Arbeitsbereich Geschichtsdidaktik / History Education, Universität Hamburg

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Neue Publikation

08. Oktober 2019 Andreas Körber Keine Kommentare

Stork, Anni­ka (2019): Per­spek­ti­ven­sen­si­bi­li­tät inner­halb des Geschichts­un­ter­richts. In: Chris­tia­ne Bert­ram und Andrea Kol­pat­zik (Hg.): Sprach­sen­si­bler Geschichts­un­ter­richt. Von der Theo­rie über die Empi­rie zur Prag­ma­tik. Frank­furt: Wochen­schau Ver­lag (Wochen­schau Wis­sen­schaft), S. 115 – 120.

Gamification und Historisches Lernen — wichtiger Artikel von Daniel Bernsen

01. Mai 2019 Andreas Körber Keine Kommentare

Auf sei­nem Blog “Medi­en im Geschichts­un­ter­richt” hat der Kol­le­ge Dani­el Bern­sen unter dem Titel “Gami­fi­ca­ti­on gone wrong” einen wich­ti­gen Arti­kel zum Ein­satz von Spie­len für his­to­ri­sches Ler­nen ver­öf­fent­licht, der auch gleich eini­ge Dis­kus­sio­nen dort und auf Twit­ter hevor­ge­ru­fen hat.
Die Dis­kus­si­on in den Kom­men­ta­ren unter dem Arti­kel (unter mei­ner zwei­ma­li­gen Betei­li­gung, hier und hier) ist wei­ter­füh­rend. Ein­schlä­gig sind auch die Spiel­ent­wick­lun­gen von Bren­da Rome­ro (bzw. Brat­hwai­te). Vgl. Taka­ha­si, Dean (2013): Bren­da Romero’s Train board game will make you pon­der. In: Ven­tur­ebeat, 11.05.2013. Online ver­füg­bar unter https://​ven​tur​ebeat​.com/​2​0​1​3​/​0​5​/​1​1​/​b​r​e​n​d​a​-​r​o​m​e​r​o​-​t​r​a​i​n​-​b​o​a​r​d​-​g​a​m​e​-​h​o​l​o​c​a​u​s​t​/​a​mp/. Vgl. auch zu ande­ren Spie­len von ihr: Brat­hwai­te, Bren­da (2013): Gam­ing for Under­stan­ding. TED Talks: TED.

Vortrag auf der HEIRNET-Konferenz in Dublin

02. September 2017 Andreas Körber Keine Kommentare

Kör­ber, Andre­as (31.08.2017): Inter­cul­tu­ral Histo­ry Edu­ca­ti­on A Ger­man Per­spec­ti­ve. Histo­ry Edu­ca­ti­on Rese­arch Net­work (HEIRNET) Con­fe­rence; 30.08. – 01.09.2017. HEIRNET. Dub­lin (Ire­land).

Noch einmal zur Perspektivität

01. Mai 2016 Andreas Körber Keine Kommentare

In vie­len Zusam­men­hän­gen des his­to­ri­schen Den­kens und Ler­nens ist von “Per­spek­ti­vi­tät” bzw. “Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät” die Rede.

Dem letz­te­ren Prin­zip soll dann oft dadurch Rech­nung getra­gen wer­den, dass Quel­len und/​oder Dar­stel­lun­gen aus allen (oder wenigs­tens meh­re­ren) “betei­lig­ten Per­spek­ti­ven” genutzt bzw. zur Ver­fü­gung gestellt werden.
Dage­gen ist zunächst ein­mal nichts ein­zu­wen­den. Man soll­te aber auch berück­sich­ti­gen, dass “Per­spek­ti­ven” nicht ein­fach in sozia­len, kul­tu­rel­len und ande­ren (etwa poli­ti­schen) Posi­tio­na­li­tä­ten oder auch Kom­bi­na­tio­nen von ihnen auf­ge­hen bzw. von ihnen voll­stän­dig deter­mi­niert wer­den. Es ist eben nicht jede “weib­li­che” oder jede “sozi­al­de­mo­kra­ti­sche” Per­spek­ti­ve gleich ‑und man wird auch kei­ne zwei völ­lig iden­ti­schen Per­spek­ti­ven fin­den, wenn man sog. “sta­tis­ti­sche Zwil­lin­ge” iden­ti­fi­zie­ren könn­te, also men­schen ver­gan­ge­ner Zeit oder auch spä­te­re His­to­ri­ker, die in einer gro­ßen Anzahl sozia­ler Merk­ma­le über­ein­stim­men. (Aller­dings wer­den die Per­spek­ti­ven sol­cher ähn­lich posi­tio­nier­ter Akteu­re ähn­li­cher sein als die­je­ni­gen weit ent­fernt positionierter).
Per­spek­ti­ven ent­hal­ten indi­vi­du­el­le Antei­le auf Grund von Erfah­run­gen und Ver­ar­bei­tun­gen der­sel­ben. Inwie­fern man die­se als unauf­ge­klär­te, aber prin­zi­pi­ell auf­klär­ba­re Resi­du­en wei­te­ren sozia­ler Vari­anz auf­fasst oder aber mit “indi­vi­dua­li­tät”, “Vor­lie­be”, “Geschmack” etc., ist recht egal. Was für den His­to­ri­ker und für his­to­ri­sche Ler­nen­de ein­zu­se­hen und zu berück­sich­ti­gen wäre, ist, dass “Per­spek­ti­ven” in ihrer Kon­sti­tu­ti­on selbst eben nicht durch die Her­aus­ar­bei­tung der pos­ti­ons­be­stim­men­den Varia­blen bestim­men und erklä­ren, son­dern müs­sen aus den Äuße­run­gen (Taten, Hand­lun­gen, Refle­xio­nen, Schrif­ten) etc. selbst in his­to­rio­gra­phi­scher Form re-kon­stru­iert werden.

Historisch Denken Lernen an den neuen Debatten um die Schuld am Ersten Weltkrieg — aber wie?

05. Januar 2014 Andreas Körber 4 Kommentare

Es war ja zu erwar­ten, dass im Vor­feld des hun­dert­jäh­ri­gen Geden­kens des Beginns des Ers­ten Welt­krie­ges die Debat­ten um die Ursa­chen und ins­be­son­de­re um die “Schuld” an die­sem Krieg eine erneu­te Kon­junk­tur erle­ben wür­den. Nicht nur die gro­ße neue Unter­su­chung von Chris­to­pher Clark, wel­che die ins­be­son­de­re von Fritz Fischer ver­tre­te­ne The­se vom deut­schen Kriegs­wil­len und ins­be­son­de­re von der vor­nehm­lich deut­schen Ver­ant­wor­tung erneut in Fra­ge stellt, hat dazu deut­lich beigetragen.

Was aber ist dar­aus zu ler­nen? Geht es dar­um, die — wenn man den Kom­men­ta­to­ren folgt — vor­nehm­lich in libe­ra­len und “lin­ken” Krei­sen popu­lä­re The­se der deut­schen “Allein­schuld” in den Köp­fen der Men­schen aus­zu­tau­schen gegen die neue, Clark’sche Vari­an­te einer mehr­sei­tig ver­teil­ten Ver­ur­sa­chung? Das wäre his­to­ri­sches Ler­nen im Sin­ne einer recht kru­den Kon­zep­ti­on von “Abbild­di­dak­tik”, der zufol­ge die jeweils aktu­el­len Erkennt­nis­se der His­to­ri­ker als bes­te Annä­he­run­gen an die “his­to­ri­sche Wahr­heit” zu “ver­mit­teln”, nein, zu “über­mit­teln” sei­en. Und es wäre doch all­zu wenig — nicht nur, weil es letzt­lich an der rezep­ti­ven Abhän­gig­keit der so Belehr­ten von den For­schun­gen der Fach­leu­te (und den publi­zis­ti­schen Macht­ver­hält­nis­sen unter ihnen) nicht ändert, son­dern auch, weil damit der letzt­lich unpro­duk­ti­ven Vor­stel­lung einer his­to­ri­schen “Wahr­heit” Vor­schub geleis­tet wür­de, die in Form einer Annä­he­rung an die ver­gan­ge­ne Wirk­lich­keit her­kommt, und nicht der weit­aus anschluss- und ori­en­tie­rungs­fä­hi­ge­ren Kon­zep­ti­on, der­zu­fol­ge es um die Qua­li­tät als rela­tio­na­ler Kon­zep­te zwi­schen Gegen­wart und Ver­gan­gen­heit gedach­ter his­to­ri­scher Aus­sa­gen geht, die sich in ihrer Zustim­mungs­fä­hig­keit (“Trif­tig­keit” oder “Plau­si­bi­li­tät” in drei oder vier Dimen­sio­nen; vgl. Rüsen 1994; Rüsen 2013) bemisst. Anders gesagt: Wer über und an historische(n) Deu­tun­gen ler­nen will, muss die jeweils spe­zi­fi­schen Ori­en­tie­rungs­be­dürf­nis­se, die Norm­vor­stel­lun­gen, die Impli­ka­tio­nen der ein­zel­nen Inter­pre­ta­tio­nen usw. mitdenken.

In die­sem Zusam­men­hang sind — wie so oft — publi­zis­ti­sche Inter­ven­tio­nen von His­to­ri­kern und ande­ren öffent­li­chen “Ver­mitt­lern” mit­samt den öffent­li­chen Reak­tio­nen inter­es­sant, wie sie etwa in den Debat­ten unter Online-Zei­tungs­ar­ti­keln zuhauf zu fin­den sind. Weit davon ent­fernt zu glau­ben, dass die­se “die öffentliche(n) Meinung(en)” bzw. deren Ver­tei­lung relia­bel abbil­de­ten oder auch nur die wah­re Mei­nung der jewei­li­gen (oft­mals anony­men) Autoren, hal­te ich die­se Debat­ten doch für sehr geeig­net, his­to­ri­sches Den­ken zu ler­nen, weil sie zum Teil pro­to­ty­pisch über­höht und zuge­spitzt Deu­tun­gen und Schluss­fol­ge­run­gen, Sach­ver­halts­auss­gaen, Sach- und Wert­ur­tei­le prä­sen­tie­ren, die als “sag­bar” gel­ten. Es geht also in gewis­ser Form um Dis­kurs­ana­ly­sen in rudi­men­tä­rer Form, um aus ihnen mög­li­che und unmög­li­che, zustim­mungs­fä­hi­ge und pro­ble­ma­ti­sche For­men his­to­ri­scher Sinn­bil­dung samt ihrer Gel­tungs­an­sprü­che und ent­spre­chen­der Appel­le an die Leser erschließ­bar zu machen, ohne dass am Ende eine gemein­sa­me Sicht, eine von allen geteil­te Bewer­tung ste­hen muss — hof­fent­lich aber doch eini­ges an bes­se­rem Ver­ständ­nis über die Be-Deutung(en) der jewei­li­gen Geschichten.

Die For­men, wel­che die Debat­te gegen­wär­tig anzu­neh­men beginnt, sind da schon sehr aufschlussreich.

In der WELT for­dern heu­te vier nam­haf­te deut­sche Historiker(innen), näm­lich Domi­nik Geppert, Sön­ke Neit­zel, Cora Ste­phan und Tho­mas Weber, die Ablö­sung der The­se von der Deut­schen Allein­schuld (“War­um Deutsch­land nicht allein Schuld ist”) — und zwar durch­aus mit (beden­kens­wer­ten) Argu­men­ten, die nicht nur auf die Ver­gan­gen­heit zie­len, son­dern gera­de auch auf die mög­li­chen Wir­kun­gen im gegen­wär­ti­gen poli­ti­schen Feld der euro­päi­schen Poli­tik. In unse­rem Zusam­men­hang inter­es­sant ist dabei die oben beraits ange­deu­te­te Bewer­tung der The­se von deut­scher Schuld als “lin­ker Mythos”. Die sich anschlie­ßen­de Dis­kus­si­on (“Kom­men­ta­re”) erweist sich aber als noch inter­es­san­ter. Wo die Historiker(innen) die Eig­nung des Ers­ten Welt­kriegs und der Schuld­fra­ge zur Bekämp­fung von Natio­na­lis­mus bezwei­feln, neh­men vie­le Kom­men­ta­to­ren die­se Ableh­nung der Fischer-The­se zum Anlass, um in durch­aus rein natio­na­lem Den­ken wie­der­um die Schuld ent­we­der direkt bei den dama­li­gen Fein­den der Deut­schen zu ver­or­ten oder die­se von jeg­li­cher Schuld frei­zu­spre­chen. Wie dort die Kate­go­rien durch­ein­an­der gehen, etwa “Ursa­che”, “Anlass”, aber auch “Schuld” und “Ver­ant­wor­tung”, macht deut­lich, dass der Opti­mis­mus der His­to­ri­ker, mit der kor­rek­ten his­to­ri­schen Deu­tung sol­cher­lei Natio­na­lis­men zu erschwe­ren, reich­lich unbe­grün­det erscheint.

Noch inter­es­san­ter wird es aber, wenn man gleich­zei­tig einen Arti­kel des eng­li­schen Bil­dungs­mi­nis­ters Micha­el Gove in der eng­li­schen Dai­ly Mail her­an­zieht — und den dazu­ge­hö­ri­gen Kom­men­tar im Guar­di­an von sei­nem “Schatten”-Kollegen Tri­st­ram Hunt). In ers­te­rem (“Micha­el Gove blasts ‘Black­ad­der myths’ about the First World War spread by tele­vi­si­on sit-coms and left-wing aca­de­mics”) kri­ti­siert Gro­ve unter ande­ren “lin­ke” Geschichts­my­then, und zwar mit Hil­fe einer — so Hunt — “berei­nig­ten” Ver­si­on der The­sen von Max Has­tings, denen zufol­ge der Krieg ein “not­wen­di­ger Akt des Wider­stan­des gegen ein mili­ta­ris­ti­sches, kriegs­trei­be­ri­sches und impe­ria­lis­ti­sches Deutsch­land” (wört­lich: “a neces­sa­ry act of resis­tance against a mili­ta­ristic Ger­ma­ny bent on war­mon­ge­ring and impe­ri­al aggres­si­on”) gewe­sen sei — mit einer Neu­auf­la­ge von Fritz Fischers The­se der deut­schen Kriegs­schuld also. “In an artic­le for the Dai­ly Mail, Mr Gove says he has litt­le time for the view of the Depart­ment for Cul­tu­re and the For­eign Office that the com­me­mo­ra­ti­ons should not lay fault at Germany’s door” ‑schreibt Mail Online. Ganz ähn­lich und in der poli­ti­schen Aus­rich­tung noch deut­li­cher auch Boris John­son: “Ger­ma­ny star­ted the Gre­at War, but the Left can’t bear to say so” im “Tele­graph”.

Bei­der­seits der Nord­see also eine Ableh­nung “lin­ker” The­sen — nur, dass ein­mal The­sen Fischers als sol­che gel­ten und sie ein­mal gegen sol­che in Anschlag gebracht wer­den. Grund genug also, gera­de auch in die­sem Fal­le nicht allein nach der “Wahr­heit” zu fra­gen, son­dern die Nar­ra­tio­nen kon­kret zu prü­fen — zu de-kon­stru­ie­ren, um in der Ter­mi­no­lo­gie von FUER zu bleiben.

Natür­lich sind die Kom­men­ta­re auch in der Dai­ly Mail und im Guar­di­an eben­falls inter­es­sant und ein­zu­be­zie­hen und natür­lich wird noch vie­les gesche­hen in der Debat­te. Erst mit ihnen, mit Nar­ra­ti­on, Inter­pre­ta­ti­on sowie Wer­tung und den jewei­li­gen viel­fäl­ti­gen Gegen­po­si­tio­nen aber wird ein Mate­ri­al dar­aus, wel­ches es für his­to­ri­sches Ler­nen im kom­pe­tenz­ori­en­tier­ten Sin­ne geeig­net macht.

Eine klei­ne Anmer­kung mei­ner­seits sei aber noch gestattet:
Die Abwehr der Fischer-The­se als “links” und zu gefähr­lich idea­lis­tisch und die Befür­wor­tung einer rea­lis­ti­sche­ren Sicht auf die Ursa­chen des Ers­ten Welt­kriegs auch als Basis für eine rea­lis­ti­sche­re Poli­tik in Euro­pa mag ja rich­tig sein. Aber es darf nicht ver­kannt wer­den, dass gera­de auch die Fischer-Kon­tro­ver­se in einem his­to­ri­schen Zusam­men­hang steht — wie auch die deut­sche Erin­ne­rungs­po­li­tik zuvor. Dass die Fischer-The­se nicht zur Abwehr von Natio­na­lis­mus tau­ge, ist also nur begrenzt rich­tig. In den 60er Jah­ren und ange­sichts der Fort­set­zung der Ent­schul­di­gungs­po­li­tik der Zwi­schen­kriegs­zeit (man Den­ke an “Die gro­ße Poli­tik der euro­päi­schen Kabi­net­te”) hat­te die Her­aus­ar­bei­tung wenn nicht der “Allein­schuld”, so aber doch des deut­li­chen Kriegs­wil­lens durch­aus ihre Berech­ti­gung und Funk­ti­on — die Kom­men­ta­re zum WELT-Arti­kel bele­gen das indi­rekt noch heute.

Und noch ein paar Anmer­kun­gen — als Nachtrag:

  • Die Inter­ven­tio­nen bei­der hier in aller Kür­ze vor­ge­stell­ter Sei­ten gehen gegen “lin­ke” Geschichts­bil­der und füh­ren gegen sei das Inter­es­se an Wahr­heit und Ehr­lich­keit an. Das klingt zunächst ein­mal gut. Aber die Oppo­si­ti­on von “Wahr­heit” und “Ehr­lich­keit” gegen “poli­ti­sche” Geschichts­bil­der ist in sich selbst falsch — und zwar zunächst (!) unab­hän­gig davon, wel­cher poli­ti­schen Rich­tung die kri­ti­sier­ten Geschichts­bil­der ent­stam­men. Es wür­de schon enorm wei­ter­hel­fen, aner­zu­er­ken­nen, dass jede Posi­ti­on, wel­che für sich poli­ti­sche Neu­tra­li­tät, unpo­li­ti­sche “Ehr­lich­keit” und “Wahr­heit” bean­sprucht, ihrer­seits emi­nent poli­tisch ist — und zwar nicht nur, weil die sie behaup­ten­den Autoren jeweils selbst (hof­fent­lich) poli­ti­sche Men­schen mit Über­zeu­gun­gen, Posi­tio­nen und Vor­stel­lun­gen für gegen­wart und Zukunft sind und ihre Vor­stel­lun­gen von der Ver­gan­gen­heit von ihnen mit geprägt wer­den, son­dern auch weil die Vor­stel­lung einer vor­po­li­ti­schen Raums der Wahr­heit und der ver­zer­ren­den Natur poli­ti­scher Per­spek­ti­ven irrig ist. Es wäre noch mehr gewon­nen, wenn die Ein­sicht, wel­che für die Poli­tik­di­dak­tik in den 1960er Jah­ren Her­mann Gies­ecke for­mu­liert hat, dass die Natur der Demo­kra­tie die Unei­nig­keit und die Aus­ein­an­der­set­zung ist und dass Kon­tro­ver­sen kei­nes­wegs ein zu ver­mei­den­des Übel, son­dern die Form sind, in wel­cher not­wen­di­ger­wei­se unter­schied­li­che Inter­es­sen an, Bli­cke auf und ver­ar­bei­tungs­wei­sen von sozia­ler und poli­ti­scher Rea­li­tät sicht­bar und aus­ge­han­delt wer­den, wenn die­se Ein­sicht nun end­lich auch auf das Feld der Geschich­te über­tra­gen wür­de. Die Geschichts­theo­rie stellt das nöti­ge Instru­men­ta­ri­um seit Lan­gem bereit: Geschich­te ist immer stand­ort­ge­bun­den und somit per­spek­ti­visch, sie ist immer par­ti­ell und selek­tiv und sie ist immer gegen­wär­tig. Sie ist näm­lich von der Ver­gan­gen­heit zu unter­schei­den. Wäh­rend die­se ein­ma­lig war und nur in einer Form exis­tiert hat ist sie über­kom­plex und als sol­che nicht zu erken­nen. Geschich­te als die immer gegen­wär­ti­ge, an einen (zeit­li­chen, sozia­len, poli­ti­schen, kul­tu­rel­len, …) Stand­ort gebun­de­ne und von die­sem Stand­punkt und sei­nen Prä­gun­gen aus geform­te Erzäh­lung über (!) Ver­gan­gen­heit ist viel­fäl­tig und das zu recht. Damit ist einem Rela­ti­vis­mus das Wort gere­det, dem­zu­fol­ge jede Aus­sa­ge über die­se Ver­gan­gen­heit, jede Geschich­te gleich gut wäre, wohl aber der Ein­sicht, dass es nicht nur eine “rich­ti­ge” Sicht gibt, son­dern dass auf­grund ihres rela­tio­na­len, Vergangenheit(en) udn gegenwarte(en) mit­ein­an­der ver­bin­den­den Cha­rak­ters meh­re­re “gül­tig” sein kön­nen. Und es folgt eben­so dar­aus, dass es noch mehr unwah­re Geschich­ten gibt: näm­lich sol­che, deren Rela­tio­nen aner­kann­ten Stan­dards widersprechen.Das Resul­tat ist, dass in allen Gesell­schaf­ten, aber mehr noch in libe­ra­len, plu­ra­len und hete­ro­ge­nen eine stän­di­ge Aus­ein­an­der­set­zung über und um Geschich­te Herr­schen muss, bei des­sen sinn­vol­ler Aus­ge­stal­tung nicht die Über­wäl­ti­gung der jeweils ande­ren zu Aner­ken­nung der eige­nen Dar­stel­lung, Deu­tung und Schluss­fol­ge­rung das Ziel sein muss, son­dern die Her­stel­lung einer neu­en Ebe­ne von his­to­ri­scher Kul­tu­ra­li­tät, bei der die jewei­li­gen Geschich­ten so mit­ein­an­der kom­pa­ti­bel (nicht aber iden­tisch) gemacht wer­den, dass man mit­ein­an­der reden, den­ken, Gegen­wart gestal­ten und zukunft (aktiv) erwar­ten kann. Das wäre übri­gens auch “Ein­heit in Viel­falt” und stün­de etwa einem “Euro­päi­schen Geschichts­be­wusst­sein” gut an. Es wäre aber noch mehr — es bedeu­te­te, das his­to­ri­sche Den­ken selbst zu demokratisieren.
    Gar­aus folgt zum einen, dass “Geschichts­po­li­tik” nichts nega­ti­ves ist — sofern der Begriff nicht ein die Geschich­te zum vor­der­grün­di­gen Zweck miss­brau­chen­des Han­deln bezeich­net, son­dern das Poli­tik­feld, in dem sol­che sowie demo­kra­ti­sche For­men des Rin­gens um his­to­ri­sche Ori­en­tie­rung statt­fin­den. Eine Ent­ge­gen­set­zung von “Poli­tik” und “Geschich­te” ist unfrucht­bar. Bes­ser wäre es, anzu­er­ken­nen, dass demo­kra­ti­sche Gesell­schaf­ten sich auch über die Gel­tungs­an­sprü­che öffent­li­cher Geschichts­aus­sa­gen, über ihre Ver­bind­lich­keit (Geschichts­po­li­tik) wie über die aus ihnen zu zie­hen­den Schluss­fol­ge­run­gen im poli­ti­schen Han­deln (“Ver­gan­gen­heits­po­li­tik” in einem Sin­ne, der nicht nur auf die Ver­ar­bei­tung von Dik­ta­tur­er­fah­run­gen beschränkt blei­ben darf) immer neu aus­ein­an­der­set­zen müssen.Daraus folg­te aber auch, dass die Klas­si­fi­ka­ti­on eines Geschichts­bil­des als “links” oder “rechts” noch kein Argu­ment sein dürf­te, es zu dis­qua­li­fi­zie­ren. Poli­ti­sche Geschichts­bil­der sind nor­mal und sie müs­sen als sol­che ernst genom­men wer­den. Man muss sich mit ihnen aus­ein­an­der­set­zen, und sie in ihrer nar­ra­ti­ven Erklä­rungs- und Ori­en­tie­rungs­kraft dis­ku­tie­ren — das meint die jüngst von Bodo von Bor­ries ein­ge­for­der­te “Nar­ra­ti­ons­prü­fung” oder “De-Kon­struk­ti­on”. Dass eini­ge lin­ke wie auch eini­ge “rech­te” Geschichts­bil­der die­se Prü­fung kaum über­ste­hen wer­den, dürf­te klar sein — wobei ich selbst noch immer den­ke, dass vie­le expli­zit “rech­te” Geschichts­bil­der auf­grund in sie ein­ge­hen­der Nor­men und Vor­stel­lun­gen pro­ble­ma­ti­scher sind als vie­le “lin­ke”, wobei aber natür­lich auch hier vie­les pro­ble­ma­tisch ist.
    Es wäre also viel gewon­nen, den Ver­weis auf “links” (und “rechts”) nicht als Argu­ment anzu­füh­ren, son­dern viel­mehr die Geschichts­dar­stel­lun­gen aller Pro­ve­ni­enz einer prü­fung zu unter­zie­hen, die wesent­lich, aber nicht nur auf den Quel­len, beruht, son­dern auch die ein­ge­hen­den Nor­men, Men­schen­bil­der, Gesell­schafts­theo­rien, aber auch die Erklä­rungs­mus­ter und­so­mit die Impli­ka­tio­nen für das heu­ti­ge Zusam­men­le­ben in den Blick nimmt. Nichts ande­res mein­te übri­gens Jörn Rüsen mit sei­nen schon zitier­ten drei “Trif­tig­kei­ten” bzw. neu­er­dings “vier Plausibilitäten”
  • Es ist aber noch etwas ande­res anzu­mer­ken: Eine Schluss­fol­ge­rung hier­aus lau­tet, dass die Mit­glie­der min­des­tens der moder­nen, plu­ra­len und hete­ro­ge­nen Gesell­schaf­ten im Geschichts­un­ter­richt und der poli­ti­schen Bil­dung in die Lage ver­setzt wer­den müs­sen, eigen­stän­dig und ver­ant­wort­lich an die­ser gesell­schaft­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung um Geschich­te teil­zu­neh­men. Das meint “Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung”. Sie dür­fen nicht in einer Lage belas­sen oder gera­de erst in sie ver­setzt wer­den, dass sie nur rezep­tiv auf­neh­men, was “die Fach­leu­te” ihnen erzäh­len, und mit dem Ver­weis auf ihren Fach­leu­te-Sta­tus legi­ti­mie­ren. Ande­rer­seits: die Vor­stel­lung, dass jede® befä­higt wer­den soll, sich sei­ne eige­ne “Mei­nung” (oder bes­ser: “Auf­fas­sung”) zu bil­den, kann auch über­trie­ben oder dies­be­züg­lich miss­ver­stan­den wer­den. Es geht zwar schon dar­um, dass “Ever­y­man his own his­to­ri­an” sein kön­nen muss — aber die Vor­stel­lung einer Abschaf­fung der his­tor­si­chen Zunft der Fach­leu­te zuguns­ten einer völ­li­gen “Demo­kra­ti­sie­rung” der his­to­ri­schen For­schung wäre nicht nur über­zo­gen idea­lis­tisch — sie wäre auch töricht. Es ist zwar das Ziel des kom­pe­tenz­ori­en­tier­ten Geschichts­un­ter­richts, dass prin­zi­pi­ell jedes Mit­glied der moder­nen Gesell­schaft über die grund­le­gen­den Fähig­kei­ten des his­to­ri­schen Den­kens selbst ver­fügt, also — etwa nach Jeis­mann — selbst Sach­ver­halts­fest­stel­lun­gen (um den Begriff ein­mal abzu­wan­deln) tref­fen, Sach- und Wert­ur­tei­le his­to­ri­scher Art fäl­len kann — aber es kann und soll nicht gemeint sein, dass jeder in jedem Fal­le zum Exper­ten wer­den soll und muss. Aber dann gehört es zur his­to­ri­schen Bil­dung und Kom­pe­tenz, Aus­sa­gen von His­to­ri­kern wie von Akteu­ren der öffent­li­chen his­to­ri­schen Debat­ten nicht nur ver­ste­hen und sich zwi­schen ihnen ent­schei­den zu kön­nen, son­dern sie in dem Sin­ne kri­tisch zu rezi­pie­ren, dass sie kri­tisch befragt (“hin­ter­fragt” heißt das modern) und bedacht wer­den kön­nen — und zwar nicht nur auf ihre Quel­len hin (“Prü­fung der empi­ri­schen Trif­tig­keit”), son­dern auch auf die Prä­mis­sen, Nor­men, Model­le — und auf die Impli­ka­tio­nen für die Gesell­schaft und jeden ein­zel­nen in Gegen­wart und Zukunft. Das aber umfasst auch, den Sta­tus sol­cher Aus­sa­gen als Tei­le einer (nicht zwin­gend partei‑, aber doch) poli­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung um zeit­li­che Ori­en­tie­rung zu erken­nen und zu akzep­tie­ren. Ein­zel­ne Posi­tio­nen als “ehr­lich”, weil unpo­li­tisch und ande­re als falsch WEIL poli­tisch zu klas­si­fi­zie­ren, hilft dabei nicht.
  • His­to­ri­sches Ler­nen gera­de auch im Geschichts­un­ter­richt soll­te somit nicht gedacht wer­den als die Bevor­ra­tung der Ler­nen­den mit einer bestimm­ten Ori­en­tie­rung, son­dern vor­nehm­lich um die Befä­hi­gung der Ler­nen­den zur Selbst­ori­en­tie­rung und zur Teil­ha­be an der gesell­schaft­li­chen Orientierung.

Ergän­zun­gen 7.1.2014/23.1.2014:

Aufsatz zum Fremdverstehen im Geschichtsunterricht

30. November 2012 Andreas Körber Keine Kommentare

Zur Klä­rung der Kon­zep­te des Fremd­ver­ste­hens und der Per­spek­ti­vi­tät habe ich vor kur­zem einen Bei­trag bei pedocs veröffentlicht:

 

Kör­ber, Andre­as (2012): “Fremd­ver­ste­hen und Per­spek­ti­vi­tät im Geschichts­un­ter­richt”. in: PeDOCS (http://​www​.pedocs​.de/​v​o​l​l​t​e​x​t​e​/​2​0​1​2​/​5​849) (urn:nbn:de:0111-opus-58492).

Multiperspektivität — eine Verständnishilfe aus aktuellem Anlass

22. Mai 2012 Andreas Körber Keine Kommentare

Aus einer aktu­el­len Haus­ar­beit: Mit der Bereit­stel­lung von Mate­ria­li­en mit ver­schie­de­nen Anschau­un­gen soll “den Kin­dern die Chan­ce gege­ben wer­den, eine geschicht­li­che Bege­ben­heit mög­lichst sach­ge­recht und neu­tral ein­zu­schät­zen.” Es sol­le ver­mie­den wer­dem, “eine ein­zi­ge Text­quel­le als die rich­ti­ge Sicht­wei­se” aus­zu­ge­ben, son­dern viel­mehr ver­schie­de­ne Inter­pre­ta­ti­ons­mög­lich­kei­ten  zu eröff­nen, “und durch das Zusam­men­fü­gen und das Ergän­zen meh­re­rer Aus­sa­gen der ‘his­to­ri­schen Wahr­heit’ etwas näher zu kommen.”

Das ist rich­tig, aber auch nur die hal­be Wahr­heit, oder bes­ser: das kom­ple­xe­re Ver­ständ­nis wird nur ange­deu­tet. Es ist rich­tig, dass Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät auch eine ggf. unbe­wuss­te Indok­tri­na­ti­on ver­mei­den hel­fen soll, die durch die Prä­sen­ta­ti­on nur einer Sicht­wei­se ent­ste­hen könn­te. Aber es wäre falsch, den Sinn der Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät dar­in zu sehen, gewis­ser­ma­ßen in den ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven lie­gen­de ‘Ver­zer­run­gen’ zu erken­nen und am Ende durch den Ver­gleich zu einern ‘ver­zer­rungs­frei­en’ Vari­an­te zu kom­men, die dann als ‘objek­tiv’ gilt. Die Per­spek­ti­ven wären dann nur noch Stör­fak­to­ren, die es durch Ver­gleich her­aus­zu­rech­nen gilt. Sie sind aber viel­mehr not­wen­di­ge Ele­men­te jeg­li­cher Aus­sa­ge. Es geht bei der Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät auch um die Erkennt­nis, dass das Ereig­nis (oder die Struk­tur etc.) unter­schied­lich wahr­ge­nom­men, ein­ge­schätzt und beur­teilt wer­den muss­te, nicht (nur) wegen unter­schied­li­cher Ideo­lo­gien, son­dern auch wegen ganz natür­li­cher unter­schied­li­cher Vor­er­fah­run­gen, Inter­es­sen, Vor­aus­set­zun­gen, etc. — und dass es für die Men­schen in unter­schied­li­chen sozia­len und kul­tu­rel­len Posi­tio­nen auch unter­schied­li­ches bedeu­tet haben kann oder gar muss.

Mehr noch: neben die­ser abs­trak­ten Erkennt­nis, dass Per­spek­ti­vi­tät unhin­ter­geh­ba­re Bedin­gung ist, die am jewei­li­gen Bei­spiel exem­pla­risch erar­bei­tet wer­den kann, geht es auch um die kon­kre­ten Per­spek­ti­ven auf die­ses kon­kre­te Ereig­nis und um sei­ne kon­kre­ten Bedeu­tun­gen, die es zu ken­nen gilt: sie sind — im Rück­blick — Teil des Ereig­nis­ses selbst. Objek­ti­vi­tät ent­steht also nicht durch “Her­aus­rech­nen” der ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven, son­dern durch ihre plu­ra­le Einbeziehung.
Per­spek­ti­ven­wis­sen ist inte­gra­ler Teil des Geschichtswissens.

Fremdverstehen und Perspektivität im Geschichtsunterricht

26. Juli 2010 Andreas Körber Keine Kommentare

Das Kon­zept des “Fremd­ver­ste­hens” spielt in der Geschichts­di­dak­tik wie in der Fremd­spra­chen­di­dak­tik eine Rol­le — Grund genug, über das Ver­hält­nis der gleich lau­ten­den Kon­zep­te bei­der Fach­di­dak­ti­ken nachzudenken.
Beim Fremd­spra­chen­ler­nen ist das Kon­zept offen­bar Teil einer moder­ne­ren Didak­tik, wel­che sich nicht allein auf den Sprach­er­werb (im Sin­ne von “lan­gue”) kon­zen­trie­ren will, son­dern Kom­mu­ni­ka­ti­ons­fä­hig­keit im wei­te­ren Sin­ne in den Blick nimmt. Im Zuge die­ser Ori­en­tie­rung wur­den offen­bar die einer älte­ren Tra­di­ti­on (gera­de auch des Den­kens in Natio­nal-Kul­tu­ren) ver­haf­te­ten Antei­le von “Lan­des­kun­de” über­führt in einer moder­ne­rer Kul­tur­theo­rie und-wis­sen­schaft ent­spre­chen­den Kon­zep­te inter­kul­tu­rel­len Ler­nens. Es geht dem­nach im enge­ren Sin­ne des (fremd-)sprachlichen Kom­pe­tenz­er­werbs um die Befä­hi­gung der Ler­nen­den, nicht nur aktiv und pas­siv kor­rekt ‘die frem­de Spra­che’ zu benut­zen, son­dern die sich in ihr aus­drü­cken­den und von ihr mit gepräg­ten kul­tu­rel­len Per­spek­ti­ven auf Welt zu ver­ste­hen. “Fremd­ver­ste­hen” ist also in der Fremd­spra­chen­di­dak­tik ein ganz eng mit dem inter­kul­tu­rel­len Ler­nen ver­bun­de­nes Konzept.
Das gilt auch für die Geschichts­di­dak­tik. “Fremd­ver­ste­hen” ist als Kon­zept auch hier zunächst (und sehr früh) mit dem Blick auf die Her­aus­for­de­run­gen eines Geschichts­un­ter­richts “in einer klei­ner wer­den­den Welt” reflek­tiert wor­den (Schör­ken 1980), womit wesent­li­che Anstö­ße inter­kul­tu­rel­len Ler­nens vor­weg­ge­nom­men wur­de. Dann geriet die­ser interkul­tu­rel­le Fokus ein wenig ins Hin­ter­tref­fen gegen­über einer Auf­wer­tung des Begriffs in einer ande­ren Per­spek­ti­ve, näm­lich des sozia­len Fremd­ver­ste­hens. Gemeint war die Auf­ga­be des Geschichts­un­ter­richts, im Rah­men der Abkehr von einem zuneh­mend kri­ti­sier­ten, bil­dungs­bür­ger­li­chen und geis­tes­wis­sen­schaft­li­chen natio­na­len Geschichts­bil­des und der Zuwen­dung zu sozi­al­grup­pen­spe­zi­fi­schen Per­spek­ti­ven und ins­be­son­de­re einer “Geschich­te von unten”, die spe­zi­fi­schen Ori­en­tie­rungs­be­dürf­nis­se, Deu­tungs- und Erklä­rungs­mus­ter und somit Geschichts­bil­der inner­halb der eige­nen “Nati­on” oder Kul­tur ernst zu neh­men und anzu­er­ken­nen. “Fremd­ver­ste­hen” wur­de somit zu einem Kon­zept, das der inne­ren Kohä­si­on nicht durch Uni­for­mie­rung und Ver­mitt­lung eines gemein­sa­men Geschichts­bil­des, son­dern gera­de­zu durch Aner­ken­nung der Unter­schie­de, dien­te. Erst spä­ter ist der Begriff dann im Zuge des (spä­ten) Ein­stiegs der Geschichts­di­dak­tik in die Debat­te um das “inter­kul­tu­rel­le Ler­nen” (vgl. Rüsen 1998, Ala­vi 1998, Alavi/​v. Bor­ries 2000; Kör­ber 2001; dazu zuletzt Kör­ber 2010 i.E.) wie­der im inter­kul­tu­rel­len Sin­ne auf­ge­grif­fen worden.
In die­ser Hin­sicht besteht offen­kun­dig deut­li­cher Nach­hol­be­darf, zumin­dest auf Sei­ten der Geschichts­di­dak­tik, die Ergeb­nis­se der Refle­xi­on auch der jeweils ande­ren Dis­zi­plin (vor allem des Gra­du­ier­ten­kol­legs “Didak­tik des FRemd­ver­ste­hens”; Bre­del­la & Christ 2007) für sich nutz­bar zu machen. Es scheint näm­lich so zu sein, dass in bei­den Dis­zi­pli­nen par­ti­ell durch­aus ver­gleich­ba­re oder zumin­dest kom­ple­men­tä­re Dis­kus­sio­nen und Ergeb­nis­se vor­lie­gen. Das mag etwa für das Kon­zept der “Per­spek­ti­ven­ko­or­di­na­ti­on” (Kol­len­rott 2008, 48) gel­ten, das für das Fremd­ver­ste­hen beim Spra­chen­ler­nen als höchs­tes Ziel gehan­delt wird. Indem somit gera­de nicht die Fähig­keit, qua­si die Per­spek­ti­ven zu “swit­chen” und gera­de­zu “in der ande­ren Kul­tur” zu den­ken, zum obers­ten Ziel erho­ben wird (wie es in der Fol­ge eini­ger Kul­tur­schock­theo­rien und Kul­tur­wech­sel­theo­rien zuwei­len gefor­dert wur­de; vgl. Wit­te 2006, zit n. Hu 2008; dazu Kör­ber 2010 i.E.), indem also das “mit den Augen der/​des Ande­ren sehen” nicht als Ziel, son­dern als Bedin­gung erkannt wur­de für ein Sehen mit den eige­nen Augen (vgl. Deh­ne 2008, 130), das sich sei­ner Per­spek­ti­vik und Per­spek­ti­ve bewuss­ter ist, und als sol­ches die Ande­ren bes­ser, wenn auch nicht “voll­stän­dig” “ver­steht”, sind hier ähn­li­che Erkennt­nis­se zu erkennen.
Den­noch besitzt der Begriff des Fremd­ver­ste­hens in der Geschichts­di­dak­tik mit eini­gem Recht einen wei­te­ren Ort. v.Borries/Tornow schrie­ben 2001: “Geschich­te ist per se Fremd­ver­ste­hen — übri­gens auch per se inter­kul­tu­rell” (84). Das kann als eine der übli­chen Behaup­tun­gen gele­sen wer­den, dem eige­nen Fach qua sei­ner Natur eine beson­de­re Eig­nung für das gera­de hoch gehal­te­ne Bil­dungs­ziel (2001 war das das “Inter­kul­tu­rel­le”) zu attes­tie­ren. Es kann und muss aber min­des­tens eben­so als eine Ein­sicht in die spe­zi­fi­sche Natur des his­to­ri­schen Den­kens ver­stan­den wer­den: dass his­to­risch Den­ken­de (und somit auch his­to­risch Ler­nen­de) es selbst dort, wo sie sich im Bereich der “eige­nen” Geschich­te bewe­gen, wo sie die Ver­gan­gen­heit ihrer eige­nen Grup­pe, ihrer Nati­on, ihrer Kul­tur etc. in den Blick neh­men, mit Fremd­heit zu tun haben. “The past is a For­eign Coun­try” beti­tel­te David Lowen­thal (übri­gens von Hau­se aus Geo­graph) sein wohl ein­fluss­reichs­tes Werk (“They do things dif­fer­ent­ly the­re”). Der Zeit­ab­lauf selbst ist (bes­ser: die in ihm statt fin­den­den Ver­än­de­run­gen sind) es, die die Kul­tu­ren ein­an­der fremd macht. Selbst wer sich den Her­aus­for­de­run­gen inter­kul­tu­rel­len Fremd­ver­ste­hens ver­wei­gern woll­te, käme bei der Beschäf­ti­gung mit der Ver­gan­gen­heit nicht um ein sol­ches Fremd­ver­ste­hen her­um (es sei denn, die tem­po­ra­le Fremd­heit wür­de schlicht­weg geleug­net, im Modus tra­di­tio­na­ler Sinn­bil­dung für neben­säch­lich gegen­über den wei­ter gül­ti­gen Kon­stan­ten erklärt o.ä.).
Dass die spe­zi­fisch his­to­ri­sche Ein­übung in ein Fremd­ver­ste­hen auch zur Beför­de­rung der Fähig­keit zur ver­ste­hen­den und aner­ken­nen­den Aus­ein­an­der­set­zung mit gegen­wär­tig Frem­den führt, dass Geschich­te (und mit ihr Geschichts­un­ter­richt) also nicht nur per se inter­kul­tu­rell, son­dern dar­über­hin­aus inter­kul­tu­rel­lem Ver­stän­di­gen per se för­der­lich sind, kann gehofft und geglaubt wer­den, wäre aber noch zu untersuchen.
Bei der Refle­xi­on die­ser Fra­ge wird es wich­tig sein, sich auch die Unter­schie­de zwi­schen den bei­den For­men des Fremd­ver­ste­hens, näm­lich des syn­chro­nen (gleich­zei­ti­gen) gegen über ande­ren Kul­tu­ren einer‑, und des dia­chro­nen gegen­über ande­ren Zei­ten ande­rer­seits, zu vergegenwärtigen.

Eine Gra­fik mag dazu hilf­reich sein:

Fremdverstehen syn- und diachron

 

In die­ser Gra­fik bezeichnen:

  • 1 und 2 die Her­aus­for­de­run­gen zwi­schen gegen­wär­ti­gen “Kul­tu­ren”, Sub- und Teil“kulturen” ver­schie­dens­ter Art, sich in der heu­ti­gen Zeit mit­ein­an­der ver­stän­di­gen zu kön­nen, und dafür die Per­spek­ti­ve der jeweils Ande­ren zumin­dest par­ti­ell ein­neh­men zu kön­nen und sie zu “ver­ste­hen”. Da dies idea­ler­wei­se und als Her­aus­for­de­rung ein gegen­sei­ti­ger Pro­zess ist, ist es als Dop­pel­pfeil gezeichnet.
  • 3 und 4 hin­ge­gen die spe­zi­fisch his­to­ri­sche Her­aus­for­de­rung des Ver­ste­hens der Men­schen einer ande­ren Zeit. Die­ser Pro­zess ist (ent­ge­gen allen idea­lis­ti­schen Vor­stel­lun­gen eines “Gespräch[s] des mensch­li­chen Geis­tes über die Jahr­hun­der­te teil­zu­ha­ben …” — so der Titel der von K. GOEBEL 1990 hg. Fest­schrift für H. G. Kirch­hoff) nicht bi-direk­tio­nal und somit nur mit ein­fa­chen Pfei­len eingezeichnet.

Im Gegen­satz zu 1 und 2 ist die spe­zi­fisch his­to­ri­sche Her­aus­for­de­rung in 3 und 4 anders struk­tu­riert: Es kann auch idea­li­ter nicht um ein <em>gegenseitiges </​em> Ver­ste­hen des Frem­den gehen: der Auf­trag liegt allein bei uns. Dass unse­re Vor­fah­ren uns “ver­ste­hen” mögen, ist außer in Gedan­ken­spie­len, nicht plau­si­bel. Eben­so­we­nig aber kön­nen uns “die Ande­ren” ant­wor­ten außer­halb der Mate­ria­li­en aus ihrer Zeit, die sie uns über­las­sen haben bzw. die (wie auch immer) “auf uns gekom­men” sind. Es ist eben nicht mög­lich, dass die Frem­den mit ihrer Kom­pe­tenz des Fremd­ver­ste­hens uns ent­ge­gen­kom­men, uns kor­ri­gie­ren, mit uns über Wahr­neh­mun­gen, Deu­tun­gen, Be-Deu­tun­gen etc. ver­han­deln. His­to­ri­sches Fremd­ver­ste­hen ist eine ganz schön ein­sei­ti­ge Ange­le­gen­heit. Und, der Nach­welt, obliegt die Verantwortung.

  • 5 und 6 bezeich­nen sodann die dop­pel­ten Her­aus­for­de­run­gen, aus einer eige­nen heu­ti­gen Per­spek­ti­ven die Ver­gan­gen­heit einer ande­ren ver­ste­hen zu wol­len und/​oder sol­len, wie auch die Tat­sa­che, dass natür­lich “die Ande­ren” eben­so ihren Blick auf “unse­re” Ver­gan­gen­heit haben.
  • 7 und 8 schließ­lich bezeich­nen die (uns wie­der­um nur über Re-Kon­struk­tio­nen empi­risch fass­ba­re) Tat­sa­che, dass die Bezie­hun­gen von Fremd- und Selbst-Wahr­neh­mun­gen und somit das “Fremd­ver­ste­hen”, wenn auch nicht not­wen­dig als Norm, so doch aber als rea­le Her­aus­for­de­rung, natür­lich auch in der Ver­gan­gen­heit gege­ben waren.

In allen genann­ten Bei­spie­len sind — das kommt hin­zu — die Ele­men­te und Bezie­hun­gen nicht ein­fach gege­ben, son­dern müs­sen den­kend (re-)konstruiert wer­den. Wer “sie” sind, und wer “wir”, kann weder ein­fach als gege­ben ange­nom­men wer­den noch als in einem ein­ma­li­gen Denk­akt fest­zu­le­gen. Das liegt unter ande­rem dar­an, dass jeder Ein­zel­ne von uns nicht einem “Wir” ange­hört und somit jeder ein­zel­ne Ande­re nicht einem “sie”, son­dern vie­len gleich­zei­tig. So kommt es stän­dig vor, dass ein kon­kre­ter ande­rer Mensch in einer Hin­sicht Teil der “Wir”-Gruppe und in ande­rer Teil des “Sie” ist — sei es, dass ein Mit­schü­ler unse­rer Ler­nen­den im Rah­men einer Schul­ge­schich­te ein­mal als Ange­hö­ri­ger der Par­al­lel­klas­se erscheint, dann wie­der als Mit­glied der glei­chen Schu­le (eine Maß­stabs­fra­ge also), sei es dass ein Bekann­ter hin­sicht­lich sei­nes Musik­ge­schmacks “einer von uns” ist, aber lei­der Anhän­ger eines ande­ren Fußballvereins.

Hier nun schlägt die Dif­fe­ren­zie­rung zwi­schen syn- und dia­chro­nem Fremd­ver­ste­hen voll durch: Wäh­rend es im syn­chro­nen Ver­hält­nis mög­lich ist, mit dem Gegen­über über sei­ne Vor­stel­lun­gen des “wir” und des “sie” zu dis­ku­tie­ren, die jewei­li­ge Selbst-Sicht aktiv zu erfra­gen und aus­zu­tau­schen, gelingt dies gegen­über den Ange­hö­ri­gen frem­der Zei­ten nicht. Hier müs­sen die Selbst- und Fremd­bil­der mit Hil­fe der his­to­ri­schen Metho­de erschlos­sen werden.

Wich­ti­ger aber noch ist, dass das “Wir” und das “Sie” nicht nur kon­stru­iert wer­den müs­sen, son­dern dass in der his­to­ri­schen, dia­chro­nen Per­spek­ti­ve die Iden­ti­tät der bei­den (bzw. vie­len) Iden­ti­tä­ten über t1 und t2 hin­weg eben­so Kon­struk­tio­nen sind. Wer das “Wir” in einer Ver­gan­gen­heit war, muss eben­so den­kend erschlos­sen und plau­si­bel gemacht wer­den. Das gilt natür­lich für “Sie” ganz genau­so: Wel­che Tei­le der Ver­gan­gen­heit zur “Deut­schen” Geschich­te gehö­ren ist somit eben­so Gegen­stand von Kon­struk­ti­on wie der Umfang der “Tür­ki­schen Geschichte”.

Nr. 5 und 6 machen nun deut­lich, dass auch die­ses wie­der Gegen­stand inter­kul­tu­rel­ler Ver­hand­lungs­not­wen­dig­kei­ten sein kann. Was wir in unse­rer eige­nen his­to­rio­gra­phi­schen Tra­di­ti­on unter “Tür­ki­sche Geschich­te” fas­sen, muss mit dem Bild der heu­ti­gen Tür­ken kei­nes­wegs über­ein­stim­men — eben­so­we­nig wie die Vor­stel­lung des­sen, was “Deutsch­land” in Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart aus­macht, von uns allein bestimmt wer­den könnte.

His­to­ri­sches Fremd­ver­ste­hen umfasst also

  • die intel­lek­tu­el­le (dabei aber auch ästhe­ti­sche, mora­li­sche, poli­ti­sche etc.) Her­aus­for­de­rung, Men­schen in frü­he­ren Zei­ten  zu “ver­ste­hen”, wobei ein gegen­sei­ti­ges Ver­stän­di­gen über die­ses Ver­ste­hen, über das Gelin­gen von Ver­ständ­nis, nicht mög­lich ist. Man wird kei­ne Zustim­mung für sei­ne Deu­tungs­ver­su­che erhal­ten. Kom­mu­ni­ka­ti­ve Vali­die­run­gen eige­ner Deu­tun­gen durch Gesprä­che mit dem Betrof­fe­nen gelin­gen der Geschich­te nicht;
  • die intel­lek­tu­el­le (…) Her­aus­for­de­rung, gegen­wär­ti­ge “Ande­re” zu ver­ste­hen, und zwar im Fal­le der Geschich­te hin­sicht­lich ihrer Ori­en­tie­rungs­be­dürf­nis­se, ihrer his­to­ri­schen Selbst­ver­ständ­nis­se, ihrer Deu­tungs- und Erklä­rungs­mus­ter, Norm- und Wert­vor­stel­lun­gen und den dar­aus ent­ste­hen­den Geschichtsbildern.
  • die sich aus der Kom­bi­na­ti­on der bei­den erge­ben­de dop­pel­te Her­aus­for­de­rung, die his­to­ri­schen Iden­ti­täts­kon­struk­tio­nen “der Ande­ren” zu ver­ste­hen (und anzu­er­ken­nen), dabei aber selbst auch gegen­über den zeit­lich und kul­tu­rell Ande­ren selbst ein Ver­ständ­nis aufzubauen.

Ins­be­son­de­re mit Blick auf die spe­zi­fisch his­to­ri­sche Dimen­si­on kann “Ver­ste­hen” somit nicht tat­säch­li­chen gül­ti­gen Nach­voll­zug der Wahr­neh­mun­gen, Denk‑, Urteils- und Hand­lungs­wei­sen “der Ande­ren” mei­nen. Es kann man­gels der Mög­lich­keit der kom­mu­ni­ka­ti­ven Vali­die­rung weder der prin­zi­pi­el­len Unver­füg­bar­keit der Ver­gan­gen­heit und somit der prin­zi­pi­ell nar­ra­ti­ven Struk­tur his­to­ri­scher Deu­tun­gen, nicht dar­um gehen, die Ande­ren “in uns” abzu­bil­den. Weit­aus frucht­ba­rer als Gelin­gens­be­din­gung für “Ver­ste­hen” und “Ver­ständ­nis” ist die Kon­zep­ti­on eines “ver­stän­dig dar­über spre­chen” kön­nens. Damit wird nicht das uner­reich­ba­re Ide­al einer Annä­he­rung an die Ver­gan­gen­heit zum Kri­te­ri­um, son­dern die inne­re Plau­si­bi­li­tät des Nachvollzugs.

Gera­de weil dies so ist, ist aber auch zu for­dern, dass die eige­nen Kon­zep­te der “frem­den” Geschich­te (eben­so wie “frem­de” Geschich­ten über das “eige­ne”) auf der Ebe­ne der Gegen­wart kom­mu­ni­ka­tiv vali­diert wer­den. Das bedeu­tet, dass immer dort, wo es um “frem­de Geschich­te” geht, nicht nur auf der Ebe­ne der Quel­len, son­dern gera­de auch auf der­je­ni­gen der rezen­ten Deu­tun­gen beide/​alle Per­spek­ti­ven zumin­dest par­ti­ell her­an­ge­zo­gen werden.

Lite­ra­tur

ALAVI, BETTINA (1998): Geschichts­un­ter­richt in der mul­ti­eth­ni­schen Gesell­schaft. Eine fach­di­dak­ti­sche Stu­die zur Modi­fi­ka­ti­on des Geschichts­un­ter­richts auf­grund migra­ti­ons­be­ding­ter Ver­än­de­run­gen. Frank­furt am Main: IKO — Ver­lag für inter­kul­tu­rel­le Kom­mu­ni­ka­ti­on (Inter­dis­zi­pli­nä­re Stu­di­en zum Ver­hält­nis von Migra­tio­nen, Eth­ni­zi­tät und gesell­schaft­li­cher Mul­ti­kul­tu­ra­li­tät; 9).

ALAVI, BETTINA; BORRIES, BODO v. (2000): “Geschich­te.” In: REICH, HANS; HOLZBRECHER, ALFRED; ROTH, HANS JOACHIM (Hrsg.; 2000): Fach­di­dak­tik inter­kul­tu­rell. Ein Hand­buch. Opla­den: Les­ke + Bud­rich, S. 55 – 91.

DEHNE, BRIGITTE (2008): “ ‘Mit eige­nen Augen sehen’ oder ‘Mit den Augen des ande­ren sehen’? Eine kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit den geschichts­di­dak­ti­schen Kon­zep­ten der Per­spek­ti­ven­über­nah­me und des Fremd­ver­ste­hens.” In: BAUER, JAN-PATRICK; MEYER-HAMME, JOHANNES; KÖRBER, ANDREAS (Hrsg.; 2008): Geschichts­ler­nen – Inno­va­tio­nen und Refle­xio­nen. Geschichts­di­dak­tik im Span­nungs­feld von theo­re­ti­schen Zuspit­zun­gen, empi­ri­schen Erkun­dun­gen, nor­ma­ti­ven Über­le­gun­gen und prag­ma­ti­schen Wen­dun­gen — Fest­schrift für Bodo von Bor­ries zum 65. Geburts­tag. Ken­zin­gen: Cen­tar­u­rus Ver­lag (Rei­he Geschichts­wis­sen­schaft; 54), S. 121 – 144.

GOEBEL, KLAUS (1990): ”Am Gespräch des mensch­li­chen Geis­tes über die Jahr­hun­der­te teilzuhaben.”.Festschrift für H.-G. Kirch­hoff. Bochum: Brockmeyer.

HU, ADELHEID (2008): “Inter­kul­tu­rel­le Kom­pe­tenz. Ansät­ze zur Dimen­sio­nie­rung und Eva­lua­ti­on einer Schlüs­sel­kom­pe­tenz fremd­sprach­li­chen Ler­nens.” In: FREDERKING, VOLKER (Hrsg.; 2008): Schwer mess­ba­re Kom­pe­ten­zen. Her­aus­for­de­run­gen für die empi­ri­sche Fach­di­dak­tik. Balt­manns­wei­ler: Schnei­der Ver­lag, S. 11 – 35.

KOLLENROTT, ANNE INGRID  (2008). Sicht­wei­sen auf deutsch-eng­lisch bilin­gua­len Geschichts­un­ter­richt. Eine empi­ri­sche Stu­die mit Fokus auf inter­kul­tu­rel­les Ler­nen. Frank­furt a.M.: Lang.

KÖRBER, ANDREAS (Hrsg.; 2001): Inter­kul­tu­rel­les Geschichts­ler­nen. Geschichts­un­ter­richt unter den Bedin­gun­gen von Ein­wan­de­rung und Glo­ba­li­sie­rung. Kon­zep­tio­nel­le Über­le­gun­gen und prak­ti­sche Ansätze.1. Aufl.  Müns­ter: Wax­mann (Novem­ber­aka­de­mie; 2).

KÖRBER, ANDREAS (2010): “Theo­re­ti­sche Dimen­sio­nen des Inter­kul­tu­rel­len Geschichts­ler­nens.” In: Ventzke, Mar­cus; Mebus, Syl­via; Schrei­ber, Wal­traud (Hgg.; 2010): Geschich­te den­ken statt pau­ken in der Sekun­dar­stu­fe II. 20 Jah­re nach der fried­li­chen Revo­lu­ti­on: Deut­sche und europ­päi­sche Per­spek­ti­ven im gym­na­sia­len Geschichts­un­ter­richt. Rade­beul: Säch­si­sches Bil­dungs­in­sti­tut. S. 25 – 48.

LOWENTHAL, DAVID (1985): The Past is a For­eign Coun­try. Cam­bridge: Cam­bridge UP.

RÜSEN, JÖRN (Hrsg.; 1998): Die Viel­falt der Kul­tu­ren. Erin­ne­rung, Geschich­te, Iden­ti­tät 4. Frank­furt am Main: Suhr­kamp Taschen­buch Ver­lag (suhr­kamp taschen­buch wis­sen­schaft; 1405).

SCHÖRKEN, ROLF (1980): “Geschichts­un­ter­richt in der klei­ner wer­den­den Welt. Pro­le­go­me­na zu einer Didak­tik des Fremd­ver­ste­hens.” In: SÜSSMUTH, HANS (Hrsg.; 1980): Geschichts­di­dak­ti­sche Posi­tio­nen. Bestands­auf­nah­me und Neu­ori­en­tie­rung. Pader­born: Fer­di­nand Schö­ningh (UTB; 954), S. 315 – 336.

WITTE, ARND (2006): “Über­le­gun­gen zu einer (inter)kulturellen Pro­gres­si­on im Fremd­spra­chen­un­ter­richt.” In: Fremd­spra­chen leh­ren und ler­nen 35.

Multiperspektivität? Multiperspektivität!

11. Januar 2010 Andreas Körber 4 Kommentare

In der geschichts­di­dak­ti­schen Leh­re spielt das Prin­zip der “Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät” eine gro­ße Rol­le. Es scheint auch für die Stu­die­ren­den ein­gän­gig zu sein — jeden­falls feh­len posi­ti­ve Bezug­nah­men dar­auf in fast kei­ner Hausarbeit.
Oft aber han­delt es sich dabei um rei­ne Lip­pen­be­kennt­nis­se — oder um For­men, die zei­gen, dass die Ein­gän­gig­keit des Ter­mi­nus und die schein­ba­re Klar­heit oft ein tie­fe­res Ver­ständ­nis durch­aus erschwe­ren.  1

Ein Bei­spiel:
In man­chen Haus­ar­bei­ten wird das Prin­zip befür­wor­tet — eben­so wie in publi­zier­ten Unter­richts­bei­spie­len. Die skiz­zier­ten Unter­richts­pla­nun­gen bestehen dann dar­in, zu einem Kon­flikt (im wei­te­ren Sin­ne) jeweils eine Quel­le der einen und einer der ande­ren Kon­flikt­par­tei zu prä­sen­tie­ren und bear­bei­ten zu lassen:

  • bei The­ma­ti­sie­run­gen des deutsch-fran­zö­si­schen Ver­hält­nis­ses vom Krieg 1870/​71 zum 1. Welt­krieg wer­den Bei­spie­le der bei­der­sei­ti­gen Pro­pa­gan­da genutzt;
  • bei der Behand­lung des spa­nisch-bas­ki­schen Kon­flikts wird den Schü­lern präsentiert: 
    1. ein Arti­kel, wel­cher “den” ter­ro­ris­ti­schen Bas­ken alle Schuld gibt;
    2. ein Arti­kel, wel­cher zwi­schen exter­mis­ti­schen Bas­ken und sol­chen unter­schei­det, die in Frie­den leben wollen
  • das Ver­hält­nis der “Ras­sen” in den USA wird fol­gen­der­ma­ßen thematisiert: 
    1. ein Zei­tungs­ar­ti­kel, der die klas­si­schen Vor­ur­tei­le der Wei­ßen gegen­über den Schwar­zen (Ver­ge­wal­ti­gung wei­ßer Frau­en) prä­sen­tiert und Lynch­jus­tiz befürwortet;
    2. ein Arti­kel einer Jour­na­lis­tin, wel­che die Rea­li­tät inter­eth­ni­scher Lie­bes­be­zie­hun­gen her­aus­stellt. 2

Bei­de Arbei­ten lei­ten dar­aus die Ziel­stel­lung ab, die Schüler(innen) könn­ten am Ver­gleich der Arti­kel erken­nen, dass es nicht die eine wah­re Geschich­te gebe, son­dern dass “es” immer meh­re­re Per­spek­ti­ven “gebe”.

Das ist natür­lich die qua­si stan­dar­di­sier­te For­mel der Geschichts­di­dak­tik. Aber ist sie hier gerecht­fer­tigt? Ich habe mei­ne Zwei­fel. An bei­den Fäl­len lässt sich zei­gen, dass das Prin­zip der “Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät”  nicht durch die Gegen­über- oder Zusam­men­stel­lung irgend­wel­cher unter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven auf einen Sach­ver­halt ein­ge­löst wer­den kann, son­dern dass es der his­to­ri­schen Refle­xi­on der Per­spek­ti­ven bedarf — auf ihre Rele­vanz  für his­to­ri­sches Ler­nen näm­lich. 3  Nicht dass Quel­len unter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven auf den glei­chen Gegen­stand ent­stam­men, ist rele­vant, son­dern wel­cher Art die­ser Per­spek­ti­ven­un­ter­schied ist:

Dass Ver­tre­ter von geg­ne­ri­schen Par­tei­en eines Kon­flikts die­sen unter­schied­lich bewer­ten und dar­stel­len, ist unmit­tel­bar ein­sich­tig — auch den Schü­lern. Dar­aus ist wenig zu ler­nen. Das Pro­blem ist, dass sowohl den Kon­flikt­par­tei­en als auch den Schüler(inne)n der Vor­wurf der “Lüge” an die jeweils ande­re Par­tei bzw. (aus der Sicht des “neu­tra­len” Ler­nen­den) an eine von ihnen schnell zur Hand und er auch nicht ganz von der Hand zu wei­sen ist. Die Ein­sicht, die dem Prin­zip der Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät zu Grun­de liegt, näm­lich dass es zu jedem Zusam­men­hang zeit­ge­nös­sisch (auf der “Ebe­ne der Quel­len”) wie retro­spek­tiv (auf der “Ebe­ne der Dar­stel­lun­gen”) meh­re­re berech­tig­te Per­spek­ti­ven gibt, ja dass sol­che Per­spek­ti­ven­un­ter­schie­de not­wen­dig sind, ist dar­an kaum zu gewinnen.

Hier wäre also zu for­mu­lie­ren, dass im Sin­ne die­ser Ein­sicht rele­van­te Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät dann ent­steht, wenn Unter­schie­de der Beur­tei­lung eines Zustan­des oder einer Hand­lung (Quel­len) und in der spä­te­ren His­to­ri­sie­rung (Dar­stel­lung) nicht unmit­tel­bar auf ant­ago­nis­ti­sche Inter­es­sen zurück­ge­führt wer­den können.

Es ist also viel frucht­ba­rer, sol­che Per­spek­ti­ven zu kon­tras­tie­ren, die nicht ein­fach die Posi­tio­nen zwei­er Kon­flikt­par­tei­en abbil­den, son­dern die unter­schied­li­che Sicht­wei­sen auf den Kon­flikt auf “einer” Sei­te prä­sen­tie­ren — und so auch ver­schie­de­ne His­to­ri­sie­run­gen bzw. his­to­ri­sche Begrün­dun­gen präsentieren:

  1. Beim deutsch-fran­zö­si­schen Krieg 1870/​71 oder zum 1. Welt­krieg wären das etwa die Per­spek­ti­ve  von Natio­na­lis­ten und Kriegs­be­für­wor­tern gegen­über der­je­ni­gen von Pazi­fis­ten oder von Ver­tre­tern der Arbei­ter­be­we­gung, die den Zusam­men­halt der Pro­le­ta­ri­er befür­wor­ten — und zwar nach Mög­lich­keit auf der glei­chen, oder bes­ser noch: auf “bei­den” Sei­ten des Krieges;
  2. im spa­nisch-bas­ki­schen Ver­hält­nis wären etwa jeweils zu präsentieren: 
    1. eine bas­ki­sche Argu­men­ta­ti­on natio­na­lis­ti­scher Art, die viel­leicht eine ewi­ge Eigen­stän­dig­keit “der Bas­ken” betont,
    2. eine ande­re, die viel­fäl­ti­ge Bezie­hun­gen der Bas­ken zu ihren Nach­barn und Ver­än­de­run­gen des Selbst­ver­ständ­nis­ses betont

    Eben­so wären unter­schied­li­che “spa­ni­sche” Argu­men­ta­tio­nen und Nar­ra­ti­ve zu kontrastieren;

  3. in Bezug auf die Ras­sen­pro­ble­me in den USA wären viel­leicht zu nutzen: 
    • eine “schwar­ze”, wel­che eine bes­se­re Zukunft und ein fried­li­ches Zusam­men­le­ben zwi­schen Schwarz und Weiß vor­aus­sieht bzw. erstrebt;
    • eine ande­re “schwar­ze” Per­spek­ti­ve, wel­che nur auf Kon­fron­ta­ti­on und Kampf setzt;
    • eine “wei­ße” Per­spek­ti­ve, die offen ras­sis­tisch argu­men­tiert (wie die oben skizzierte);
    • eine wei­te­re “wei­ße” Per­spek­ti­ve, die die “Pro­ble­me mit den Schwar­zen” nicht auf deren Eigen­schaf­ten, son­dern auf deren Lage zurück­führt und so eine Ver­än­de­rungs­per­spek­ti­ve eröffnet.

Das nun gilt für alle Spiel­ar­ten von Multiperspektivität:

  • für die­je­ni­ge der zeit­ge­nös­si­schen Per­spek­ti­ven (Quel­len: “Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät” im enge­ren Sinne)
  • für die­je­ni­ge spä­te­rer Sinn­bil­dun­gen (Dar­stel­lun­gen: “Kon­tro­ver­si­tät”)
  • für die­je­ni­ge heu­ti­ger Schluss­fol­ge­run­gen und Urtei­le durch die Ler­nen­den “Plu­ra­li­tät”).

Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät ist also ein Prin­zip, das nicht ein­fach durch Viel­zahl und ‑falt und durch das for­ma­le Kri­te­ri­um “unter­schied­li­cher” Sicht­wei­se zu berück­sich­ti­gen ist, son­dern erst durch die Refle­xi­on auf das Ver­hält­nis der Per­spek­ti­ven zueinander.

Die oben genann­ten Kon­flikt­par­tei­en-Per­spek­ti­ven sind dabei nicht aus­ge­schlos­sen (zuwei­len sind sie durch­aus wich­tig), rei­chen aber nicht aus, um die dem Prin­zip zu Grun­de lie­gen­de Ein­sicht in die unhin­ter­geh­ba­re Per­spek­ti­vi­tät von Geschich­te und somit die Plu­ra­li­tät der Sinn­bil­dun­gen tat­säch­lich ein­sich­tig zu machen.

Anmer­kun­gen /​ Refe­ren­ces
  1. Vgl. auch den Bei­trag “Zur Unein­deu­tig­keit geschichts­di­dak­ti­scher Topoi”.[]
  2. Ent­spre­chen­de Quel­len sind etwa zu fin­den in dem Bei­trag MARTSCHUKAT, JÜRGEN; STORRER, THOMAS (2001): “Gewalt­er­fah­rung und Erin­ne­rung. Das Ende der Skla­ve­rei in den USA.” In: KÖRBER, ANDREAS (Hrsg.; 2001): Inter­kul­tu­rel­les Geschichts­ler­nen. Geschichts­un­ter­richt unter den Bedin­gun­gen von Ein­wan­de­rung und Glo­ba­li­sie­rung. Kon­zep­tio­nel­le Über­le­gun­gen und prak­ti­sche Ansät­ze. Müns­ter: Wax­mann (Novem­ber­aka­de­mie; 2), S. 193 – 203, der aller­dings weit­aus mehr Per­spek­ti­ven bereit­stellt.[]
  3. vgl.:  STRADLING, ROBERT (2004): Mul­ti­per­spec­ti­vi­ty in histo­ry tea­ching. A gui­de for tea­chers.: Coucil of Euro­pe, p. 19[]
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