti­schen Über­le­gun­gen (u.a. ein Hin­weis auf Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät, Über­le­gun­gen zur Frra­ge, wie die­ser Gegen­stand gegen­über Immi­gran­ten ‘ver­mit­telt’ wer­den kann usw.) zu kri­ti­sie­ren seien.

Den­noch sei aber ange­regt, in einer Haus­ar­beit das Kon­zept­pa­pier und die fol­gen­de Dis­kus­si­on (ggf. im Ver­gleich mit sol­chen ande­rer Aus­stel­lun­gen zum glei­chen oder ande­ren The­men) ein­mal einer geschichts­di­dak­ti­schen Ana­ly­se zu unter­zie­hen und didak­tisch zu kommentieren:

Gefragt wer­den könn­te etwa (u.a.)

  • danach, wel­cher Geschichts­be­griff sich im Aus­stel­lungs­kon­zept niederschlägt: 
    • Wird ver­sucht, mit Hil­fe der Aus­stel­lung ein (wie auch immer lücken­haf­tes) Bild der his­to­ri­schen Wirk­lich­keit zu prä­sen­tie­ren — qua­si los­ge­löst von der gegen­wär­ti­gen Perspektive?
    • Oder erscheint die Geschich­te von Flucht und Ver­trei­bung hier als Ergeb­nis eines spe­zi­fi­sche gegen­wär­ti­gen, von den Debat­ten der seit­her ver­gan­ge­nen Zeit gepräg­ten und geschäf­ten (aber auch fokus­sier­ten) Bli­ckes in die Vergangenheit?
    • Ist Geschich­te im Kon­zept eher die iden­ti­täts­abs­trak­te, deu­tungs- und wer­tungs­neu­tra­le Re-Kon­struk­ti­on eines gege­be­nen his­to­ri­schen Zusam­men­hangs, auf dem kon­tro­ver­se Deu­tun­gen, Wer­tun­gen und Zuschrei­bun­gen, iden­ti­täts­kon­kre­te und hei­ße Erin­ne­run­gen erst auf­bau­en müs­sen, bzw. an dem sie sich zu mes­sen haben?
    • Oder erscheint Geschich­te als ein Kom­plex aus sowohl fachwissenschaftlich-“objektiv” rekon­stru­ier­ba­ren und rekon­stru­ier­ten “Fak­ten” und Zusam­men­hän­gen und die­se eben­so durch­set­zen­den Erin­ne­run­gen, bedeu­tungs­ge­la­de­nen Geschich­ten (im Plural)
  • Gefragt wer­den kann also danach, wel­che Qua­li­tät “Geschich­te” hat und wel­che Funktion(en) wer­den ihr hier zuge­wie­sen wer­den. Geht es 
    • vor­nehm­lich um Infor­ma­ti­on, um Prä­sen­ta­ti­on gesi­cher­ten Wis­sens, etwa als Bei­trag zur Ver­sach­li­chung einer als davon deut­lich geschie­de­nen ver­stan­de­nen gesell­schaft­li­chen Debatte?
    • vor­nehm­lich um die Prä­sen­ta­ti­on von Iden­ti­fi­ka­ti­ons­an­ge­bo­ten, also um die Prä­sen­ta­ti­on einer oder meh­re­rer an spe­zi­fi­sche Deu­tun­gen ange­la­ger­te Deu­tun­gen, wie die Geschich­te von Flucht und Ver­trei­bung in der heiti­gen Gesell­schaft gese­hen wer­den kann?
    • um die Prä­sen­ta­ti­on der gesell­schaft­li­chen Deu­tun­gen zum The­ma Flucht und Ver­trei­bung in ihrer Viel­falt und Kon­tro­ver­si­tät — gewis­ser­ma­ßen als Bei­trag zur Ori­en­tie­rung in der Debatte?
  • gefragt wer­den kann nach dem Ver­hält­nis von Aus­stel­lung und Didaktik: 
    • Inwie­weit wird der Didak­tik im Aus­stel­lungs­kon­zept eine “nach­ge­la­ger­te” Auf­ga­be der Ver­mitt­lung des in der Aus­stel­lung prä­sen­tier­ten Wis­sens (bzw. der Deu­tun­gen) zuge­wie­sen? Inwie­weit geht es bei den didak­ti­schen Über­le­gun­gen um die Didak­ti­sie­rung der gege­be­nen Aus­stel­lung duch Füh­run­gen, Arbeits­ma­te­ria­li­en etc.
    • inwie­weit bezie­hen sich die didak­ti­schen Über­le­gun­gen auf die media­le und metho­di­sche Gestal­tung der aus­stel­lung, also etwa auf die Anordung der The­men und Aus­sa­gen, die media­le Prä­sen­ta­ti­on (etwa die Ent­schei­dung für schrift­li­che, bild­li­che Quel­len, Zeit­zeu­gen­prä­sen­ta­tio­nen, für Inter­ak­ti­vi­tät und Multimedialität?
    • inwie­weit sind Prä­sen­ta­ti­ons­grund­sät­ze didak­tisch legi­ti­miert — etwa hin­sicht­lich nicht nur mul­ti­per­spek­ti­vi­scher Aus­wahl son­dern auch kon­tro­ver­ser Prä­sen­ta­ti­on, hin­sicht­lich des ange­nom­me­nen Besu­chers etc.
    • inwie­weit wird die Aus­stel­lung selbst als didak­ti­sche Ver­an­stal­tung ver­stan­den — inwie­weit flie­ßen also didak­ti­sche Über­le­gun­gen nicht nur in die Prä­sen­ta­ti­on, son­dern in die Aus­wahl der zu prä­sen­tie­ren­den The­men und Per­spek­ti­ven ein etc.
    • wel­che Zie­le der Ver­an­stal­tung “Aus­stel­lungs­be­such” für unter­schied­li­che Ziel­grup­pen wer­den anti­zi­piert und bedient, zurück­ge­wie­sen, oder dia­lo­gisch bearbeitet?
  • Gefragt wer­den kann danach, wie die Aus­stel­lungs­ma­cher sich die Besu­cher vor­stel­len, und zwar sowohl hin­sicht­lich der Ziel­grup­pen (dazu gibt Kap. 6 eini­ges her) als auch nach den anti­zi­pier­ten oder aber gar geplan­ten Akti­vi­tä­ten beim Ausstellungsbesuch: 
    • Wird der Besu­cher eher als pas­si­ver Kon­su­ment gedacht, der in der Aus­stel­lung eine eher rezep­ti­ve Rol­le gegen­über prä­sen­tier­tem his­to­ri­schen Sinn einnimmt?
    • Wird er als ein eher aktiv nach eige­nen Kri­te­ri­en und Fra­gen die prä­sen­tier­ten Infor­ma­tio­nen auf- und zusam­men­su­chend sowie aus ihnen und sei­nem Vor­wis­sen neue Fra­gen und Vor­stel­lun­gen gene­rie­rend vorgestellt?
    • Gibt es Über­le­gun­gen dazu, ob Erwar­tun­gen und Ansprü­che der Besu­cher (wel­cher Art auch immer) eher bedient oder eher auf­ge­bro­chen wer­den sol­len: Will die Aus­stel­lung etwa einen als pas­siv-rezi­pie­rend gedach­ten Besu­cher eher mit einer kor­rek­ten, aber in sich geschlos­se­nen Geschich­te “ver­sor­gen” — oder soll ihm eher zuge­mu­tet wer­den, mit zuein­an­der in Span­nung ste­hen­den Expo­na­ten selbst­stän­dig umzugehen?
  • Gefragt wer­den kann nach der “Umset­zung” von didak­ti­schen Prinzipien: 
    • Wie wird im Aus­stel­lungs­kon­zept etwa das Prin­zip der “Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät” ver­stan­den und umgesetzt? 
      • Wird dar­un­ter aus­schließ­lich oder vor­nehm­lich die Prä­sen­ta­ti­on von Doku­men­ten ver­stan­den, wel­che unter­schied­li­che Hand­lungs- und Lei­dens (all­ge­mei­ner: Beteiligungs-)positionen im dama­li­gen Gesche­hen und unter­schied­li­che Wahr­neh­mun­gen, Deu­tun­gen und Bewer­tun­gen des­sel­ben durch damals Betei­lig­te (sei es in Form zeit­ge­nös­si­scher Quel­len, sei es in Form spä­te­rer Zeit­zeu­gen­do­ku­men­te) verstanden?
      • betrifft das Kon­zept der Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät auch die expli­zi­te Gegen­über­stel­lung von unter­schied­li­chen Deu­tun­gen und Wer­tun­gen aus spä­te­rer Zeit — etwa durch His­to­ri­ker, unter­schied­li­che poli­ti­sche und gesell­schaft­li­che Grup­pen oder gar “Lager”, durch His­to­ri­ker und Betrof­fe­ne der unter­schied­li­chen betei­lig­ten “Natio­nen”, “Völ­ker”, “Volks­grup­pen” usw. (“Kon­tro­ver­si­tät”)
      • Eröff­net die Aus­stel­lung gemäß dem Kon­zept die Mög­lich­keit (for­dert sie ihm viel­leicht gar ab), zu bestimm­ten Fra­gen ein eige­nes, die eige­ne Per­spek­ti­ve beto­nen­en­des Urteil zu bil­den. Schafft sie somit Platz und Raum für Plu­ra­li­tät — und fängt sie die­se Plu­ra­li­tät inso­fern ein, als dass sie dem Besu­cher, der so zu eige­nem Urtei­len ermun­tert wür­de, die ehr­li­che, ver­ste­hen­de, aner­ken­nen­de Aus­ein­an­der­set­zung mit ande­ren Sicht­wei­sen nicht nur ermög­licht, son­dern eben­so abver­langt. Schafft die Aus­stel­lung eine “Per­spek­ti­ve­n­er­wei­te­rung”?
      • Erscheint die­se Kon­tro­ver­si­tät (wenn sie denn berück­sich­tigt ist) als Anhäng­sel, wel­ches (viel­leicht gegen Ende der Aus­stel­lung, wie bei der Ber­li­ner Aus­stel­lung zum Hei­li­gen Römi­schen Reich Deut­scher Nati­on) erst am Aus­gang, qua­si als Kom­men­tar zur “Ver­ar­bei­tung” prä­sen­tiert wird — oder wer­den unter­schied­li­che Sicht­wei­sen und Urtei­le so sicht­bar gemacht, dass sie dem Besu­cher neue Fra­gen öff­nen, mit denen er die Aus­stel­lung dann (neu) betrach­ten kann?
Anmer­kun­gen /​ Refe­ren­ces
  1. Mar­tin Sab­row, Nach dem Pyr­rhus­sieg. Bemer­kun­gen zur Zeit­ge­schich­te der Geschichts­di­dak­tik, in: Zeit­his­to­ri­sche Forschungen/​Studies in Con­tem­po­ra­ry Histo­ry, Online-Aus­ga­be, 2 (2005), H. 2, URL:, Abschnitt 2[]
  2. vgl. etwa die Bei­trä­ge von Uwe Danker/​Astrid Schwa­be und Karl-Hein­rich Pohl/​Katja Köhr in GWU 58 (2007) sowie SCHNEIDER, GERHARD (2007): “Kon­ven­tio­nell und kor­rekt – Zur Eröff­nung der Dau­er­aus­stel­lung des Deut­schen His­to­ri­schen Muse­ums Ber­lin (DHM).” In: Zeit­schrift für Geschichts­di­dak­tik 6; S. 232 – 242.[]
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