Arbeitsbereich Geschichtsdidaktik / History Education, Universität Hamburg

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Historisch Denken Lernen an den neuen Debatten um die Schuld am Ersten Weltkrieg — aber wie?

05. Januar 2014 Andreas Körber 4 Kommentare

Es war ja zu erwar­ten, dass im Vor­feld des hun­dert­jäh­ri­gen Geden­kens des Beginns des Ers­ten Welt­krie­ges die Debat­ten um die Ursa­chen und ins­be­son­de­re um die “Schuld” an die­sem Krieg eine erneu­te Kon­junk­tur erle­ben wür­den. Nicht nur die gro­ße neue Unter­su­chung von Chris­to­pher Clark, wel­che die ins­be­son­de­re von Fritz Fischer ver­tre­te­ne The­se vom deut­schen Kriegs­wil­len und ins­be­son­de­re von der vor­nehm­lich deut­schen Ver­ant­wor­tung erneut in Fra­ge stellt, hat dazu deut­lich beigetragen.

Was aber ist dar­aus zu ler­nen? Geht es dar­um, die — wenn man den Kom­men­ta­to­ren folgt — vor­nehm­lich in libe­ra­len und “lin­ken” Krei­sen popu­lä­re The­se der deut­schen “Allein­schuld” in den Köp­fen der Men­schen aus­zu­tau­schen gegen die neue, Clark’sche Vari­an­te einer mehr­sei­tig ver­teil­ten Ver­ur­sa­chung? Das wäre his­to­ri­sches Ler­nen im Sin­ne einer recht kru­den Kon­zep­ti­on von “Abbild­di­dak­tik”, der zufol­ge die jeweils aktu­el­len Erkennt­nis­se der His­to­ri­ker als bes­te Annä­he­run­gen an die “his­to­ri­sche Wahr­heit” zu “ver­mit­teln”, nein, zu “über­mit­teln” sei­en. Und es wäre doch all­zu wenig — nicht nur, weil es letzt­lich an der rezep­ti­ven Abhän­gig­keit der so Belehr­ten von den For­schun­gen der Fach­leu­te (und den publi­zis­ti­schen Macht­ver­hält­nis­sen unter ihnen) nicht ändert, son­dern auch, weil damit der letzt­lich unpro­duk­ti­ven Vor­stel­lung einer his­to­ri­schen “Wahr­heit” Vor­schub geleis­tet wür­de, die in Form einer Annä­he­rung an die ver­gan­ge­ne Wirk­lich­keit her­kommt, und nicht der weit­aus anschluss- und ori­en­tie­rungs­fä­hi­ge­ren Kon­zep­ti­on, der­zu­fol­ge es um die Qua­li­tät als rela­tio­na­ler Kon­zep­te zwi­schen Gegen­wart und Ver­gan­gen­heit gedach­ter his­to­ri­scher Aus­sa­gen geht, die sich in ihrer Zustim­mungs­fä­hig­keit (“Trif­tig­keit” oder “Plau­si­bi­li­tät” in drei oder vier Dimen­sio­nen; vgl. Rüsen 1994; Rüsen 2013) bemisst. Anders gesagt: Wer über und an historische(n) Deu­tun­gen ler­nen will, muss die jeweils spe­zi­fi­schen Ori­en­tie­rungs­be­dürf­nis­se, die Norm­vor­stel­lun­gen, die Impli­ka­tio­nen der ein­zel­nen Inter­pre­ta­tio­nen usw. mitdenken.

In die­sem Zusam­men­hang sind — wie so oft — publi­zis­ti­sche Inter­ven­tio­nen von His­to­ri­kern und ande­ren öffent­li­chen “Ver­mitt­lern” mit­samt den öffent­li­chen Reak­tio­nen inter­es­sant, wie sie etwa in den Debat­ten unter Online-Zei­tungs­ar­ti­keln zuhauf zu fin­den sind. Weit davon ent­fernt zu glau­ben, dass die­se “die öffentliche(n) Meinung(en)” bzw. deren Ver­tei­lung relia­bel abbil­de­ten oder auch nur die wah­re Mei­nung der jewei­li­gen (oft­mals anony­men) Autoren, hal­te ich die­se Debat­ten doch für sehr geeig­net, his­to­ri­sches Den­ken zu ler­nen, weil sie zum Teil pro­to­ty­pisch über­höht und zuge­spitzt Deu­tun­gen und Schluss­fol­ge­run­gen, Sach­ver­halts­auss­gaen, Sach- und Wert­ur­tei­le prä­sen­tie­ren, die als “sag­bar” gel­ten. Es geht also in gewis­ser Form um Dis­kurs­ana­ly­sen in rudi­men­tä­rer Form, um aus ihnen mög­li­che und unmög­li­che, zustim­mungs­fä­hi­ge und pro­ble­ma­ti­sche For­men his­to­ri­scher Sinn­bil­dung samt ihrer Gel­tungs­an­sprü­che und ent­spre­chen­der Appel­le an die Leser erschließ­bar zu machen, ohne dass am Ende eine gemein­sa­me Sicht, eine von allen geteil­te Bewer­tung ste­hen muss — hof­fent­lich aber doch eini­ges an bes­se­rem Ver­ständ­nis über die Be-Deutung(en) der jewei­li­gen Geschichten.

Die For­men, wel­che die Debat­te gegen­wär­tig anzu­neh­men beginnt, sind da schon sehr aufschlussreich.

In der WELT for­dern heu­te vier nam­haf­te deut­sche Historiker(innen), näm­lich Domi­nik Geppert, Sön­ke Neit­zel, Cora Ste­phan und Tho­mas Weber, die Ablö­sung der The­se von der Deut­schen Allein­schuld (“War­um Deutsch­land nicht allein Schuld ist”) — und zwar durch­aus mit (beden­kens­wer­ten) Argu­men­ten, die nicht nur auf die Ver­gan­gen­heit zie­len, son­dern gera­de auch auf die mög­li­chen Wir­kun­gen im gegen­wär­ti­gen poli­ti­schen Feld der euro­päi­schen Poli­tik. In unse­rem Zusam­men­hang inter­es­sant ist dabei die oben beraits ange­deu­te­te Bewer­tung der The­se von deut­scher Schuld als “lin­ker Mythos”. Die sich anschlie­ßen­de Dis­kus­si­on (“Kom­men­ta­re”) erweist sich aber als noch inter­es­san­ter. Wo die Historiker(innen) die Eig­nung des Ers­ten Welt­kriegs und der Schuld­fra­ge zur Bekämp­fung von Natio­na­lis­mus bezwei­feln, neh­men vie­le Kom­men­ta­to­ren die­se Ableh­nung der Fischer-The­se zum Anlass, um in durch­aus rein natio­na­lem Den­ken wie­der­um die Schuld ent­we­der direkt bei den dama­li­gen Fein­den der Deut­schen zu ver­or­ten oder die­se von jeg­li­cher Schuld frei­zu­spre­chen. Wie dort die Kate­go­rien durch­ein­an­der gehen, etwa “Ursa­che”, “Anlass”, aber auch “Schuld” und “Ver­ant­wor­tung”, macht deut­lich, dass der Opti­mis­mus der His­to­ri­ker, mit der kor­rek­ten his­to­ri­schen Deu­tung sol­cher­lei Natio­na­lis­men zu erschwe­ren, reich­lich unbe­grün­det erscheint.

Noch inter­es­san­ter wird es aber, wenn man gleich­zei­tig einen Arti­kel des eng­li­schen Bil­dungs­mi­nis­ters Micha­el Gove in der eng­li­schen Dai­ly Mail her­an­zieht — und den dazu­ge­hö­ri­gen Kom­men­tar im Guar­di­an von sei­nem “Schatten”-Kollegen Tri­st­ram Hunt). In ers­te­rem (“Micha­el Gove blasts ‘Black­ad­der myths’ about the First World War spread by tele­vi­si­on sit-coms and left-wing aca­de­mics”) kri­ti­siert Gro­ve unter ande­ren “lin­ke” Geschichts­my­then, und zwar mit Hil­fe einer — so Hunt — “berei­nig­ten” Ver­si­on der The­sen von Max Has­tings, denen zufol­ge der Krieg ein “not­wen­di­ger Akt des Wider­stan­des gegen ein mili­ta­ris­ti­sches, kriegs­trei­be­ri­sches und impe­ria­lis­ti­sches Deutsch­land” (wört­lich: “a neces­sa­ry act of resis­tance against a mili­ta­ristic Ger­ma­ny bent on war­mon­ge­ring and impe­ri­al aggres­si­on”) gewe­sen sei — mit einer Neu­auf­la­ge von Fritz Fischers The­se der deut­schen Kriegs­schuld also. “In an artic­le for the Dai­ly Mail, Mr Gove says he has litt­le time for the view of the Depart­ment for Cul­tu­re and the For­eign Office that the com­me­mo­ra­ti­ons should not lay fault at Germany’s door” ‑schreibt Mail Online. Ganz ähn­lich und in der poli­ti­schen Aus­rich­tung noch deut­li­cher auch Boris John­son: “Ger­ma­ny star­ted the Gre­at War, but the Left can’t bear to say so” im “Tele­graph”.

Bei­der­seits der Nord­see also eine Ableh­nung “lin­ker” The­sen — nur, dass ein­mal The­sen Fischers als sol­che gel­ten und sie ein­mal gegen sol­che in Anschlag gebracht wer­den. Grund genug also, gera­de auch in die­sem Fal­le nicht allein nach der “Wahr­heit” zu fra­gen, son­dern die Nar­ra­tio­nen kon­kret zu prü­fen — zu de-kon­stru­ie­ren, um in der Ter­mi­no­lo­gie von FUER zu bleiben.

Natür­lich sind die Kom­men­ta­re auch in der Dai­ly Mail und im Guar­di­an eben­falls inter­es­sant und ein­zu­be­zie­hen und natür­lich wird noch vie­les gesche­hen in der Debat­te. Erst mit ihnen, mit Nar­ra­ti­on, Inter­pre­ta­ti­on sowie Wer­tung und den jewei­li­gen viel­fäl­ti­gen Gegen­po­si­tio­nen aber wird ein Mate­ri­al dar­aus, wel­ches es für his­to­ri­sches Ler­nen im kom­pe­tenz­ori­en­tier­ten Sin­ne geeig­net macht.

Eine klei­ne Anmer­kung mei­ner­seits sei aber noch gestattet:
Die Abwehr der Fischer-The­se als “links” und zu gefähr­lich idea­lis­tisch und die Befür­wor­tung einer rea­lis­ti­sche­ren Sicht auf die Ursa­chen des Ers­ten Welt­kriegs auch als Basis für eine rea­lis­ti­sche­re Poli­tik in Euro­pa mag ja rich­tig sein. Aber es darf nicht ver­kannt wer­den, dass gera­de auch die Fischer-Kon­tro­ver­se in einem his­to­ri­schen Zusam­men­hang steht — wie auch die deut­sche Erin­ne­rungs­po­li­tik zuvor. Dass die Fischer-The­se nicht zur Abwehr von Natio­na­lis­mus tau­ge, ist also nur begrenzt rich­tig. In den 60er Jah­ren und ange­sichts der Fort­set­zung der Ent­schul­di­gungs­po­li­tik der Zwi­schen­kriegs­zeit (man Den­ke an “Die gro­ße Poli­tik der euro­päi­schen Kabi­net­te”) hat­te die Her­aus­ar­bei­tung wenn nicht der “Allein­schuld”, so aber doch des deut­li­chen Kriegs­wil­lens durch­aus ihre Berech­ti­gung und Funk­ti­on — die Kom­men­ta­re zum WELT-Arti­kel bele­gen das indi­rekt noch heute.

Und noch ein paar Anmer­kun­gen — als Nachtrag:

  • Die Inter­ven­tio­nen bei­der hier in aller Kür­ze vor­ge­stell­ter Sei­ten gehen gegen “lin­ke” Geschichts­bil­der und füh­ren gegen sei das Inter­es­se an Wahr­heit und Ehr­lich­keit an. Das klingt zunächst ein­mal gut. Aber die Oppo­si­ti­on von “Wahr­heit” und “Ehr­lich­keit” gegen “poli­ti­sche” Geschichts­bil­der ist in sich selbst falsch — und zwar zunächst (!) unab­hän­gig davon, wel­cher poli­ti­schen Rich­tung die kri­ti­sier­ten Geschichts­bil­der ent­stam­men. Es wür­de schon enorm wei­ter­hel­fen, aner­zu­er­ken­nen, dass jede Posi­ti­on, wel­che für sich poli­ti­sche Neu­tra­li­tät, unpo­li­ti­sche “Ehr­lich­keit” und “Wahr­heit” bean­sprucht, ihrer­seits emi­nent poli­tisch ist — und zwar nicht nur, weil die sie behaup­ten­den Autoren jeweils selbst (hof­fent­lich) poli­ti­sche Men­schen mit Über­zeu­gun­gen, Posi­tio­nen und Vor­stel­lun­gen für gegen­wart und Zukunft sind und ihre Vor­stel­lun­gen von der Ver­gan­gen­heit von ihnen mit geprägt wer­den, son­dern auch weil die Vor­stel­lung einer vor­po­li­ti­schen Raums der Wahr­heit und der ver­zer­ren­den Natur poli­ti­scher Per­spek­ti­ven irrig ist. Es wäre noch mehr gewon­nen, wenn die Ein­sicht, wel­che für die Poli­tik­di­dak­tik in den 1960er Jah­ren Her­mann Gies­ecke for­mu­liert hat, dass die Natur der Demo­kra­tie die Unei­nig­keit und die Aus­ein­an­der­set­zung ist und dass Kon­tro­ver­sen kei­nes­wegs ein zu ver­mei­den­des Übel, son­dern die Form sind, in wel­cher not­wen­di­ger­wei­se unter­schied­li­che Inter­es­sen an, Bli­cke auf und ver­ar­bei­tungs­wei­sen von sozia­ler und poli­ti­scher Rea­li­tät sicht­bar und aus­ge­han­delt wer­den, wenn die­se Ein­sicht nun end­lich auch auf das Feld der Geschich­te über­tra­gen wür­de. Die Geschichts­theo­rie stellt das nöti­ge Instru­men­ta­ri­um seit Lan­gem bereit: Geschich­te ist immer stand­ort­ge­bun­den und somit per­spek­ti­visch, sie ist immer par­ti­ell und selek­tiv und sie ist immer gegen­wär­tig. Sie ist näm­lich von der Ver­gan­gen­heit zu unter­schei­den. Wäh­rend die­se ein­ma­lig war und nur in einer Form exis­tiert hat ist sie über­kom­plex und als sol­che nicht zu erken­nen. Geschich­te als die immer gegen­wär­ti­ge, an einen (zeit­li­chen, sozia­len, poli­ti­schen, kul­tu­rel­len, …) Stand­ort gebun­de­ne und von die­sem Stand­punkt und sei­nen Prä­gun­gen aus geform­te Erzäh­lung über (!) Ver­gan­gen­heit ist viel­fäl­tig und das zu recht. Damit ist einem Rela­ti­vis­mus das Wort gere­det, dem­zu­fol­ge jede Aus­sa­ge über die­se Ver­gan­gen­heit, jede Geschich­te gleich gut wäre, wohl aber der Ein­sicht, dass es nicht nur eine “rich­ti­ge” Sicht gibt, son­dern dass auf­grund ihres rela­tio­na­len, Vergangenheit(en) udn gegenwarte(en) mit­ein­an­der ver­bin­den­den Cha­rak­ters meh­re­re “gül­tig” sein kön­nen. Und es folgt eben­so dar­aus, dass es noch mehr unwah­re Geschich­ten gibt: näm­lich sol­che, deren Rela­tio­nen aner­kann­ten Stan­dards widersprechen.Das Resul­tat ist, dass in allen Gesell­schaf­ten, aber mehr noch in libe­ra­len, plu­ra­len und hete­ro­ge­nen eine stän­di­ge Aus­ein­an­der­set­zung über und um Geschich­te Herr­schen muss, bei des­sen sinn­vol­ler Aus­ge­stal­tung nicht die Über­wäl­ti­gung der jeweils ande­ren zu Aner­ken­nung der eige­nen Dar­stel­lung, Deu­tung und Schluss­fol­ge­rung das Ziel sein muss, son­dern die Her­stel­lung einer neu­en Ebe­ne von his­to­ri­scher Kul­tu­ra­li­tät, bei der die jewei­li­gen Geschich­ten so mit­ein­an­der kom­pa­ti­bel (nicht aber iden­tisch) gemacht wer­den, dass man mit­ein­an­der reden, den­ken, Gegen­wart gestal­ten und zukunft (aktiv) erwar­ten kann. Das wäre übri­gens auch “Ein­heit in Viel­falt” und stün­de etwa einem “Euro­päi­schen Geschichts­be­wusst­sein” gut an. Es wäre aber noch mehr — es bedeu­te­te, das his­to­ri­sche Den­ken selbst zu demokratisieren.
    Gar­aus folgt zum einen, dass “Geschichts­po­li­tik” nichts nega­ti­ves ist — sofern der Begriff nicht ein die Geschich­te zum vor­der­grün­di­gen Zweck miss­brau­chen­des Han­deln bezeich­net, son­dern das Poli­tik­feld, in dem sol­che sowie demo­kra­ti­sche For­men des Rin­gens um his­to­ri­sche Ori­en­tie­rung statt­fin­den. Eine Ent­ge­gen­set­zung von “Poli­tik” und “Geschich­te” ist unfrucht­bar. Bes­ser wäre es, anzu­er­ken­nen, dass demo­kra­ti­sche Gesell­schaf­ten sich auch über die Gel­tungs­an­sprü­che öffent­li­cher Geschichts­aus­sa­gen, über ihre Ver­bind­lich­keit (Geschichts­po­li­tik) wie über die aus ihnen zu zie­hen­den Schluss­fol­ge­run­gen im poli­ti­schen Han­deln (“Ver­gan­gen­heits­po­li­tik” in einem Sin­ne, der nicht nur auf die Ver­ar­bei­tung von Dik­ta­tur­er­fah­run­gen beschränkt blei­ben darf) immer neu aus­ein­an­der­set­zen müssen.Daraus folg­te aber auch, dass die Klas­si­fi­ka­ti­on eines Geschichts­bil­des als “links” oder “rechts” noch kein Argu­ment sein dürf­te, es zu dis­qua­li­fi­zie­ren. Poli­ti­sche Geschichts­bil­der sind nor­mal und sie müs­sen als sol­che ernst genom­men wer­den. Man muss sich mit ihnen aus­ein­an­der­set­zen, und sie in ihrer nar­ra­ti­ven Erklä­rungs- und Ori­en­tie­rungs­kraft dis­ku­tie­ren — das meint die jüngst von Bodo von Bor­ries ein­ge­for­der­te “Nar­ra­ti­ons­prü­fung” oder “De-Kon­struk­ti­on”. Dass eini­ge lin­ke wie auch eini­ge “rech­te” Geschichts­bil­der die­se Prü­fung kaum über­ste­hen wer­den, dürf­te klar sein — wobei ich selbst noch immer den­ke, dass vie­le expli­zit “rech­te” Geschichts­bil­der auf­grund in sie ein­ge­hen­der Nor­men und Vor­stel­lun­gen pro­ble­ma­ti­scher sind als vie­le “lin­ke”, wobei aber natür­lich auch hier vie­les pro­ble­ma­tisch ist.
    Es wäre also viel gewon­nen, den Ver­weis auf “links” (und “rechts”) nicht als Argu­ment anzu­füh­ren, son­dern viel­mehr die Geschichts­dar­stel­lun­gen aller Pro­ve­ni­enz einer prü­fung zu unter­zie­hen, die wesent­lich, aber nicht nur auf den Quel­len, beruht, son­dern auch die ein­ge­hen­den Nor­men, Men­schen­bil­der, Gesell­schafts­theo­rien, aber auch die Erklä­rungs­mus­ter und­so­mit die Impli­ka­tio­nen für das heu­ti­ge Zusam­men­le­ben in den Blick nimmt. Nichts ande­res mein­te übri­gens Jörn Rüsen mit sei­nen schon zitier­ten drei “Trif­tig­kei­ten” bzw. neu­er­dings “vier Plausibilitäten”
  • Es ist aber noch etwas ande­res anzu­mer­ken: Eine Schluss­fol­ge­rung hier­aus lau­tet, dass die Mit­glie­der min­des­tens der moder­nen, plu­ra­len und hete­ro­ge­nen Gesell­schaf­ten im Geschichts­un­ter­richt und der poli­ti­schen Bil­dung in die Lage ver­setzt wer­den müs­sen, eigen­stän­dig und ver­ant­wort­lich an die­ser gesell­schaft­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung um Geschich­te teil­zu­neh­men. Das meint “Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung”. Sie dür­fen nicht in einer Lage belas­sen oder gera­de erst in sie ver­setzt wer­den, dass sie nur rezep­tiv auf­neh­men, was “die Fach­leu­te” ihnen erzäh­len, und mit dem Ver­weis auf ihren Fach­leu­te-Sta­tus legi­ti­mie­ren. Ande­rer­seits: die Vor­stel­lung, dass jede® befä­higt wer­den soll, sich sei­ne eige­ne “Mei­nung” (oder bes­ser: “Auf­fas­sung”) zu bil­den, kann auch über­trie­ben oder dies­be­züg­lich miss­ver­stan­den wer­den. Es geht zwar schon dar­um, dass “Ever­y­man his own his­to­ri­an” sein kön­nen muss — aber die Vor­stel­lung einer Abschaf­fung der his­tor­si­chen Zunft der Fach­leu­te zuguns­ten einer völ­li­gen “Demo­kra­ti­sie­rung” der his­to­ri­schen For­schung wäre nicht nur über­zo­gen idea­lis­tisch — sie wäre auch töricht. Es ist zwar das Ziel des kom­pe­tenz­ori­en­tier­ten Geschichts­un­ter­richts, dass prin­zi­pi­ell jedes Mit­glied der moder­nen Gesell­schaft über die grund­le­gen­den Fähig­kei­ten des his­to­ri­schen Den­kens selbst ver­fügt, also — etwa nach Jeis­mann — selbst Sach­ver­halts­fest­stel­lun­gen (um den Begriff ein­mal abzu­wan­deln) tref­fen, Sach- und Wert­ur­tei­le his­to­ri­scher Art fäl­len kann — aber es kann und soll nicht gemeint sein, dass jeder in jedem Fal­le zum Exper­ten wer­den soll und muss. Aber dann gehört es zur his­to­ri­schen Bil­dung und Kom­pe­tenz, Aus­sa­gen von His­to­ri­kern wie von Akteu­ren der öffent­li­chen his­to­ri­schen Debat­ten nicht nur ver­ste­hen und sich zwi­schen ihnen ent­schei­den zu kön­nen, son­dern sie in dem Sin­ne kri­tisch zu rezi­pie­ren, dass sie kri­tisch befragt (“hin­ter­fragt” heißt das modern) und bedacht wer­den kön­nen — und zwar nicht nur auf ihre Quel­len hin (“Prü­fung der empi­ri­schen Trif­tig­keit”), son­dern auch auf die Prä­mis­sen, Nor­men, Model­le — und auf die Impli­ka­tio­nen für die Gesell­schaft und jeden ein­zel­nen in Gegen­wart und Zukunft. Das aber umfasst auch, den Sta­tus sol­cher Aus­sa­gen als Tei­le einer (nicht zwin­gend partei‑, aber doch) poli­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung um zeit­li­che Ori­en­tie­rung zu erken­nen und zu akzep­tie­ren. Ein­zel­ne Posi­tio­nen als “ehr­lich”, weil unpo­li­tisch und ande­re als falsch WEIL poli­tisch zu klas­si­fi­zie­ren, hilft dabei nicht.
  • His­to­ri­sches Ler­nen gera­de auch im Geschichts­un­ter­richt soll­te somit nicht gedacht wer­den als die Bevor­ra­tung der Ler­nen­den mit einer bestimm­ten Ori­en­tie­rung, son­dern vor­nehm­lich um die Befä­hi­gung der Ler­nen­den zur Selbst­ori­en­tie­rung und zur Teil­ha­be an der gesell­schaft­li­chen Orientierung.

Ergän­zun­gen 7.1.2014/23.1.2014:

Ein interessanter Blogeintrag zu “Mißbrauch und Gebrauch der Geschichte”

03. Januar 2014 Andreas Körber Keine Kommentare

Im archäo­lo­gi­schen Blog Archäo­lo­gik fin­det sich heu­te eine inter­es­san­te Refle­xi­on zum “Miss­brauch und Gebrauch der Geschich­te” von Rai­ner Schreg auf­bau­end auf einem aktu­el­len Heft von Aus Poli­tik und Zeit­ge­schich­te zum The­ma “Geschich­te als Instru­ment”, in dem unter ande­rem auch Bodo von Bor­ries — Mit­glied unse­res Arbeits­be­reichs einen Arti­kel ver­fasst hat mit dem Titel “Zurück zu den Quel­len? Plä­doy­er für die Nar­ra­ti­ons­prü­fung”, der von Schreg sehr gelobt wird.
Aus die­sem Anlass möch­te ich noch kurz auf einen eige­nen Bei­trag zu die­sem The­ma hinweisen:
Kör­ber, Andre­as (2012): “ ‘Uses’ and ‘ab-uses’ of histo­ry. Pos­si­ble con­se­quen­ces for histo­ry tea­ching at schools”. In: pedocs: .

Geschichts- und Erinnerungspolitik im Bundestag in der Kritik (zu Recht)

14. Februar 2011 Andreas Körber Keine Kommentare

Geschichts- und Erin­ne­rungs­po­li­tik sind nichts Anrü­chi­ges — zumin­dest nicht, wenn die Begrif­fe die Tat­sa­che bezeich­nen, dass in Gesell­schaf­ten immer und not­wen­dig um his­to­ri­sche Deu­tun­gen und ihre Rele­vanz im öffent­li­chen Geden­ken gerun­gen wird, um ihre Ein­heit­lich­keit und Ver­bind­lich­keit bzw. ihre Offen­heit und Plu­ra­li­tät (Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät, Kon­tro­ver­si­tät) wie die die­sen Ori­en­tie­rungs- und Ver­stän­di­gungs­pro­zes­sen zu Grun­de lie­gen­den Struk­tu­ren, die dabei genutz­ten Ver­fah­ren, Instru­men­te usw.

Die­se Ein­sicht in die Legi­ti­mi­tät und Not­wen­dig­keit einer gesell­schaft­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung um Ver­gan­gen­heit und ihre (Be-)Deutung(en) ist das eine. Sie darf aber nicht dazu ver­füh­ren, das, was auf die­sem Poli­tik­feld (Geschichts­po­li­tik als poli­ty) geschieht, immer nur distan­ziert zu betrach­ten — im Gegen­teil: gera­de die Ein­sicht in die­se Not­wen­dig­keit und Legi­ti­mi­tät ruft dazu auf, sich aktiv an die­ser Aus­ein­an­der­set­zung zu betei­li­gen mit eige­nen Geschichts­po­li­ti­ken (poli­ci­es), und ande­re zu kri­ti­sie­ren und (natür­lich im Rah­men der plu­ra­len Ori­en­tie­rung) zu bekämpfen.

Dass um Geschich­te gerun­gen und gestrit­ten wird, ist also ein gutes Zei­chen. Ein­zel­ne (oder auch vie­le) dabei ver­tre­te­nen Deu­tun­gen und Inter­pre­ta­tio­nen sind oft­mals hoch pro­ble­ma­tisch — und zwar nicht nur in dem Sin­ne, dass sie “fal­sche” Dar­stel­lun­gen der eigent­lich rich­tig erkenn­ba­ren Ver­gan­gen­heit wären, son­dern gera­de weil ihnen poli­ti­sche Inter­es­sen eben­so zu Grun­de lie­gen wie Erkennt­nis­mög­lich­kei­ten und per­spek­ti­ven. Geschichts­po­li­tik ist so das­je­ni­ge Feld, in dem his­to­ri­sche Denutun­gen sowohl in ihrer Bin­dung an die Mög­lich­kei­ten der Erkennt­nis, an die nor­ma­ti­ven Qua­li­täts­kri­te­ri­en his­to­ri­scher Re-Kon­struk­ti­on und Inter­pre­ta­ti­on und an die hete­ro­ge­nen sozia­len, kul­tu­rel­len, poli­ti­schen und wei­te­re Per­spek­ti­ven und Inter­es­sen­la­gen the­ma­tisch wer­den. Sie kön­nen und müs­sen selbst zum Gegen­stand von Unter­su­chung und Ana­ly­se (“De-Kon­struk­ti­on”) wer­den — wie zum gegen­stand poli­ti­scher Aus­ein­an­der­set­zung. Dass die Geschichts­po­li­tik wie die Dis­zi­plin der Zeit­ge­schich­te  geprägt wird von der unauf­lös­ba­ren Ver­bin­dung von gefor­der­ter wis­sen­schaft­li­cher Distanz der Ana­ly­se einer- und der je eige­nen poli­ti­schen Per­spek­ti­ve ande­rer­seits, muss immer mit bedacht wer­den, soll­te aber kein Grund sein, die­ses Feld nur Exper­ten zu über­las­sen. — im Gegen­teil: Geschichts­un­ter­richt muss die­se Kom­ple­xe expli­zit ein­be­zie­hen, will er Ler­nen­de dazu befä­hi­gen, an der heiti­gen Gesell­schaft aktiv und pas­siv teilzuhaben.

In die­sem Sin­ne ist die aktu­el­le Kon­tro­ver­se um “Flucht und Ver­trei­bung”, um das geplan­te Denk­mal und Zen­trum für/​gegen Ver­trei­bun­gen und ganz aktu­ell um den aktu­el­len Beschluss des Deut­schen Bun­des­ta­ges, den 5. August als “Ver­trie­be­nen-Gedenk­tag” ein­zu­rich­ten, zu begrü­ßen — macht sie doch die ver­schie­de­nen Sicht­wei­sen und Inter­es­sen an der Geschich­te in unse­rer Gesell­schaft erst sicht­bar (wie übri­gens all die gleich­zei­tig und ver­setzt ablau­fen­den Debat­ten und Kon­tro­ver­sen um die Erin­ne­rung an die Bom­ben­an­grif­fe auf Dres­den, usw.).

Aus didak­ti­scher Per­spek­ti­ve ist die­se Debat­te also zu begrü­ßen und zu the­ma­ti­sie­ren. Unbe­scha­det davon ist es natür­lich not­wen­dig, in die­ser Fra­ge selbst Stel­lung zu bezie­hen. In die­sem Sin­ne haben gemäß heu­ti­gen Pres­se­be­rich­ten eine Rei­he nam­haf­ter deut­scher His­to­ri­ker zusam­men mit eini­gen Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen aus ande­ren Län­dern den Bun­des­tags­be­schluss kri­ti­siert. Die­ser Kri­tik ist m.E. in vol­lem Umfan­ge zuzu­stim­men. Dem anzu­er­ken­nen­den Bedürf­nis von Ver­trie­be­nen und Ange­hö­ri­gen nach Geden­ken und Erin­ne­run­gen kann und muss auf ande­re Art und Wei­se Rech­nung  getra­gen wer­den als mit einer Sym­bo­lik, die einer Gleich­set­zung von “Flucht und Ver­trei­bung” mit dem Holo­caust gleichkommt.

Hinweis: Blogeintrag über didaktisch wertvolle Newsletter

06. November 2010 Andreas Körber Keine Kommentare

Allen, die Mate­ria­li­en für “gegen­warts­kon­sti­tu­ier­ten” (nicht nur “-bezo­ge­nen”) Geschichts­un­ter­richt benö­ti­gen und dabei auch inter­kul­tu­rel­le Bezü­ge beach­ten wol­len, sei der fol­gen­de Hin­weis von Dani­el Eisen­men­ger auf zwei wert­vol­le Nach­rich­ten­diens­te emp­foh­len: “Zwei News­let­ter, die sich loh­nen” auf “Medi­en im Geschichts­un­ter­richt.”

AK

Geschichtslernen an Stolpersteinen

28. Dezember 2009 Andreas Körber Keine Kommentare

Im Rah­men eines Semi­nars zu “Lern­or­ten” haben sich Arbeits­grup­pen mit den inzwi­schen in vie­len Städ­ten Deutsch­lands ver­leg­ten “Stol­per­stei­nen” des Köl­ner Künst­lers Gun­ter Dem­nig als For­men der Erin­ne­rung und Orten für bzw. Gegen­stän­den des Ler­nens beschäftigt.

Dabei ist mir auf­ge­fal­len, dass offen­kun­dig ein Grund­mus­ter der “Didak­ti­sie­rung” dar­in besteht, die Stol­per­stei­ne zum Anlass zu neh­men, die kon­kre­ten Bio­gra­phien der Opfer von Depor­ta­ti­on und Ver­nich­tung, an die sie erin­nern, zum eigent­li­chen Gegen­stand des Ler­nens zu machen. Die Beschäf­ti­gung mit den kon­kre­ten Men­schen, so die Argu­men­ta­ti­on, ermög­li­che eine ler­nen­de Refle­xi­on auf die Aus­wir­kun­gen der Poli­tik des Natio­nal­so­zia­lis­mus auf kon­kre­te Men­schen, auf die Bedin­gun­gen von Han­deln und Lei­den, und somit auch ein Ler­nen, wel­ches die eige­ne Per­son, die Ori­en­tie­rung, in den Mit­tel­punkt stel­le — weni­ger die tro­cke­nen “Fak­ten”.

Ich will die­se Form der Didak­ti­sie­rung, wel­che eine Par­al­le­le zum “bio­gra­phi­schen Arbei­ten” in der Gedenk­stät­ten­päd­ago­gik dar­stellt, nicht infra­ge stel­len, möch­te aber doch eini­ge skep­ti­sche Fra­gen und eine mög­li­che Alter­na­ti­ve skizzieren:

    • Besteht nicht bei solch einem Anlass — gera­de bei jün­ge­ren Schüler(inne)n — die Gefahr eine Über­wäl­ti­gung durch eine Opfer­ge­schich­te, wel­che den eige­nen Ver­ar­bei­tungs­ho­ri­zont übersteigt?
    • Was wäre das gewünsch­te Lern­ziel? Iden­ti­fi­ka­ti­on mit den Opfern? 
      1. Wohl kaum im Sin­ne einer Pro­jek­ti­on in die Opfer hinein.
      2. auch wohl kaum im Sin­ne einer Ver­en­gung des Nach­den­kens über das Gesche­hens aus einer (an Hand von Quel­len) re-kon­stru­ier­ten oder nach­emp­fun­de­nen Opferperspektive.
        1. dass Erin­nern an Ver­gan­ge­nes in die­ser Gesell­schaft in ganz unter­schied­li­chen For­men statt findet
        2. dass das sei­nen Grund hat
        3. dass die­ses Erin­nern und sei­ne For­men kei­nes­wegs immer schon da waren und selbst­ver­ständ­lich sind, son­dern dass um sie gerun­gen wird, dar­über diskutiert,
        4. dass Erin­nern nicht ein­fach “fer­tig” ist, wenn ein Denk­mal, ein Gedenk­stein, eine Stol­per­stein liegt, son­dern dass es um ein immer neu­es Nach-Den­ken geht.

      Es ist somit m.E. mög­lich, gera­de auch im Geschichts­un­ter­richt über das Geden­ken und Erin­nern, über For­men der Ver­ge­gen­wär­ti­gung von Ver­gan­gen­heit als Teil des gegen­wär­ti­gen Umgangs der Gesell­schaft zu lernen.

Dies wür­de kaum den For­de­rung ent­spre­chen, dass Geschichts­un­ter­richt zur Ori­en­tie­rung der eige­nen Iden­ti­tät und des eige­nen Han­delns die­nen soll.

Mei­nes Erach­tens bie­ten die Stol­per­stei­ne gera­de dann einen guten Ansatz­punkt zu his­to­ri­schem Ler­nen, wenn man nicht vor­schnell ihrem Ver­weis auf die kon­kre­ten Opfer folgt, son­dern sie zunächst als das ernst und in den Blick nimmt, was sie sind: For­men der Aus­ein­an­der­set­zung der gegen­wär­ti­gen Gesell­schaft mit der Ver­gan­gen­heit, auf die sie ver­wei­sen — und mit sich selbst, als umstrit­te­ne For­men der Erin­ne­rungs­kul­tur zu einer umstrit­te­nen Vergangenheit.
Die­ser Logik zufol­ge müss­ten zunächst die Stol­per­stei­ne selbst Gegen­stand des Ler­nens wer­den — die Tat­sa­che, dass sie an bestimm­ten Orten lie­gen, dass die­ses kei­nes­wegs selbst­ver­ständ­lich ist, dass es Men­schen gibt, die sich dafür ein­set­zen (und ihre Argu­men­te) und sol­che, die dage­gen sein — aus ver­schie­de­nen Grün­den, von pro­fa­nen, erin­ne­rungs­kul­tu­rell gedan­ken­lo­sen (etwa Furcht um die Beein­träch­ti­gung des Geschäfts vor dem ein Stein liegt) über emi­nent his­to­ri­sche (etwa Scham über das eige­ne Weg­se­hen damals, aber auch über die eige­ne erin­ne­rungs­kul­tu­rel­le Untä­tig­keit oder Zöger­lich­keit) bis hin zu poli­ti­schen (Leug­nung des Gesche­hens, Abwehr die­ser Form der ‘Schuld­prä­sen­ta­ti­on’) — aber auch zu unter­schied­li­chen erin­ne­rungs­kul­tu­rel­len Sym­bo­li­ken und Wer­tun­gen (s. Zen­tral­rat der Juden, Stadt Mün­chen, Sin­ti und Roma).
Durch die zunächst auf die Gegen­wart bli­cken­de Erschlie­ßung der Stol­per­stei­ne in ihrer Pro­gram­ma­tik und Sym­bo­lik, poli­ti­schen Bedeu­tung, den Pros und Con­tras erst wird der Blick auf die kon­kre­ten Men­schen gelenkt, derer gedacht wird. Das ist m.E. nur auf den ers­ten Blick eine “Instru­men­ta­li­sie­rung”, bei genaue­rem Hin­se­hen viel­mehr eine “Auf­wer­tung”. Die­se Men­schen wer­den dann näm­lich als Men­schen Gegen­stand his­to­ri­scher Betrach­tung und his­to­ri­schen Ler­nens, die die­ser Gesell­schaft etwas bedeu­ten (wenn auch unter­schied­li­ches), nicht als von außen (dem Leh­rer, der Initia­ti­ve, den Autoren eines Begleit­hefts) vor­ge­ge­be­ne Beispiele.
Ein sol­ches Vor­ge­hen, das von der gegen­wär­ti­gen Umstrit­ten­heit aus­geht, von der gegen­wär­ti­gen Erin­ne­rungs­kul­tur mit ihren Ver­wer­fun­gen und Debat­ten, ermög­licht es m.E. auch, das Ler­nen über den Holo­caust und die Depor­ta­tio­nen in eine län­ge­re Pro­gres­si­on zu über­füh­ren. Mit jün­ge­ren Schü­le­rin­nen und Schü­lern könn­te somit zunächst noch ohne die Gefahr der Über­for­de­rung und Über­wäl­ti­gung die Tat­sa­che the­ma­ti­siert werden,

Gefallenenehrung in Wentorf (1)

12. Mai 2009 Andreas Körber 1 Kommentar

Anmer­kung 1.12.2020: Zum Ehren­mal in Wen­torf nun auch die inten­si­ve Auf­ar­bei­tung im Pro­jekt “Denk­mal gegen den Krieg” der Nord­kir­che: https://www.denk-mal-gegen-krieg.de/kriegerdenkmaeler/schleswig-holstein-v‑z#denkmal-301

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Im April die­ses Jah­res berich­te­te die Ber­ge­dor­fer Zei­tung von dem Plan, am Wen­tor­fer Ehren­mal nun auch die Namen von Gefal­le­nen und Ver­miss­ten des Zwei­ten Welt­kriegs anzubringen.

Vgl. hier­zu — mit Bil­dern — den Bei­trag Gefal­le­nen­eh­rung in Wen­torf (2)

Ich schrieb in die­sem Zusam­men­hang den fol­gen­den Brief an die Ber­ge­dor­fer Zei­tung und eini­ge für das Pro­jekt Verantwortliche:

Dr. Andre­as Körber⋅Am Golf­platz 6a ⋅ D‑21039 Esche­burg
An die Gemein­de Wen­torf
Haupt­stra­ße 16
21465 Wen­torf
nach­richt­lich:
• Ber­ge­dor­fer Zei­tung
Curs­la­cker Neu­er Deich 50
21029 Ham­burg
• Dr. Bill Boe­hart; Archiv­ge­mein­schaft
Schwar­zen­bek; Rit­ter-Wulf-Platz 1
21493 Schwar­zen­bek
• Wen­torf im Blick; Bür­ger­ver­ein Wen­torf
c/​o Jan Chris­tia­ni
Müh­len­stra­ße 62a
21465 Wen­torf
Ihr Zei­chen:
Mein Zei­chen: Wentorf_BZ_Gedenken_1.odt
D‑21039 Esche­burg, den 12. Mai 2009

Ehren­mal für im Zwei­ten Welt­krieg gefal­le­ne Wen­tor­fer?
Sehr geehr­te Damen und Her­ren,
die Ber­ge­dor­fer Zei­tung berich­te­te in ihrer Aus­ga­be vom 22. April 2009 unter dem Titel „Spä­te nament­li­che Wür­di­gung“ über Plä­ne, am 1925 errich­te­ten Krie­ger­denk­mal nun auch eine Bron­ze­plat­te mit Namen im Zwei­ten Welt­krieg gefal­le­ner Wen­tor­fer anzu­brin­gen. In „Wen­torf im Blick“ wird dies als „Ehren­mal“ bezeich­net, und auch der BZ-Arti­kel spricht von einer Ehrentafel.

Dr. Boe­hart ver­weist im BZ-Arti­kel auf die unter­schied­li­chen Umgangs­wei­sen mit der „Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung“ nach 1919 und 1945. In letz­te­rem Fal­le habe man „vie­ler­orts nur die Daten ‚1939 – 1945‘ ergänzt“. Der Tenor des Arti­kel ist, dass man nun nach­ho­len kön­ne und sol­le, was man damals nicht getan habe. Aus Ver­säum­nis ? Aus Scham? Oder aus berech­tig­ten Gründen?

Und sind die Initia­to­ren und die Wen­tor­fer der Auf­fas­sung, dass even­tu­el­le Grün­de, nicht die Namen zu nen­nen, heu­te obso­let gewor­den sind? Ist es an der Zeit, nun die eige­nen Gefal­le­nen zu „ehren“? Ist end­lich genü­gend Zeit ins Land gegangen?

Auf­schluss­reich ist auch die von der BZ berich­te­te Ant­wort Dr. Boe­harts (sonst der erin­ne­rungs­po­li­ti­schen Ver­ein­nahm­bar­keit eini­ger­ma­ßen unver­däch­tig) auf die Fra­ge nach dem Geden­ken an die Opfer des Natio­nal­so­zia­lis­mus: „Ange­spro­chen auf die Opfer der Natio­nal­so­zia­lis­ten herrscht zunächst Schwei­gen. Boe­hart stellt schließ­lich fest: ‚Opfer der NS-Gesell­schaft hat es auch in Wen­torf gege­ben. Doch das Ehren­mal wür­de für ihr Geden­ken nicht pas­sen, das geht in eine ande­re Rich­tung. Das Anlie­gen müss­te aber eben­so von den Bür­gern kom­men wie die Ehrentafel.‘“

Offen­kun­dig ist auch den Initia­to­ren durch­aus (unter-)bewusst, dass es so ein­fach nicht ist: Das all­mäh­li­che Ver­schwin­den der Erleb­nis­ge­ne­ra­ti­on auf Sei­ten der Opfer macht kei­nes­wegs des Weg frei zu einem befrei­ten Hel­den­ge­den­ken. Haben Sie, Herr Dr. Boe­hart, die Fra­ge der Repor­te­rin ernst­haft so ver­stan­den, ob man die Namen von NS-Opfern umstand­los auf dem glei­chen Gedenk­stein, in der glei­chen Sym­bo­lik benen­nen könn­te? Das leh­nen Sie zu Recht ab. Aber ist nicht viel eher und völ­lig zu Recht gemeint gewe­sen, ob man denn wie­der anfan­gen könn­te, der eige­nen Gefal­le­nen zu geden­ken (zumal sie zu „ehren“) ohne min­des­tens auch der Opfer zu geden­ken – der Opfer der eige­nen Taten? Es geht also nicht nur um das Wie und die Fra­ge danach, ob man das am glei­chen Ort tun kann, son­dern auch um das grund­sätz­li­che Ver­hält­nis der bei­den Ehrungen.

Hal­ten Sie die Ver­gan­gen­heit für „bewäl­tigt“ im zu Recht seit lan­gem kri­ti­sier­ten Sin­ne des „Mit-ihr-fer­tig-Seins“, so dass man nun wie­der anfan­gen kann, ver­meint­lich unbe­las­tet die eige­nen Gefal­le­nen zu „ehren“? Das wird spä­tes­tens dann pro­ble­ma­tisch, wenn bekannt ist, dass min­des­tens einer der nament­lich zu „ehren­den“ SS-Unter­schar­füh­rer war, Trä­ger des EK 2. Klas­se, der Ost­me­dail­le und des gol­de­nen HJ-Abzei­chens, wie sei­ne Fami­lie in der Trau­er­an­zei­ge im SS-Blatt „Das schwar­ze Korps“ stolz auf­führt. – Ehren? Ist „ehren“ hier wirk­lich der rich­ti­ge Modus des Gedenkens?

Gegen Geden­ken im All­ge­mei­nen ist nichts ein­zu­wen­den. Trau­ern um die Väter und Groß­vä­ter ist auch dann zuläs­sig und not­wen­dig, wenn die­se an einem ver­bre­che­ri­schen Krieg teil­ge­nom­men haben und/​oder Mit­glied einer ver­bre­che­ri­schen Orga­ni­sa­ti­on gewe­sen sind – um so mehr, wenn das nicht der Fall ist. Das braucht auch nicht nur pri­vat zu gesche­hen – aber „Ehrung“ und „Wür­di­gung“?

Denk­mal­set­zun­gen sind gesell­schaft­li­che Hand­lun­gen. Sie tra­gen Sym­bol­cha­rak­ter. „Autoren“ des Denk­mals sind nicht die ein­zel­nen Hin­ter­blie­be­nen, son­dern die Gemein­de Wen­torf als Gan­ze. Daher die Fra­ge an die Gemein­de, d.h. an alle Wentorfer:

Ist es wirk­lich an der Zeit, die Taten der Gefal­le­nen zu „wür­di­gen“? Ist die Betei­li­gung am Ost­feld­zug wie­der „wür­dig“ im Modus des Hel­den­ge­den­kens ver­ewigt zu wer­den? Ich hal­te die­ses für kei­nes­wegs ange­bracht. Ist es das, was die Wen­tor­fer sich und ihren Gäs­ten zei­gen wol­len? Seht her, wel­che ruhm­rei­chen Taten unse­re Söh­ne voll­bracht haben?

Was unse­re Gesell­schaft offen­kun­dig braucht, ist deut­lich mehr Kom­pe­tenz im Umgang mit dem Geden­ken und der öffent­li­chen Erin­ne­rung. Unter­schei­den zu kön­nen zwi­schen dem (auch sym­bo­li­schen) Hel­den­ge­den­ken und der nega­ti­ven Erin­ne­rung als der Erin­ne­rung an die Opfer der eige­nen Taten; zwi­schen Opfer­ge­dächt­nis, Sie­ger- und Ver­lie­rer­ge­dächt­nis, ist drin­gend nötig.

Nötig wäre zudem, die mit sol­chen Erin­ne­rungs­for­men ver­bun­de­nen Gefüh­le und Emo­tio­nen anspre­chen und aus­spre­chen zu kön­nen. „Stolz“ auf die „tap­fe­ren eige­nen Sol­da­ten“ in einem (womög­lich „hel­den­haf­ten“) Kampf für „Füh­rer“ (wie es in der Trau­er­an­zei­ge heißt) „Volk und Vater­land“ – ist das der beab­sich­tig­te Modus ?

Es gäbe ande­re und sinn­vol­le­re. Was Erin­ne­rungs­kul­tur sein kann, hat gera­de der Volks­bund Kriegs­grä­ber­für­sor­ge in Ham­burg gezeigt, der erst­mals auf einer (von Schü­lern erar­bei­te­ten) Gedenk­plat­te an die Opfer des Luft­krie­ges auch die Namen der dabei ums Leben gekom­me­nen Zwangs­ar­bei­ter ver­zeich­net wur­den. Eben­so haben Stu­die­ren­de der Hel­mut-Schmidt-Uni­ver­si­tät im Novem­ber auf dem Fried­hof Ohls­dorf eine Gedenk­ta­fel für die in deut­scher Kriegs­ge­fan­gen­schaft umge­kom­me­nen sowje­ti­schen Kriegs­ge­fan­ge­nen aufgestellt.

Wozu soll also Erin­ne­rung und Geden­ken die­nen? Wem ist damit gedient, nun vol­ler Kennt­nis der Ergeb­nis­se zeit­his­to­ri­scher For­schung über die Wehr­macht und die S S, den Cha­rak­ter des Zwei­ten Welt­krie­ges (zumal im Osten), den alten Modus des Hel­den­ge­den­ken wie­der auf­zu­grei­fen? Geht es dar­um, die­sen Krieg und sei­ne Teil­neh­mer umzu­in­ter­pre­tie­ren in einen „nor­ma­len“ Krieg?

Soll eine Tra­di­ti­ons­li­nie unver­än­der­ter „nor­ma­ler“ deut­scher Kriegs­füh­rung von Ers­tem Welt­krieg, Zwei­tem Welt­krieg und Aus­lands­ein­sät­zen der Bun­des­wehr her­ge­stellt wer­den (wie die Wor­te des Bür­ger­meis­ters in der BZ nahe­le­gen)? Und das noch posi­tiv, „ehren­voll“? Dass über mög­li­che „Ehrun­gen“ oder (bes­ser) ein Geden­ken an die im Aus­lands­ein­satz gestor­be­nen Bun­des­wehr­sol­da­ten nach­ge­dacht wer­den muss, ist wohl unum­gäng­lich. Dazu aber die Bun­des­wehr in eine unver­brüch­li­che Tra­di­ti­ons­li­nie deut­schen Sol­da­ten­tums zu stel­len und dies zudem unter nor­ma­li­sie­ren­der Ein­ord­nung des Zwei­ten Welt­krie­ges, ist unerträglich.

Die Bun­des­wehr hat allen Grund, sich nicht als Fort­set­zung die­ser Tra­di­ti­on zu ver­ste­hen, son­dern als Par­la­ments­ar­mee einer Demo­kra­tie mit einem ganz ande­ren Auf­trag: näm­lich der Frie­dens­si­che­rung und ggf. ‑schaf­fung im Rah­men einer Welt­ge­sell­schaft, die auf Men­schen­rech­te ver­pflich­tet ist. Das ist schwie­rig und pro­ble­ma­tisch genug (und zu Recht strit­tig). Wer dazu aber die Tra­di­ti­on deut­schen Sol­da­ten­tums bemüht, muss sich ent­we­der fra­gen las­sen, ob er die alten Tra­di­tio­nen deut­schen Mili­ta­ris­mus und einer Erobe­rungs­ar­mee der Bun­des­wehr wie­der anemp­feh­len will, oder ob er „nur“ in die­sem neu­en Licht die Geschich­te umschrei­ben will.

Ich hof­fe, dass sich Wen­torf und die Wen­tor­fer das noch ein­mal gut über­le­gen.
Mit freund­li­chen Grüßen

Andre­as Körber

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hier das Faksimile:

Wentorf_​BZ_​Gedenken_​1