Arbeitsbereich Geschichtsdidaktik / History Education, Universität Hamburg

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Neuer Titel erschienen

15. September 2021 Andreas Körber Keine Kommentare

Gera­de ist erschienen:
Titelbild: Tomann/Stach (2021): Historisches Reenactment. Berlin: deGryuter

Dar­in auch:
Kör­ber, Andre­as; Bleer, Anna; Kopisch, Anni­ka; Led­de­rer, Den­nis; Seh­l­mann, Jan Otto Hol­ger (2021): Didak­ti­sche Per­spek­ti­ven auf Ree­nact­ment als Geschichts­sor­te. In: Sabi­ne Stach und Julia­ne Tomann (Hg.): His­to­ri­sches Ree­nact­ment. Ber­lin: deGruy­ter (Medi­en der Geschich­te; 4), S. 97 – 129.
Die­ser Arti­kel ist ein Arbeits­er­geb­nis des Koope­ra­ti­ons­pro­jekts “Tea­ching Staff Resour­ce Cen­ter” mit der Public Histo­ry des Fach­be­reichs Geschich­te (Prof. Dr. Thors­ten Log­ge), kon­kret dem Pro­jekt­se­mi­nar zum Gebrauch von Geschich­te – Muse­um, Denk­mal, Film, Bild und Füh­rung in Get­tysburg (USA) und Grunwald/​Tannenberg (Polen) 2017 (gemein­sam mit Dr. Sebas­ti­an Kubon, und Dr. Sabi­ne Bam­ber­ger-Stem­mann von der Lan­des­zen­tra­le für Poli­ti­sche Bil­dung Ham­burg, in des­sen Rah­men u.a. eine Hand­rei­chung “Ree­nact­ments erschlie­ßen” ent­stand (Autor*innen: Anna Bleer, Anni­ka Kopisch, Den­nis Led­de­rer, Otto Sehlmann). 

Fußsoldaten in grauer Konföderierten-Uniform knien im Vordergrund vor einer Gruppe blau uniformierter Unionssoldaten

Reenactment: Nostalgische Sinnbildung per symbolisch-enaktiver “Wiedereinsetzung in den vorigen Stand”. Zur Logik und Typologie historischer Sinnbildung und ihrer (partiellen) Suspendierung im Reenactment.

17. August 2020 Andreas Körber Keine Kommentare

Einleitung

Über Ree­nact­ments als Geschichts­sor­te 1 wer­den in letz­ter Zeit vie­le ana­ly­ti­sche Unter­su­chun­gen publi­ziert. Dazu gehört auch das (sehr emp­feh­lens­wer­te) neue Buch von Ulri­ke Jureit, in wel­chem sie anhand unter­schied­li­cher Ree­nact­ments jeweils einen sys­te­ma­ti­schen Aspekt der per­for­ma­ti­ven Ver­ge­gen­wär­ti­gung von Ver­gan­gen­heit erör­tert. 2 An einer For­mu­lie­rung dar­aus möch­te ich kurz einen Aspekt zum Cha­rak­ter his­to­ri­scher Sinn­bil­dung in Ree­nact­ments aufzeigen.

Narrative Begriffe

In Jureits Kapi­tel über Ree­nact­ments des Ame­ri­ka­ni­schen Bür­ger­kriegs heißt es:

“In der geschichts­kul­tu­rel­len Debat­te über Ursa­chen und Zie­le des Ame­ri­ka­ni­schen Bür­ger­kriegs ver­engt sich die Kon­tro­ver­se gegen­wär­tig dar­auf, wel­che Rol­le die Skla­ve­rei und ihre Abschaf­fung bezie­hungs­wei­se ihre von der Kon­fö­de­ra­ti­on ange­streb­te Bei­be­hal­tung für den War bet­ween the Sta­tes spiel­te. Die inter­na­tio­na­le For­schung hat dazu bereits zahl­rei­che Stu­di­en vor­ge­legt, die den Civil War in ers­ter Linie als einen für das 19. Jahr­hun­dert typi­chen Staats- und Nati­ons­bil­dungs­krieg kenn­zeich­nen.” 3

An der hier zitier­ten Cha­rak­te­ri­sie­rung des Krie­ges lässt sich gut eine Spe­zi­fik his­to­ri­scher Sinn­bil­dung auf­zei­gen: Begrif­fe die­ser Art, wel­che Ereig­nis­se bzw. Ereig­nis­kom­ple­xe einer bestimm­ten Aus­prä­gung einer Typo­lo­gie zuord­nen, sind alles ande­re als rein typo­lo­gisch. Sie sind selbst nar­ra­tiv, inso­fern sie in der Dich­te eines ein­zel­nen Ter­mi­nus einen Ver­lauf ver­dich­ten, der über das Ereig­nis hin­aus­reicht. Sol­che Begriffs­zu­wei­sun­gen sind nur retro­spek­tiv mög­lich, in hind­sight. Zum einen lässt sich erst in die­sem Rück­blick das Ereig­nis “Ame­ri­ka­ni­scher Bür­ger­krieg” über­haupt gänz­lich fassen.

Selbst wenn bereits zeit­ge­nös­sisch eine Bezeich­nung als ein Bür­ger­krieg benutzt wor­den sein soll­te, muss­te sie in der kon­kre­ten Abgren­zung wenig sicher und unklar blei­ben. Zeit­ge­nös­sisch sind denn — wie Jureit auch ver­merkt — 4 ganz ande­re Bezeich­nun­gen ver­wen­det wor­den, so “War bet­ween the Sta­tes” aus kon­fö­de­rier­ter Per­spek­ti­ve (die Sezes­si­on vor­aus­set­zend und die Nor­ma­li­tät und Legi­ti­mi­tät des Kon­flikts als zwi­schen­staat­lich beto­nend) bzw. “Rebel­li­on” — nicht nur die Unrecht­mä­ßig­keit, son­dern auch die Inner­staat­lich­keit, d.h. die eigent­lich wei­ter­be­stehen­de Zusam­men­ge­hö­rig­keit hervorkehrend.

Jeder die­ser Begrif­fe erzählt somit eine ande­re Geschich­te. “War bet­ween the Sta­tes” setzt zunächst eine tat­säch­li­che Abspal­tung an den Beginn, “Rebel­li­on” leug­net ihre Tat­säch­lich­keit. Aber der wis­sen­schaft­li­che Begriff des “(typi­schen) Staats- und Nati­ons­bil­dungs­kriegs” rekur­riert neben der abschlie­ßen­den Abgren­zung des Ereig­nis­kom­ple­xes noch auf min­des­tens zwei wei­te­re Ele­men­te: Zum einen eine Regel­haf­tig­keit sol­cher Pro­zes­se, wenn nicht über alle Zei­ten, so doch inner­halb einer Zeit­span­ne (hier 19. Jh.), zum ande­ren aber auf die Kennt­nis der Wir­kung und des Nach­le­bens des Abge­schlos­se­nen Kon­flikts. “Nati­ons­bil­dungs­krieg” kann nur sein, was der Nati­ons­bil­dung gehol­fen hat. Dem tun auch bereits im Krieg erkenn­ba­re Bestre­bun­gen kei­nen Abbruch, genau eine sol­che Nati­ons­bil­dung expli­zit anzu­stre­ben — wie etwa schon in Lin­colns Get­tysburg Address vom 19. Novem­ber 1863 erkenn­bar. 5

Im vol­len Sin­ne aber setzt die Qua­li­fi­ka­ti­on des Krie­ges als “Staats- und Nati­ons­werkungs­krieg” nicht nur die erkenn­ba­re Absicht, son­dern die ent­spre­chen­de Wir­kung vor­aus. Für die Zeitgenoss:innen der Aus­ein­an­der­set­zung — sei es als Poli­ti­ker, Sol­da­ten, Ange­hö­ri­ge — aber kann der Kon­flikt die­se Qua­li­tät nicht gehabt haben. Für sie war es ein Kon­flikt nicht nur mit offe­nem Aus­gang, son­dern auch mit erhoff­ten und befürch­te­ten, nicht aber mit garan­tier­ten oder ein­ge­tre­te­nen Wirkungen.

Bei den Ree­nact­ments von Schlach­ten die­ses Bür­ger­kriegs nun mischen — nein: kom­bi­nie­ren und durch­drin­gen — sich nun die unter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven und ihre Nar­ra­ti­ve — und sie tun es gewis­ser­ma­ßen “schief”: Auf klei­nem Maß­stab — also mit hohem Abs­trak­ti­ons­grad — über­wie­gen Beto­nun­gen von Gemein­sam­keit und Ver­söh­nung. Sie impli­zie­ren zudem die Aner­ken­nung des tat­säch­li­chen Ergeb­nis­ses, wes­halb sie auf grö­ße­rem Maß­stab (also bei Betrach­tung ein­zel­ner Gebie­te, Schick­sa­le, in ein­zel­nen klei­ne­ren Erin­ne­rungs­for­men) aus Uni­ons­per­spek­ti­ve auch über­wie­gen dürf­te, woge­gen auf die­ser sel­ben Ebe­ne Nar­ra­ti­ve des “Lost Cau­se”, der Ver­ur­sa­chung des Krie­ges durch die Nega­ti­on der “Sta­tes’ Rights” etc. eher bei Anhän­gern kon­fö­de­rier­ter Sicht­wei­sen ver­tre­ten sein dürften.

Reenactments: Spannung zwischen narrativer Retrospektive und ihrer Suspendierung

Glei­ches fin­det sich im Ree­nact­ment. Es gibt Bei­spie­le dafür, dass Darsteller*innen ihre zu spie­len­den Trup­pen nicht nach ihrer eige­nen Inter­pre­ta­ti­on des Krie­ges aus­wäh­len, son­dern aus deut­lich prag­ma­ti­sche­ren Grün­den — etwa Wohn­ort­nä­he. Das stützt die Inter­pre­ta­ti­on, dass es um das Erin­nern an die von Nord- und Südstaaten(soldaten und ‑bewohner:innen) gemein­sam durch­lit­te­ne Prü­fung geht. Es kommt der Inter­pre­ta­ti­on des “Second Birth” und der retro­spek­tiv attes­tier­ten Nati­ons­bil­dungs­wir­kung am nächsten.

Gleich­zei­tig aber hat Ree­nact­ment auch eine zumin­dest par­ti­el­le Facet­te der Auf­he­bung des retro­spek­ti­ven Wis­sens und somit der aus hind­sight erstell­ten oder bestä­tig­ten Cha­rak­te­ri­sie­rung des Krie­ges. Im Erle­ben des wie­der­ver­ge­gen­wär­tig­ten Kamp­fes — ins­be­son­de­re bei den Tac­ti­cals, wel­che nicht einen rea­len Ablauf abbil­den, son­dern qua­si ergeb­nis­of­fen ‘aus­ge­foch­ten’ wer­den, fin­det sich so etwas wie eine sym­bo­li­sche und psy­chi­sche “Wie­der­ein­set­zung in den vori­gen Stand” (um eine juris­ti­sche For­mu­lie­rung zu entlehnen).

Einige in Uniformen des US-Bürgerkriegs gekleidete Männer stehen im Zeltlager vor einer Reihe Dixi-Toiletten. Gettysburg 7/2017. (c)A.Körber

“Nach­er­le­ben, wie es wirk­lich war (?). Eini­ge in Uni­for­men des US-Bür­ger­kriegs geklei­de­te Män­ner ste­hen im Zelt­la­ger vor einer Rei­he Dixi-Toi­let­ten. Get­tysburg 7/​2017. © A. Körber”

In die­sem Sin­ne ist in Ree­nact­ment zumin­dest par­ti­ell als eine sym­bo­li­sche Sus­pen­die­rung der Retro­spek­ti­ve und retro­spek­ti­ver Sinn­bil­dung zuguns­ten einer sug­ges­tiv-immersi­ven Wie­der­in­kraft­set­zung der Offen­heit zu erken­nen. Dies erzeugt natür­lich eine unauf­lös­ba­re Span­nung, denn aus der Retro­spek­ti­ve kön­nen Akti­ve natür­lich nicht wirk­lich aus­tre­ten. Zudem kann kei­nes­wegs vor­aus­ge­setzt wer­den, dass die ima­gi­nier­ten Ver­gan­gen­hei­ten zwi­schen den ein­zel­nen Akti­ven wirk­lich kom­pa­ti­bel wären. Das eine gemein­sa­me Agie­ren hat dabei eine beson­de­re Bedeu­tung der Authentifizierung.

Der Gleich­zei­tig­keit unter­schied­li­cher indi­vi­du­el­ler sowie (teil-)gesellschaftlicher und poli­ti­scher Bedürf­nis­se und Moti­ve ent­pre­chend dürf­ten bei Ree­nact­ment-Ereig­nis­sen ganz unter­schied­li­che Kom­bi­na­tio­nen nar­ra­ti­ver For­men his­to­ri­scher Sinn­bil­dung neben­ein­an­der und inein­an­der ver­schränkt im Spiel sein — und zwar sowohl zwi­schen Betei­lig­ten (Organisator:innen, Akteur:innen, Zuschauer:innen und Außen­ste­hen­den) als auch im Den­ken und Han­deln (aller?) ein­zel­ner. Letz­te­res deu­tet kei­nes­wegs auf eine Art his­to­rio­gra­phi­scher bzw. his­to­risch den­ken­der Inkon­se­quenz oder ‘Schi­zo­phre­nie’ hin, son­dern ist durch­aus ein Merk­mal allen his­to­ri­schen Denkens.

Konsequenzen für die Sinnbildungstypologie?

His­to­ri­sche Dar­stel­lun­gen und Aus­sa­gen, fol­gen sel­ten einem ein­zi­gen Sinn­bil­dungs­mus­ter, son­dern kom­bi­nie­ren zumeist meh­re­re, wie schon bei der Ent­wick­lung der Typo­lo­gie Jörn Rüsen fest­ge­stellt hat. 6 Es kommt daher sowohl für eine Cha­rak­te­ri­sie­rung und Inter­pre­ta­ti­on weni­ger auf eine “Rein­heit” der Erzähl- und Sinn­bil­dungs­mus­ter an als auf die nar­ra­ti­ve Trif­tig­keit gera­de auch der Kom­bi­na­tio­nen. Die­se kön­nen etwa sequen­ti­ell mit­ein­an­der ver­knüpft wer­den. 7

Eben­so ist aber auch eine Par­al­le­li­sie­rung denk­bar. Gera­de in den eher nach innen gerich­te­ten Facet­ten der nach­er­le­ben­den Qua­li­tät von Ree­nact­ments ist zuwei­len eine sol­che Ver­schrän­kung zwei­er Sinn­bil­dungs­mus­ter zu einer cha­rak­te­ris­ti­schen Kom­bi­na­ti­on zu erken­nen. Zusam­men­ge­fasst kann man sie auch als “nost­al­gi­sche Sinn­bil­dung” bezeich­nen: Dem ‘immersi­ven’ Nach­er­le­ben einer ver­gan­ge­nen Situa­ti­on oder Lebens­wei­se wird die Qua­li­tät eines Aus­stiegs aus einer als belas­tend emp­fun­de­nen Gegen­wart zuge­schrie­ben. Die Ver­gan­gen­heit wird die­ser Gegen­wart posi­tiv gegen­über­ge­stellt. So ver­bin­det sich im Wunsch der Fort­gel­tung dama­li­ger Lebens­ver­hält­nis­se eine ins nor­ma­tiv-opt­a­tiv ver­scho­be­ne tra­di­tio­na­le Sinn­bil­dung mit einer desk­tip­tiv-gene­ti­schen in der Aner­ken­nung ihrer seit­he­ri­gen (nega­ti­ven) Veränderung.

Ob hin­sicht­lich der ers­te­ren von einer ‘Ver­schie­bung’ der Sinn­bil­dung gespro­chen wer­den soll­te, muss wei­ter dis­ku­tiert wer­den. Man kann auch  grund­sätz­lich pos­tu­lie­ren, dass alle Sinn­bil­dun­gen nicht nur in posi­tiv-affir­ma­ti­ver Form und zwei kri­ti­schen Vari­an­ten vor­kom­men  8, son­dern auch jeweils in deskrip­ti­vem und nor­ma­ti­vem bzw. opt­a­ti­vem Modus. Eine sol­che Erwei­te­rung des Sinn­bil­dungs­mo­dells passt inso­fern zur theo­re­ti­schen Begrün­dung his­to­ri­schen Den­kens als Ori­en­tie­rungs­leis­tung, als der deskrip­ti­ve Modus zur Domä­ne der ‘Natur­zeit’ und der normative/​optative/​hypothetische Modus hin­ge­gen zu der­je­ni­gen der ‘Human­zeit’ gehört. 9

His­to­ri­sches Den­ken und Erzäh­len cha­rak­te­ri­siert sich dann kei­nes­wegs allein durch die Kom­bi­na­ti­on und Ver­schrän­kung von Erzähl­mus­tern unter­schied­li­chen Typs im rein des­krp­ti­vem Modus, nicht nur als eine Sinn­bil­dung über mani­fes­te und geahn­te Zeit­er­fah­rung, son­dern ins­be­son­de­re aus als ein Modus der sinn­bil­den­den Ver­bin­dung zeit­be­zo­ge­nen Erken­nens und Ver­ar­bei­tens mit ent­spre­chen­dem Wün­schen, Phan­ta­sie­ren etc. Dies scheint sich gera­de an sol­chen Geschichts­sor­ten (also geschichts­kul­tu­rel­ler Ver­ar­bei­tungs­for­men) zu zei­gen, die ein hypo­the­ti­sches Agie­ren in einer sym­bo­lisch ‘wie­der­ein­ge­setz­ten’ Ver­gan­gen­heit ermöglicht.

Enaktivität als handelnde Suspendierung der narrativen Retrospektive

Das aller­dings legt es nahe, die nicht nur kogni­ti­ve, son­dern kör­per­lich-räum­li­che Facet­te die­ser Geschichts­sor­ten eher als ‘enak­tiv’ denn als ‘per­for­ma­tiv’ zu bezeich­nen. Das ist durch­aus kon­sis­tent mit Mat­thi­as Mei­lers lin­gu­is­ti­scher Her­lei­tung des Wort­par­ti­kels “enact” im Begriff “Ree­nact­ment” aus der angel­säch­si­schen Ver­wal­tungs­spra­che. 10 Dem­nach geht die Bezeich­nung “to enact” auf die Bezeich­nung für einen Rechts­akt zurück, in dem ein Beschluss, ein Gesetz o.ä. “in Kraft gesetzt” wur­de. “Re-enact-ing” ist dem­nach das Wie­der­in­kraft­set­zen der Offen­heit der Situa­ti­on — und im Fall von Schlach­ten-Ree­nact­ments viel­leicht auch mit der Hoff­nung auf die Mög­lich­keit einer (eben­so sym­bo­li­schen) Neu­schaf­fung von Tat­sa­chen. 11.

Damit wäre zudem der Tat­sa­che Rech­nung getra­gen, dass sich die­se Qua­li­tät ja gar nicht so sehr auf eine nach außen — auf ein wie auch immer gear­te­tes oder vor­ge­stell­tes Publi­kum — rich­tet, son­dern als wesent­li­che Facet­te der Qua­li­fi­zie­rung der Situa­ti­on und ihres Sinns auf die Agie­ren­den selbst. Kom­ple­men­tär zur oben zitier­ten lin­gu­is­ti­schen Her­lei­tung aus der eng­li­schen Ver­wal­tungs­spra­che wäre damit die Bedeu­tung des Agie­rens für die Kon­struk­ti­on his­to­ri­schen Sinns ange­spro­chen, wie etwa im Kon­zept des “Enak­ti­vis­mus” der kon­struk­ti­vis­ti­schen Kogni­ti­ons­wis­sen­schaft (etwa nach Fran­cis­co Vare­la) die spie­le­ri­sche „Koin­sze­nie­rung von Wahr­neh­men­den und Wahr­ge­nom­me­nem“ begrif­fen wird, die gera­de nicht eine rei­ne auto­poie­ti­sche Erzeu­gung einer Vor­stel­lung ohne jeg­li­chen Bezug auf eine Wirk­lich­keit meint, son­dern den krea­ti­ve Ent­wurf der­sel­ben als Bild. 12

Das ist durch­aus kom­pa­ti­bel mit his­to­ri­schem Den­ken als Re-Kon­struk­ti­on einer zwar als gege­ben vor­aus­ge­setz­ten, nie aber beob­ach­ter­un­ab­hän­gig erkenn­ba­ren Ver­gan­gen­heit. Inso­fern ist Re-Enact­ment eine Form re-kon­struk­ti­ven his­to­ri­schen Den­kens. Das unter­schei­det sie etwa von äußer­lich und hin­sicht­lich eini­ger Orga­ni­sa­ti­ons­for­men ver­gleich­ba­ren Events und Sub­kul­tu­ren wie LARP und auch Sci­ence-Fic­tion-LARP 13, aber auch von “lite­ra­ri­schem Ree­nact­ment”. 14 Bei­den kommt nur indi­rekt auch his­to­ri­sche Qua­li­tät zu, inso­fern in ihnen a) an fik­tio­na­len Bei­spie­len auch außer­halb der Fik­ti­on gül­ti­ge Lebens­ver­hält­nis­se und Denk­wei­sen prä­sen­tiert wer­den (bei Insze­nie­run­gen von Roman­sze­nen geht es dann nicht um die kon­kre­ten Figu­ren und ihre Geschich­ten, wohl aber ste­hen sie für bestimm­te Zeit­ty­pi­ken) und b) mit ihnen Welt- und Gesell­schafts­bil­der (inklu­si­ve Zukunfts­vor­stel­lun­gen) ver­gan­ge­ner Autor:innen wie­der­be­lebt wer­den. Wer “Star Trek” spielt, spielt ja nicht ein­fach Zukunft, son­dern ggf. die Zukunfts­vor­stel­lun­gen der 1960er Jah­re (aller­dings ggf. mit den Aktua­li­sie­run­gen gem. der ja fort­ge­setz­ten Reihe).

Anmer­kun­gen /​ Refe­ren­ces
  1. Vgl. Log­ge, Thors­ten: “Histo­ry Types” and Public Histo­ry. In: Public Histo­ry Weekly 2018 (2018). []
  2. Jureit, Ulri­ke: Magie des Authen­ti­schen. Das Nach­le­ben von Krieg und Gewalt im Ree­nact­ment. Göt­tin­gen 2020 (Wert der Ver­gan­gen­heit). []
  3. Jureit 2020, S. 57, mit Ver­wei­sen auf McPher­son, Saut­ter und Kee­gan. []
  4. Jureit 2020, S. 58, FN 57. []
  5. Auch dies reflek­tiert Jureit in eini­ger Aus­führ­lich­keit wegen der dort erkenn­ba­ren Stif­tung eines ver­söh­nen­den Sinns des Krie­ges als gemein­sam erlit­te­ne Her­aus­for­de­rung;  Jureit 2020, S. 53 u. 61ff). []
  6. Rüsen, Jörn: Leben­di­ge Geschich­te. Grund­zü­ge einer His­to­rik III: For­men und Funk­tio­nen des his­to­ri­schen Wis­sens. Göt­tin­gen 1989 (Klei­ne Van­den­hoeck-Rei­he 1489), S. 42, 57. []
  7. Ein Bei­spiel: Erzäh­lun­gen eines gesell­schaft­li­chen Fort­schritts in tech­ni­scher, wirt­schaft­li­cher oder gesell­schaft­li­cher Hin­sicht sind oft­mals kei­nes­wegs allein dem Typ gene­ti­scher Sinn­bil­dung zuzu­ord­nen. Sie kom­bi­nie­ren die­sen viel­mehr mit tra­di­tio­na­ler Sinn­bil­dung inso­fern, als der gerich­te­ten Ent­wick­lung ein Ursprung zuge­schrie­ben wird, — etwa in den Ent­de­ckun­gen der Renais­sance und der Über­win­dung eines rein reli­giö­sen Welt­bil­des im Huma­nis­mus oder einer Erfin­dung als eher punk­tu­el­le Ursprün­ge für eine nach­fol­gen­de gerich­te­te Ent­wick­lung. []
  8. Vgl. Kör­ber, Andre­as: His­to­ri­sche Sinn­bil­dungs­ty­pen. Wei­te­re Dif­fe­ren­zie­rung. http://​www.pedocs.de​/​volltexte/​2013/​7264/​., näm­lich einer auf Erset­zung der kon­kre­ten Erzäh­lung durch eine glei­chen Typs zie­len­de ‘inne­re’ Kri­tik und eine, wel­che die nar­ra­ti­ve Logik der Sinn­bil­dung selbst kri­ti­siert. []
  9. Vgl. Rüsen, Jörn: His­to­ri­sche Ver­nunft. Grund­zü­ge einer His­to­rik I: Die Grund­la­gen der Geschichts­wis­sen­schaft. Göt­tin­gen 1983 (Klei­ne Van­den­hoeck-Rei­he 1489), S. 51. []
  10. Mei­ler, Mat­thi­as: Über das ‑en- in Ree­nact­ment. In: Ree­nact­ments. Medi­en­prak­ti­ken zwi­schen Wie­der­ho­lung und krea­ti­ver Aneig­nung. Hrsg. von Anja Dresch­ke, Ilham Huynh, Rapha­e­la Knipp u. David Sitt­ler. Bie­le­feld 2016 (Loca­ting media 8). S. 25 – 42. []
  11. Dass zuwei­len sol­che Ree­nact­ments auch mit dem Begriff des “Remat­ches” ver­bun­den und ange­kün­digt wer­den, deu­tet dar­auf hin. Vgl. z.B. zur Schlacht von Has­tings: Ungoed-Tho­mas, Jon (15.10.2006): “1066, the rematch: Harold loses again.” In: The Times (15.10.2006). []
  12. Vgl. Weber, Andre­as: Die wie­der­ge­fun­de­ne Welt. In: Schlüs­sel­wer­ke des Kon­struk­ti­vis­mus. Hrsg. von Bern­hard Pörk­sen. Wies­ba­den 2011. S. 300 – 318, S. 206. []
  13. Vgl. z.B. Engel­hardt, Micha­el: To bold­ly go … – Star Trek-LARP in unend­li­chen Wei­ten. In: Teil­zeit­Hel­den. Maga­zin für gespiel­te und erleb­te Phan­tas­tik (27.11.2015).[]
  14. vgl. Knipp, Rapha­e­la: Nach­er­leb­te Fik­ti­on. Lite­ra­ri­sche Orts­be­ge­hun­gen als Ree­nact­ments tex­tu­el­ler Ver­fah­ren. In: Ree­nact­ments. Medi­en­prak­ti­ken zwi­schen Wie­der­ho­lung und krea­ti­ver Aneig­nung. Hrsg. von Anja Dresch­ke, Ilham Huynh, Rapha­e­la Knipp u. David Sitt­ler. Bie­le­feld 2016 (Loca­ting media 8). S. 213 – 236. []
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Reenactment als Unterrichtsmethode — Bericht des Deutschlandradio und Facebook-Diskussion

23. Juni 2018 Andreas Körber Keine Kommentare

Inter­es­san­ter Bericht im Deutsch­land­ra­dio über “Ree­nact­ment” als Unterrichtsmethode:

Rol­len­spiel im Geschichts­un­ter­richt. Auf Klas­sen­fahrt in die DDR. Von Hen­ry Bernhard

Dazu eine Dis­kus­si­on auf face­book in der Grup­pe “kri­ti­sche Geschich­te”.

Hier­zu mei­ne Kom­men­ta­re aus der Dis­kus­si­on auch ein­mal hier:

    1. “Ree­nact­ment” ist kei­ne aner­kann­te Metho­de des Geschichts­un­ter­richts. Es ist eine Form des “Doing Histo­ry”, d.h. eine in außer­schu­li­scher Beschäf­ti­gung mit Geschich­te sowie in (auch durch Schu­le genutz­ten, dann aber oft als “living Histo­ry” beti­tel­ten und eher vor­füh­ren­der, sel­ten die Betrach­ter immersiv ein­be­zie­hen­der Form) Prä­sen­ta­tio­nen von Geschich­te (etwa in Muse­en) genutz­te Form der “Ver­ge­gen­wär­ti­gung” von Ver­gan­ge­nem mit enor­mer Band­brei­te zwi­schen expe­ri­men­tel­ler Archäo­lo­gie, Ver­an­schau­li­chung und ganz unter­schied­li­chen For­men gewis­ser­ma­ßen nost­al­gi­scher Ver­su­che, der Gegen­wart zu ent­flie­hen und in eine Ver­gan­gen­heit einzutauchen.Solche For­men sind legi­tim, wenn sie frei­wil­lig (also pri­vat oder in selbst gewähl­ten For­men) gesche­hen. Sie sind aber alle inso­fern frag-wür­dig, als dass alle Vor­stel­lun­gen, dass damit die Ver­gan­gen­heit selbst (“wie sie war”) ver­an­schau­licht, nach­ge­fühlt oder sonst wer­den könn­te. Mit ihnen ver­bun­den sind oft ganz unter­schied­li­che Vor­stel­lun­gen von “Authen­ti­zi­tät”, die aber alle(!) inso­fern begrenzt sind, als die Ver­gan­gen­heit eben gera­de nicht voll­stän­dig wie­der­holt wer­den kann — und auch nicht soll­te. Letz­te­res wäre eben über­wäl­ti­gend. Ree­nact­ment, Living Histo­ry sind dann wert­voll, wenn die­ses Ver­hält­nis zwi­schen _​zu_​ “ver­ge­gen­wär­ti­gen­der” Ver­gan­gen­heit und “ver­ge­gen­wär­ti­gen­der” Gegen­wart ange­spro­chen und reflek­tiert wird, wenn also auch die Wün­sche und Vor­stel­lun­gen, “die Ver­gan­gen­heit” immersiv zu erle­ben etc., die Unmög­lich­keit, das voll­stän­dig zu tun, und somit die Lei­tun­gen und Gren­zen (aber auch die in der Gesell­schaft vor­han­de­nen Wün­sche bzw. Kri­tik) the­ma­ti­siert werden.Schulische Metho­den (mit ver­gleich­ba­ren Gren­zen) sind Rol­len- und Plan­spie­le, die zwin­gend (!) vor­aus­set­zen, dass 1.) die Regeln des Über­wäl­ti­gungs­ver­bots (Beu­tels­bach, oben schon ange­spro­chen) nicht gebro­chen wer­den, und 2.) Pha­sen der Refle­xi­on (und somit des “aus-der-Rol­le-Tre­tens” sowie des Nach­den­kens über die Bedin­gun­gen und Gren­zen der Ver­su­che von Ver­an­schau­li­chung und Ein­füh­lung etc.) ein­ge­hal­ten wer­den.

      Inso­fern sol­che “Metho­den” ange­wandt wer­den, um die erkennt­nis­theo­re­tisch zwin­gen­de und unhin­ter­geh­ba­re Natur von Geschich­te als retro­spek­ti­ver (also des­sen Ver­gan­gen-Sein und die Nach­ge­schich­te ken­nen­der) Rekon­struk­ti­on von Ver­gan­ge­nem und der Aus­ein­an­der­set­zung damit auf der Basis der gegen­wär­ti­gen Kennt­nis­se und Wer­te auf­zu­he­ben, sind sie unge­eig­net. Inso­fern sie aber _​Gegenstand_​ der Refle­xi­on sind, sind ggf. par­ti­el­le, kon­trol­lier­te und reflektierte_​Versuche_​ der Ein­füh­lung durch­aus sinn­voll — dann sind sie aber anders als hier beschrieben.

      Das gilt nicht nur, aber beson­ders augen­fäl­lig dort zu, wo es um Gewalt­ge­schich­ten, Unrecht etc. geht. Wir kön­nen nicht wol­len, dass unse­re Schü­le­rin­nen und Schü­ler auch nur momen­tan das “ech­te” Gefühl haben, etwa Häft­lin­ge eines KZ zu sein. Es wür­de bedeu­ten, dass sie alle Hoff­nung fah­ren las­sen müss­ten, dass sie den Zivi­li­sa­ti­ons­bruch, den das KZ-Sys­tem bedeu­te­te etc., voll­stän­dig erfah­ren müss­ten. Es ist schlimm genug (und schon das klingt zu harm­los), dass Men­schen dies wirk­lich erfah­ren muss­ten. Ande­re wirk­lich in sol­che Situa­ti­on brin­gen zu wol­len, ist ein­fach unsäg­lich. Kein(e) Schüler(in) soll­te das Gefühl haben, wirk­lich im KZ, in der Sta­si-Zel­le oder sonst zu sein.
      Dazu kommt näm­lich ein zwei­tes: Es ist gegen­über dem tat­säch­li­chen Lei­den der dama­li­gen Opfer (und den tat­säch­li­chen Taten der Täter, wie auch dem han­deln aller ande­ren) unan­ge­mes­sen, das heu­ti­ge, not­wen­di­ger­wei­se begrenz­te Nach­spie­len für “immersiv”, für eine Ver­ge­gen­wär­ti­gung des Dama­li­gen aus­zu­ge­ben. Es muss not­wen­dig begrenzt blei­ben (die Schü­le­rin­nen und Schü­ler wis­sen hof­fent­lich stän­dig, dass es ein zeit­lich begrenz­tes Expe­ri­ment ist).

      Die nach­ge­spiel­te Sta­si-Ver­neh­mung ist nicht die Sta­si-Ver­neh­mung von damals, die Gedenk­stät­te ist kein KZ (zum Glück nicht mehr), die nach­ge­spiel­te Schlacht ist kein Kampf auf Leben und Tod — und das ist gut so.

      Was wir dage­gen wol­len kön­nen und müs­sen, ist dass die Schü­le­rin­nen und Schü­ler sich auf­grund unter­schied­li­cher Infor­ma­tio­nen ÜBER dama­li­ges Lei­den und Han­deln ALS HEUTIGE mit dem Dama­li­gen UND SEINER BEDEUTUNG für uns heu­te und in Zukunft aus­ein­an­der­set­zen. Das kann (ggf. muss) Ver­su­che auch der emo­tio­na­len Abs­trak­ti­on von der gegen­wär­ti­gen Sicher­heit etc. beinhal­ten — aber es darf die Gren­ze der Aus­ein­an­der­set­zung von heu­te aus nicht überschreiten.

      Begrenz­te und kogni­tiv wie emo­tio­nal reflek­tier­te Metho­den, um die heu­ti­ge und eigene(n) Wis­sens­be­stän­de und Perspektive(n) zu erwei­tern, sind nötig, nicht aber sol­che, sie zu ver­las­sen, und sowie­so nur begrenzt re-kon­stru­ier­ba­res für “wirk­li­ches Ver­gan­gen­heit” aus­ge­ben­des. Sie wer­den der Natur von Geschich­te eben­so wenig gerecht wie dem Lei­den und Han­deln der Men­schen in der gespiel­ten Zeit.

    2. Kri­te­ri­um des Gelin­gens vie­ler sol­cher “Metho­den” im Geschichts­un­ter­richt darf nicht sein, “die Ver­gan­gen­heit” so gut wie mög­lich “abzu­bil­den” oder “nach­zu­stel­len”. Das gilt etwa auch für “pro­jek­ti­ve Schreib­auf­ga­ben”, bei wel­chen Schüler(innen) aus der Per­spek­ti­ve einer (ech­ten oder als typisch ange­nom­me­nen fik­ti­ven) Per­son Brie­fe oder Tage­buch­ein­trä­ge etc. schreiben.Niemand kann tat­säch­lich beur­tei­len, wann das “gelun­gen” ist. Zumeist wer­den die­je­ni­gen Schüler(innen) gute Rück­mel­dun­gen (oder gar Noten) erhal­ten, die die Vor­stel­lung der Lehr­per­son am bes­ten tref­fen, oder die in den vor­her gelesenen/​gesehenen Mate­ria­li­en gezeich­ne­te Ver­gan­gen­heit am bes­ten “umsetzen”.Das heißt nicht, dass sol­che Ver­su­che unnütz sind. Sie müss­ten aber in eine Dis­kus­si­on im Ple­num dar­über füh­ren, wel­che Aspek­te der ent­ste­hen­den Tex­te (oder auch Vide­os) wie belegt sind, wo Ent­schei­dun­gen getrof­fen wer­den muss­ten, und wel­che Ope­ra­tio­nen des his­to­ri­schen Den­kens (etwa pro­be­wei­se Distan­zie­rung von der eige­nen Welt­sicht) nötig waren und sind. Die­se Dis­kus­sio­nen müss­ten nicht in Rich­tung “gut gelun­gen” oder “schlecht gemacht” geführt wer­den, son­dern dahin­ge­hend, wel­che Vor­aus­set­zun­gen und Ent­schei­dun­gen die Ergeb­nis­se so unter­schied­lich machen (wes­halb die Lehr­kraft immer auch eine eige­ne Lösung dabei haben soll­te, die nicht ein­fach “Stan­dard” ist, son­dern ggf. Kon­trast­ma­te­ri­al).

      Übun­gen in his­to­ri­schem Per­spek­ti­ven­wech­sel (denn dar­um han­delt es sich) dür­fen nie den Ein­druck erwe­cken, es gin­ge dar­um, die eige­ne Per­spek­ti­ve auf­zu­ge­ben und mög­lichst ein­deu­tig “die” ande­re ein­zu­neh­men. Es geht um die Refle­xi­on von Per­spek­ti­vi­tät — ein­schließ­lich der unhin­ter­geh­ba­ren Retro-Perspektivität.

    3. Noch grund­sätz­li­cher (und das The­ma par­ti­ell ver­las­send): Zwei Tei­le des Problems: 
      1. eine Auf­ga­ben-Un-Kul­tur des her­kömm­li­chen Geschichts­un­ter­richts, die fast nur For­ma­te kennt, die dem Typ der Leis­tungs­auf­ga­be ent­spre­chen, nicht aber genu­in Lern-Auf­ga­ben-Cha­rak­ter haben. Leis­tungs­auf­ga­ben for­dern vom Ler­nen­den ab, etwas rich­tig, voll­stän­dig etc. zu tun. Lern­auf­ga­ben hin­ge­gen set­zen eine Aus­ein­an­der­set­zung mit etwas neu­em in Gang, deren Ergeb­nis nicht gleich einer Beur­tei­lung unter­zo­gen wird, son­dern Aus­gangs­punkt für (mög­lichst gemein­sa­me, kol­la­bo­ra­ti­ve Refle­xi­on) ist. BEIDE Auf­ga­ben­ar­ten kön­nen so ange­legt wer­den, dass nicht eine, son­dern unter­schied­li­che mög­lich sind. Bei Leis­tungs­auf­ga­ben steht der Lösungs­raum aber weit­ge­hend fest (zumin­dest hin­sicht­lich der Beur­tei­lun­gen), bei Lern­auf­ga­ben wird er in der Aus­ein­an­der­set­zung mit meh­re­ren Bear­bei­tun­gen erarbeitet.
      2. Die in der Gesell­schaft und bei vie­len Ler­nen­den ver­brei­te­te Grund­auf­fas­sung, dass es beim Geschichts­ler­nen immer um “rich­ti­ge Aus­sa­gen über Ver­gan­ge­nes” gehen müss­te, nicht aber (oder nur nach­lau­fend und nach­ran­gig) um Arten und Wei­sen, For­men und Kri­te­ri­en vali­der Bezü­ge auf Ver­gan­ge­nes, also um (unter­schied­li­che) Inter­es­sen an Geschich­te und ihrer “Ver­ge­gen­wär­ti­gung”, um die Bedeu­tung der Ver­gan­gen­heit, um Kri­te­ri­en, Mög­lich­kei­ten und Gren­zen. Solan­ge Schü­le­rin­nen mit der Vor­stel­lung in den Unter­richt kom­men _​und im Unter­richt dar­in bestärkt werden_​, dass am Ende die Lehr­kraft sagen kön­ne, “wie es wirk­lich war”, solan­ge die­ser “Default-Modus” der Teil­nah­me an GU nicht in die­sem Unter­richt der­art pro­duk­tiv auf­ge­bro­chen wird, dass Schü­le­rin­nen und Schü­ler erken­nen, dass sie es selbst sind und sein müs­sen, die ein ver­ant­wort­li­ches Ver­hält­nis zur Ver­gan­gen­heit und zu ihren Funk­tio­nen in der Gegen­wart auf­bau­en müs­sen und kön­nen, so lan­ge ist Geschichts­un­ter­richt der zugleich demo­kra­ti­schen und plu­ra­len (auch hete­ro­ge­nen) Gesell­schaft nicht zuträglich.

[auf einen län­ge­ren Ein­wand, in dem Bei­spiel gehe es ja nicht um Gewalt- son­dern All­tags­si­tua­tio­nen, und Refle­xi­on sei bei vie­len sol­cher Aktiv­ti­tä­ten (bes. in Schul­mu­se­en) durch­aus vorgesehen]

    1. Ja, es ist sicher rich­tig, dass das “harm­lo­ser” ist, wenn es kei­ne Gewalt­er­fah­run­gen sind.Gleichwohl muss man auch hier fra­gen, was denn die­sen All­tag gegen­über dem der frei­wil­lig oder unfrei­wil­lig re-enac­ten­den aus­zeich­net, dass er re-enac­ted wer­den soll. Es geht offen­kun­dig um All­tag, des­sen Unter­schied­lich­keit von dem der Gegen­wart erfah­ren wer­den soll: “Alteri­täts­er­fah­rung”. Aber ohne expli­zi­te Refle­xi­on bleibt das a‑historisch.

      Ich ken­ne gera­de auch in Schul­mu­se­en sol­ches “Nach­spie­len” von Unter­richt, das nicht nur Schrei­ben in “Süt­ter­lin” etc . ist, son­dern bei dem bestimm­te Auto­ri­täts­er­fah­run­gen (Dis­zi­plin und Stra­fen etc.) simu­liert wer­den. Da muss man dann doch fra­gen, was der gewünsch­te Effekt sein soll, und was wirk­li­che “Ein­sich­ten” sein können:

      - “Jetzt erlebt Ihr ein­mal, wie streng Schu­le damals war” (seid froh über Eure Frei­hei­ten heu­te)? — wie his­to­risch ist das? Inwie­fern wird gespiel­tes “in der Ecke ste­hen”, gespiel­tes Mokie­ren der Klas­se über fal­sche Ant­wor­ten etc. — wenn es denn schon nicht als rea­le heu­ti­ge Demü­ti­gung erfah­ren wird — der dama­li­gen Wirk­lich­keit ech­ter Demü­ti­gung gerecht? Inwie­fern erzeugt es ggf. eine Abwehr kri­ti­schen Den­kens über heu­ti­ge Struk­tu­ren, inwie­fern erzeugt es “Erleich­te­rung, heu­te zu leben”, die mit dama­li­gem Den­ken gar nichts zu tun hat. Damit will ich gar nichts gegen sol­che Spiel­sze­nen sagen. Solan­ge aber nicht reflek­tiert wird, dass sie uns nicht nur anders, son­dern als einer über­wun­de­nen Zeit (“damals noch — aber heu­te”) zuge­hö­rig erschei­nen, weil wir spä­te­res ken­nen, ist es a‑historisch. Dass ggf. die gespiel­ten, von heu­te aus (im harm­lo­sen Fall) “rück­stän­dig” erschei­nen­den Struk­tu­ren, Metho­den etc. in der dama­li­gen Situa­ti­on durch­aus auch als Fort­schritt erschie­nen sein kön­nen (Zugang zu Unter­richt für vie­le) — und GLEICHZEITIG aus heu­ti­ger Sicht untrag­bar wären , das wäre etwa auch zu thematisieren.

      - Gleich­zei­tig besteht natür­lich auch die Mög­lich­keit (hof­fent­lich sel­te­ner), dass bestimm­te Struk­tu­ren, die als zum “Damals” gehö­rig vor­ge­stellt wer­den, für man­che Besu­cher gar nicht ver­gan­gen sind, son­dern durch­aus zu eige­nen Erfah­run­gen pas­sen. Das wäre ein guter Anlass zum Spre­chen, bedarf aber beson­de­rer Thematisierung.

      - Inwie­fern alle sol­chen “Erleb­nis­se” eben kei­ne Erleb­nis­se von etwas Ver­gan­ge­nem sind, son­dern Insze­nie­run­gen einer bestimm­ten Auf­fas­sung von Ver­gan­ge­nem, das erst in der Retro­spek­ti­ve in die­ser Form dar­ge­stellt und gespielt wer­den kann, und das gleich­zei­tig an zumeist genau den­je­ni­gen Stel­len “ent­schärft” wird, die noch am ehes­ten der Dis­kus­si­on bedürf­ten (eben Dis­zi­pli­nie­rung, Gewalt, Ideo­lo­gie), müss­te eben­so reflek­tiert werden.

      Tem­po­ra­ler Exo­tis­mus reicht eben als Inten­ti­on, mit Schü­le­rin­nen und Schü­lern ein Schul­mu­se­um zu besu­chen, eben­so wenig wie klamm­heim­li­che Nost­al­gie. Das aber bedeu­tet, dass die Spiel­pha­sen und ‑sze­nen nicht nur zwin­gend nach­be­rei­tet wer­den müs­sen (und zwar vor Ort, im Gespräch mit den Spie­len­den und mit The­ma­ti­sie­rung der gehab­ten Erfah­run­gen und Gefüh­le, der dar­aus ent­ste­hen­den Fra­gen an das Damals UND sei­ne Bedeu­tung für heu­te), son­dern auch vor-berei­tet, indem etwa von den Schü­le­rin­nen und Schü­lern Erwar­tun­gen (incl. Ängs­te, Roman­ti­sie­run­gen etc.) gesam­melt wer­den. Man kann das öffent­lich im Ple­num tun, bes­ser aber ist es, das anonym vor­zu­neh­men (Kar­ten schrei­ben), viel­leicht soll­te aber auch zunächst jede® für sich die Erwar­tung auf­schrei­ben, die dann nach gehab­ter Erfah­rung erst jeweils selbst wie­der gele­sen und reflek­tiert wird.

und schließ­lich:

  1. Alle Moti­ve und Ziel­vor­stel­lun­gen, Ler­nen­den (oder ande­ren, Besu­chern von Aus­stel­lun­gen etwa) “die Ver­gan­gen­heit” oder wenigs­tens “Ver­gan­ge­nes” “näher brin­gen zu wol­len” — oder umge­kehrt, sie “der Ver­gan­gen­heit” “näher” brin­gen zu wol­len, sie “in die Ver­gan­gen­heit rei­sen” las­sen zu wol­len etc., sind im bes­ten Sin­ne frag-wür­dig. Sie müs­sen befragt und reflek­tiert wer­den, sie dür­fen allen­falls tem­po­rä­re Teil-Zie­le für ein­zel­ne Pha­sen sein, die kei­ne eige­ne Legi­ti­mi­tät haben, son­dern die­se erst dadurch gewin­nen, dass sie in umfas­sen­de­re Zie­le gegen­wär­ti­ger Refle­xi­on über das Ver­hält­nis des jewei­li­gen “Ver­gan­ge­nen” zur eige­nen Gegen­wart und Zukunft ein­ge­bet­tet sind.

Vortrag zu “Living History” und Historischem Lernen in Warschau

25. Februar 2017 Andreas Körber Keine Kommentare

Am 23. und 24.2. 2017 fand im Deut­schen His­to­ri­schen  Insti­tut in War­schau eine inter­na­tio­na­le Tagung statt zum The­ma  “Step­ping Back in Time Living Histo­ry and Other Per­for­ma­ti­ve Approa­ches to Histo­ry in Cen­tral and South-Eas­tern Euro­pe.” Ich habe dort einen Vor­trag zu Fra­gen des His­to­ri­schen Ler­nens in die­sem Zusam­men­hang gehal­ten. Nach­trag 23.5.2017: Ein Tagungs­be­richt fin­det hier sich auf H‑SOZ-KULT.

ANMELDUNG VERLÄNGERT BIS 28.2.2017: Zusätzliches Lehrangebot im SoSe 2017: Seminar mit Exkursion nach USA/​Polen

08. Februar 2017 Andreas Körber Keine Kommentare

Lie­be Kommiliton(inn)en,
nach der ers­ten Anmel­de­run­de sind noch Plät­ze frei — ins­be­son­de­re für den Teil zu Grundwald/​Tannenberg mit der Exkur­si­on nach Polen!
Neue Anmel­de­frist: 28. Febru­ar 2017!
Anmel­dun­gen bit­te zur Sicher­heit per Mail AUCH AN MICH: andreas.​koerber@​uni-​hamburg.​de
Gruß

 

Das Semi­nar ist für Lehr­amts­stu­die­ren­de ein Fach­di­dak­tik M.Ed.-Seminar “Wei­ter­füh­rung der Fach­di­dak­tik Geschich­te” (Modul 001k). Es ist für Stu­die­ren­de im B.A./B.Sc.-Lehramt Geschich­te mit abge­schlos­se­ner Modul­prü­fung zugäng­lich und kann spä­ter im M.Ed.-Studium ange­rech­net werden