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Im Rah­men eines Semi­nars zu “Lern­or­ten” haben sich Arbeits­grup­pen mit den inzwi­schen in vie­len Städ­ten Deutsch­lands ver­leg­ten “Stol­per­stei­nen” des Köl­ner Künst­lers Gun­ter Dem­nig als For­men der Erin­ne­rung und Orten für bzw. Gegen­stän­den des Ler­nens beschäftigt.

Dabei ist mir auf­ge­fal­len, dass offen­kun­dig ein Grund­mus­ter der “Didak­ti­sie­rung” dar­in besteht, die Stol­per­stei­ne zum Anlass zu neh­men, die kon­kre­ten Bio­gra­phien der Opfer von Depor­ta­ti­on und Ver­nich­tung, an die sie erin­nern, zum eigent­li­chen Gegen­stand des Ler­nens zu machen. Die Beschäf­ti­gung mit den kon­kre­ten Men­schen, so die Argu­men­ta­ti­on, ermög­li­che eine ler­nen­de Refle­xi­on auf die Aus­wir­kun­gen der Poli­tik des Natio­nal­so­zia­lis­mus auf kon­kre­te Men­schen, auf die Bedin­gun­gen von Han­deln und Lei­den, und somit auch ein Ler­nen, wel­ches die eige­ne Per­son, die Ori­en­tie­rung, in den Mit­tel­punkt stel­le — weni­ger die tro­cke­nen “Fak­ten”.

Ich will die­se Form der Didak­ti­sie­rung, wel­che eine Par­al­le­le zum “bio­gra­phi­schen Arbei­ten” in der Gedenk­stät­ten­päd­ago­gik dar­stellt, nicht infra­ge stel­len, möch­te aber doch eini­ge skep­ti­sche Fra­gen und eine mög­li­che Alter­na­ti­ve skizzieren:

    • Besteht nicht bei solch einem Anlass — gera­de bei jün­ge­ren Schüler(inne)n — die Gefahr eine Über­wäl­ti­gung durch eine Opfer­ge­schich­te, wel­che den eige­nen Ver­ar­bei­tungs­ho­ri­zont übersteigt?
    • Was wäre das gewünsch­te Lern­ziel? Iden­ti­fi­ka­ti­on mit den Opfern? 
      1. Wohl kaum im Sin­ne einer Pro­jek­ti­on in die Opfer hinein.
      2. auch wohl kaum im Sin­ne einer Ver­en­gung des Nach­den­kens über das Gesche­hens aus einer (an Hand von Quel­len) re-kon­stru­ier­ten oder nach­emp­fun­de­nen Opferperspektive.
        1. dass Erin­nern an Ver­gan­ge­nes in die­ser Gesell­schaft in ganz unter­schied­li­chen For­men statt findet
        2. dass das sei­nen Grund hat
        3. dass die­ses Erin­nern und sei­ne For­men kei­nes­wegs immer schon da waren und selbst­ver­ständ­lich sind, son­dern dass um sie gerun­gen wird, dar­über diskutiert,
        4. dass Erin­nern nicht ein­fach “fer­tig” ist, wenn ein Denk­mal, ein Gedenk­stein, eine Stol­per­stein liegt, son­dern dass es um ein immer neu­es Nach-Den­ken geht.

      Es ist somit m.E. mög­lich, gera­de auch im Geschichts­un­ter­richt über das Geden­ken und Erin­nern, über For­men der Ver­ge­gen­wär­ti­gung von Ver­gan­gen­heit als Teil des gegen­wär­ti­gen Umgangs der Gesell­schaft zu lernen.

Dies wür­de kaum den For­de­rung ent­spre­chen, dass Geschichts­un­ter­richt zur Ori­en­tie­rung der eige­nen Iden­ti­tät und des eige­nen Han­delns die­nen soll.

Mei­nes Erach­tens bie­ten die Stol­per­stei­ne gera­de dann einen guten Ansatz­punkt zu his­to­ri­schem Ler­nen, wenn man nicht vor­schnell ihrem Ver­weis auf die kon­kre­ten Opfer folgt, son­dern sie zunächst als das ernst und in den Blick nimmt, was sie sind: For­men der Aus­ein­an­der­set­zung der gegen­wär­ti­gen Gesell­schaft mit der Ver­gan­gen­heit, auf die sie ver­wei­sen — und mit sich selbst, als umstrit­te­ne For­men der Erin­ne­rungs­kul­tur zu einer umstrit­te­nen Vergangenheit.
Die­ser Logik zufol­ge müss­ten zunächst die Stol­per­stei­ne selbst Gegen­stand des Ler­nens wer­den — die Tat­sa­che, dass sie an bestimm­ten Orten lie­gen, dass die­ses kei­nes­wegs selbst­ver­ständ­lich ist, dass es Men­schen gibt, die sich dafür ein­set­zen (und ihre Argu­men­te) und sol­che, die dage­gen sein — aus ver­schie­de­nen Grün­den, von pro­fa­nen, erin­ne­rungs­kul­tu­rell gedan­ken­lo­sen (etwa Furcht um die Beein­träch­ti­gung des Geschäfts vor dem ein Stein liegt) über emi­nent his­to­ri­sche (etwa Scham über das eige­ne Weg­se­hen damals, aber auch über die eige­ne erin­ne­rungs­kul­tu­rel­le Untä­tig­keit oder Zöger­lich­keit) bis hin zu poli­ti­schen (Leug­nung des Gesche­hens, Abwehr die­ser Form der ‘Schuld­prä­sen­ta­ti­on’) — aber auch zu unter­schied­li­chen erin­ne­rungs­kul­tu­rel­len Sym­bo­li­ken und Wer­tun­gen (s. Zen­tral­rat der Juden, Stadt Mün­chen, Sin­ti und Roma).
Durch die zunächst auf die Gegen­wart bli­cken­de Erschlie­ßung der Stol­per­stei­ne in ihrer Pro­gram­ma­tik und Sym­bo­lik, poli­ti­schen Bedeu­tung, den Pros und Con­tras erst wird der Blick auf die kon­kre­ten Men­schen gelenkt, derer gedacht wird. Das ist m.E. nur auf den ers­ten Blick eine “Instru­men­ta­li­sie­rung”, bei genaue­rem Hin­se­hen viel­mehr eine “Auf­wer­tung”. Die­se Men­schen wer­den dann näm­lich als Men­schen Gegen­stand his­to­ri­scher Betrach­tung und his­to­ri­schen Ler­nens, die die­ser Gesell­schaft etwas bedeu­ten (wenn auch unter­schied­li­ches), nicht als von außen (dem Leh­rer, der Initia­ti­ve, den Autoren eines Begleit­hefts) vor­ge­ge­be­ne Beispiele.
Ein sol­ches Vor­ge­hen, das von der gegen­wär­ti­gen Umstrit­ten­heit aus­geht, von der gegen­wär­ti­gen Erin­ne­rungs­kul­tur mit ihren Ver­wer­fun­gen und Debat­ten, ermög­licht es m.E. auch, das Ler­nen über den Holo­caust und die Depor­ta­tio­nen in eine län­ge­re Pro­gres­si­on zu über­füh­ren. Mit jün­ge­ren Schü­le­rin­nen und Schü­lern könn­te somit zunächst noch ohne die Gefahr der Über­for­de­rung und Über­wäl­ti­gung die Tat­sa­che the­ma­ti­siert werden,