Arbeitsbereich Geschichtsdidaktik / History Education, Universität Hamburg

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Reenactment als Unterrichtsmethode — Bericht des Deutschlandradio und Facebook-Diskussion

23. Juni 2018 Andreas Körber Keine Kommentare

Inter­es­san­ter Bericht im Deutsch­land­ra­dio über “Ree­nact­ment” als Unterrichtsmethode:

Rol­len­spiel im Geschichts­un­ter­richt. Auf Klas­sen­fahrt in die DDR. Von Hen­ry Bernhard

Dazu eine Dis­kus­si­on auf face­book in der Grup­pe “kri­ti­sche Geschich­te”.

Hier­zu mei­ne Kom­men­ta­re aus der Dis­kus­si­on auch ein­mal hier:

    1. “Ree­nact­ment” ist kei­ne aner­kann­te Metho­de des Geschichts­un­ter­richts. Es ist eine Form des “Doing Histo­ry”, d.h. eine in außer­schu­li­scher Beschäf­ti­gung mit Geschich­te sowie in (auch durch Schu­le genutz­ten, dann aber oft als “living Histo­ry” beti­tel­ten und eher vor­füh­ren­der, sel­ten die Betrach­ter immersiv ein­be­zie­hen­der Form) Prä­sen­ta­tio­nen von Geschich­te (etwa in Muse­en) genutz­te Form der “Ver­ge­gen­wär­ti­gung” von Ver­gan­ge­nem mit enor­mer Band­brei­te zwi­schen expe­ri­men­tel­ler Archäo­lo­gie, Ver­an­schau­li­chung und ganz unter­schied­li­chen For­men gewis­ser­ma­ßen nost­al­gi­scher Ver­su­che, der Gegen­wart zu ent­flie­hen und in eine Ver­gan­gen­heit einzutauchen.Solche For­men sind legi­tim, wenn sie frei­wil­lig (also pri­vat oder in selbst gewähl­ten For­men) gesche­hen. Sie sind aber alle inso­fern frag-wür­dig, als dass alle Vor­stel­lun­gen, dass damit die Ver­gan­gen­heit selbst (“wie sie war”) ver­an­schau­licht, nach­ge­fühlt oder sonst wer­den könn­te. Mit ihnen ver­bun­den sind oft ganz unter­schied­li­che Vor­stel­lun­gen von “Authen­ti­zi­tät”, die aber alle(!) inso­fern begrenzt sind, als die Ver­gan­gen­heit eben gera­de nicht voll­stän­dig wie­der­holt wer­den kann — und auch nicht soll­te. Letz­te­res wäre eben über­wäl­ti­gend. Ree­nact­ment, Living Histo­ry sind dann wert­voll, wenn die­ses Ver­hält­nis zwi­schen _​zu_​ “ver­ge­gen­wär­ti­gen­der” Ver­gan­gen­heit und “ver­ge­gen­wär­ti­gen­der” Gegen­wart ange­spro­chen und reflek­tiert wird, wenn also auch die Wün­sche und Vor­stel­lun­gen, “die Ver­gan­gen­heit” immersiv zu erle­ben etc., die Unmög­lich­keit, das voll­stän­dig zu tun, und somit die Lei­tun­gen und Gren­zen (aber auch die in der Gesell­schaft vor­han­de­nen Wün­sche bzw. Kri­tik) the­ma­ti­siert werden.Schulische Metho­den (mit ver­gleich­ba­ren Gren­zen) sind Rol­len- und Plan­spie­le, die zwin­gend (!) vor­aus­set­zen, dass 1.) die Regeln des Über­wäl­ti­gungs­ver­bots (Beu­tels­bach, oben schon ange­spro­chen) nicht gebro­chen wer­den, und 2.) Pha­sen der Refle­xi­on (und somit des “aus-der-Rol­le-Tre­tens” sowie des Nach­den­kens über die Bedin­gun­gen und Gren­zen der Ver­su­che von Ver­an­schau­li­chung und Ein­füh­lung etc.) ein­ge­hal­ten wer­den.

      Inso­fern sol­che “Metho­den” ange­wandt wer­den, um die erkennt­nis­theo­re­tisch zwin­gen­de und unhin­ter­geh­ba­re Natur von Geschich­te als retro­spek­ti­ver (also des­sen Ver­gan­gen-Sein und die Nach­ge­schich­te ken­nen­der) Rekon­struk­ti­on von Ver­gan­ge­nem und der Aus­ein­an­der­set­zung damit auf der Basis der gegen­wär­ti­gen Kennt­nis­se und Wer­te auf­zu­he­ben, sind sie unge­eig­net. Inso­fern sie aber _​Gegenstand_​ der Refle­xi­on sind, sind ggf. par­ti­el­le, kon­trol­lier­te und reflektierte_​Versuche_​ der Ein­füh­lung durch­aus sinn­voll — dann sind sie aber anders als hier beschrieben.

      Das gilt nicht nur, aber beson­ders augen­fäl­lig dort zu, wo es um Gewalt­ge­schich­ten, Unrecht etc. geht. Wir kön­nen nicht wol­len, dass unse­re Schü­le­rin­nen und Schü­ler auch nur momen­tan das “ech­te” Gefühl haben, etwa Häft­lin­ge eines KZ zu sein. Es wür­de bedeu­ten, dass sie alle Hoff­nung fah­ren las­sen müss­ten, dass sie den Zivi­li­sa­ti­ons­bruch, den das KZ-Sys­tem bedeu­te­te etc., voll­stän­dig erfah­ren müss­ten. Es ist schlimm genug (und schon das klingt zu harm­los), dass Men­schen dies wirk­lich erfah­ren muss­ten. Ande­re wirk­lich in sol­che Situa­ti­on brin­gen zu wol­len, ist ein­fach unsäg­lich. Kein(e) Schüler(in) soll­te das Gefühl haben, wirk­lich im KZ, in der Sta­si-Zel­le oder sonst zu sein.
      Dazu kommt näm­lich ein zwei­tes: Es ist gegen­über dem tat­säch­li­chen Lei­den der dama­li­gen Opfer (und den tat­säch­li­chen Taten der Täter, wie auch dem han­deln aller ande­ren) unan­ge­mes­sen, das heu­ti­ge, not­wen­di­ger­wei­se begrenz­te Nach­spie­len für “immersiv”, für eine Ver­ge­gen­wär­ti­gung des Dama­li­gen aus­zu­ge­ben. Es muss not­wen­dig begrenzt blei­ben (die Schü­le­rin­nen und Schü­ler wis­sen hof­fent­lich stän­dig, dass es ein zeit­lich begrenz­tes Expe­ri­ment ist).

      Die nach­ge­spiel­te Sta­si-Ver­neh­mung ist nicht die Sta­si-Ver­neh­mung von damals, die Gedenk­stät­te ist kein KZ (zum Glück nicht mehr), die nach­ge­spiel­te Schlacht ist kein Kampf auf Leben und Tod — und das ist gut so.

      Was wir dage­gen wol­len kön­nen und müs­sen, ist dass die Schü­le­rin­nen und Schü­ler sich auf­grund unter­schied­li­cher Infor­ma­tio­nen ÜBER dama­li­ges Lei­den und Han­deln ALS HEUTIGE mit dem Dama­li­gen UND SEINER BEDEUTUNG für uns heu­te und in Zukunft aus­ein­an­der­set­zen. Das kann (ggf. muss) Ver­su­che auch der emo­tio­na­len Abs­trak­ti­on von der gegen­wär­ti­gen Sicher­heit etc. beinhal­ten — aber es darf die Gren­ze der Aus­ein­an­der­set­zung von heu­te aus nicht überschreiten.

      Begrenz­te und kogni­tiv wie emo­tio­nal reflek­tier­te Metho­den, um die heu­ti­ge und eigene(n) Wis­sens­be­stän­de und Perspektive(n) zu erwei­tern, sind nötig, nicht aber sol­che, sie zu ver­las­sen, und sowie­so nur begrenzt re-kon­stru­ier­ba­res für “wirk­li­ches Ver­gan­gen­heit” aus­ge­ben­des. Sie wer­den der Natur von Geschich­te eben­so wenig gerecht wie dem Lei­den und Han­deln der Men­schen in der gespiel­ten Zeit.

    2. Kri­te­ri­um des Gelin­gens vie­ler sol­cher “Metho­den” im Geschichts­un­ter­richt darf nicht sein, “die Ver­gan­gen­heit” so gut wie mög­lich “abzu­bil­den” oder “nach­zu­stel­len”. Das gilt etwa auch für “pro­jek­ti­ve Schreib­auf­ga­ben”, bei wel­chen Schüler(innen) aus der Per­spek­ti­ve einer (ech­ten oder als typisch ange­nom­me­nen fik­ti­ven) Per­son Brie­fe oder Tage­buch­ein­trä­ge etc. schreiben.Niemand kann tat­säch­lich beur­tei­len, wann das “gelun­gen” ist. Zumeist wer­den die­je­ni­gen Schüler(innen) gute Rück­mel­dun­gen (oder gar Noten) erhal­ten, die die Vor­stel­lung der Lehr­per­son am bes­ten tref­fen, oder die in den vor­her gelesenen/​gesehenen Mate­ria­li­en gezeich­ne­te Ver­gan­gen­heit am bes­ten “umsetzen”.Das heißt nicht, dass sol­che Ver­su­che unnütz sind. Sie müss­ten aber in eine Dis­kus­si­on im Ple­num dar­über füh­ren, wel­che Aspek­te der ent­ste­hen­den Tex­te (oder auch Vide­os) wie belegt sind, wo Ent­schei­dun­gen getrof­fen wer­den muss­ten, und wel­che Ope­ra­tio­nen des his­to­ri­schen Den­kens (etwa pro­be­wei­se Distan­zie­rung von der eige­nen Welt­sicht) nötig waren und sind. Die­se Dis­kus­sio­nen müss­ten nicht in Rich­tung “gut gelun­gen” oder “schlecht gemacht” geführt wer­den, son­dern dahin­ge­hend, wel­che Vor­aus­set­zun­gen und Ent­schei­dun­gen die Ergeb­nis­se so unter­schied­lich machen (wes­halb die Lehr­kraft immer auch eine eige­ne Lösung dabei haben soll­te, die nicht ein­fach “Stan­dard” ist, son­dern ggf. Kon­trast­ma­te­ri­al).

      Übun­gen in his­to­ri­schem Per­spek­ti­ven­wech­sel (denn dar­um han­delt es sich) dür­fen nie den Ein­druck erwe­cken, es gin­ge dar­um, die eige­ne Per­spek­ti­ve auf­zu­ge­ben und mög­lichst ein­deu­tig “die” ande­re ein­zu­neh­men. Es geht um die Refle­xi­on von Per­spek­ti­vi­tät — ein­schließ­lich der unhin­ter­geh­ba­ren Retro-Perspektivität.

    3. Noch grund­sätz­li­cher (und das The­ma par­ti­ell ver­las­send): Zwei Tei­le des Problems: 
      1. eine Auf­ga­ben-Un-Kul­tur des her­kömm­li­chen Geschichts­un­ter­richts, die fast nur For­ma­te kennt, die dem Typ der Leis­tungs­auf­ga­be ent­spre­chen, nicht aber genu­in Lern-Auf­ga­ben-Cha­rak­ter haben. Leis­tungs­auf­ga­ben for­dern vom Ler­nen­den ab, etwas rich­tig, voll­stän­dig etc. zu tun. Lern­auf­ga­ben hin­ge­gen set­zen eine Aus­ein­an­der­set­zung mit etwas neu­em in Gang, deren Ergeb­nis nicht gleich einer Beur­tei­lung unter­zo­gen wird, son­dern Aus­gangs­punkt für (mög­lichst gemein­sa­me, kol­la­bo­ra­ti­ve Refle­xi­on) ist. BEIDE Auf­ga­ben­ar­ten kön­nen so ange­legt wer­den, dass nicht eine, son­dern unter­schied­li­che mög­lich sind. Bei Leis­tungs­auf­ga­ben steht der Lösungs­raum aber weit­ge­hend fest (zumin­dest hin­sicht­lich der Beur­tei­lun­gen), bei Lern­auf­ga­ben wird er in der Aus­ein­an­der­set­zung mit meh­re­ren Bear­bei­tun­gen erarbeitet.
      2. Die in der Gesell­schaft und bei vie­len Ler­nen­den ver­brei­te­te Grund­auf­fas­sung, dass es beim Geschichts­ler­nen immer um “rich­ti­ge Aus­sa­gen über Ver­gan­ge­nes” gehen müss­te, nicht aber (oder nur nach­lau­fend und nach­ran­gig) um Arten und Wei­sen, For­men und Kri­te­ri­en vali­der Bezü­ge auf Ver­gan­ge­nes, also um (unter­schied­li­che) Inter­es­sen an Geschich­te und ihrer “Ver­ge­gen­wär­ti­gung”, um die Bedeu­tung der Ver­gan­gen­heit, um Kri­te­ri­en, Mög­lich­kei­ten und Gren­zen. Solan­ge Schü­le­rin­nen mit der Vor­stel­lung in den Unter­richt kom­men _​und im Unter­richt dar­in bestärkt werden_​, dass am Ende die Lehr­kraft sagen kön­ne, “wie es wirk­lich war”, solan­ge die­ser “Default-Modus” der Teil­nah­me an GU nicht in die­sem Unter­richt der­art pro­duk­tiv auf­ge­bro­chen wird, dass Schü­le­rin­nen und Schü­ler erken­nen, dass sie es selbst sind und sein müs­sen, die ein ver­ant­wort­li­ches Ver­hält­nis zur Ver­gan­gen­heit und zu ihren Funk­tio­nen in der Gegen­wart auf­bau­en müs­sen und kön­nen, so lan­ge ist Geschichts­un­ter­richt der zugleich demo­kra­ti­schen und plu­ra­len (auch hete­ro­ge­nen) Gesell­schaft nicht zuträglich.

[auf einen län­ge­ren Ein­wand, in dem Bei­spiel gehe es ja nicht um Gewalt- son­dern All­tags­si­tua­tio­nen, und Refle­xi­on sei bei vie­len sol­cher Aktiv­ti­tä­ten (bes. in Schul­mu­se­en) durch­aus vorgesehen]

    1. Ja, es ist sicher rich­tig, dass das “harm­lo­ser” ist, wenn es kei­ne Gewalt­er­fah­run­gen sind.Gleichwohl muss man auch hier fra­gen, was denn die­sen All­tag gegen­über dem der frei­wil­lig oder unfrei­wil­lig re-enac­ten­den aus­zeich­net, dass er re-enac­ted wer­den soll. Es geht offen­kun­dig um All­tag, des­sen Unter­schied­lich­keit von dem der Gegen­wart erfah­ren wer­den soll: “Alteri­täts­er­fah­rung”. Aber ohne expli­zi­te Refle­xi­on bleibt das a‑historisch.

      Ich ken­ne gera­de auch in Schul­mu­se­en sol­ches “Nach­spie­len” von Unter­richt, das nicht nur Schrei­ben in “Süt­ter­lin” etc . ist, son­dern bei dem bestimm­te Auto­ri­täts­er­fah­run­gen (Dis­zi­plin und Stra­fen etc.) simu­liert wer­den. Da muss man dann doch fra­gen, was der gewünsch­te Effekt sein soll, und was wirk­li­che “Ein­sich­ten” sein können:

      - “Jetzt erlebt Ihr ein­mal, wie streng Schu­le damals war” (seid froh über Eure Frei­hei­ten heu­te)? — wie his­to­risch ist das? Inwie­fern wird gespiel­tes “in der Ecke ste­hen”, gespiel­tes Mokie­ren der Klas­se über fal­sche Ant­wor­ten etc. — wenn es denn schon nicht als rea­le heu­ti­ge Demü­ti­gung erfah­ren wird — der dama­li­gen Wirk­lich­keit ech­ter Demü­ti­gung gerecht? Inwie­fern erzeugt es ggf. eine Abwehr kri­ti­schen Den­kens über heu­ti­ge Struk­tu­ren, inwie­fern erzeugt es “Erleich­te­rung, heu­te zu leben”, die mit dama­li­gem Den­ken gar nichts zu tun hat. Damit will ich gar nichts gegen sol­che Spiel­sze­nen sagen. Solan­ge aber nicht reflek­tiert wird, dass sie uns nicht nur anders, son­dern als einer über­wun­de­nen Zeit (“damals noch — aber heu­te”) zuge­hö­rig erschei­nen, weil wir spä­te­res ken­nen, ist es a‑historisch. Dass ggf. die gespiel­ten, von heu­te aus (im harm­lo­sen Fall) “rück­stän­dig” erschei­nen­den Struk­tu­ren, Metho­den etc. in der dama­li­gen Situa­ti­on durch­aus auch als Fort­schritt erschie­nen sein kön­nen (Zugang zu Unter­richt für vie­le) — und GLEICHZEITIG aus heu­ti­ger Sicht untrag­bar wären , das wäre etwa auch zu thematisieren.

      - Gleich­zei­tig besteht natür­lich auch die Mög­lich­keit (hof­fent­lich sel­te­ner), dass bestimm­te Struk­tu­ren, die als zum “Damals” gehö­rig vor­ge­stellt wer­den, für man­che Besu­cher gar nicht ver­gan­gen sind, son­dern durch­aus zu eige­nen Erfah­run­gen pas­sen. Das wäre ein guter Anlass zum Spre­chen, bedarf aber beson­de­rer Thematisierung.

      - Inwie­fern alle sol­chen “Erleb­nis­se” eben kei­ne Erleb­nis­se von etwas Ver­gan­ge­nem sind, son­dern Insze­nie­run­gen einer bestimm­ten Auf­fas­sung von Ver­gan­ge­nem, das erst in der Retro­spek­ti­ve in die­ser Form dar­ge­stellt und gespielt wer­den kann, und das gleich­zei­tig an zumeist genau den­je­ni­gen Stel­len “ent­schärft” wird, die noch am ehes­ten der Dis­kus­si­on bedürf­ten (eben Dis­zi­pli­nie­rung, Gewalt, Ideo­lo­gie), müss­te eben­so reflek­tiert werden.

      Tem­po­ra­ler Exo­tis­mus reicht eben als Inten­ti­on, mit Schü­le­rin­nen und Schü­lern ein Schul­mu­se­um zu besu­chen, eben­so wenig wie klamm­heim­li­che Nost­al­gie. Das aber bedeu­tet, dass die Spiel­pha­sen und ‑sze­nen nicht nur zwin­gend nach­be­rei­tet wer­den müs­sen (und zwar vor Ort, im Gespräch mit den Spie­len­den und mit The­ma­ti­sie­rung der gehab­ten Erfah­run­gen und Gefüh­le, der dar­aus ent­ste­hen­den Fra­gen an das Damals UND sei­ne Bedeu­tung für heu­te), son­dern auch vor-berei­tet, indem etwa von den Schü­le­rin­nen und Schü­lern Erwar­tun­gen (incl. Ängs­te, Roman­ti­sie­run­gen etc.) gesam­melt wer­den. Man kann das öffent­lich im Ple­num tun, bes­ser aber ist es, das anonym vor­zu­neh­men (Kar­ten schrei­ben), viel­leicht soll­te aber auch zunächst jede® für sich die Erwar­tung auf­schrei­ben, die dann nach gehab­ter Erfah­rung erst jeweils selbst wie­der gele­sen und reflek­tiert wird.

und schließ­lich:

  1. Alle Moti­ve und Ziel­vor­stel­lun­gen, Ler­nen­den (oder ande­ren, Besu­chern von Aus­stel­lun­gen etwa) “die Ver­gan­gen­heit” oder wenigs­tens “Ver­gan­ge­nes” “näher brin­gen zu wol­len” — oder umge­kehrt, sie “der Ver­gan­gen­heit” “näher” brin­gen zu wol­len, sie “in die Ver­gan­gen­heit rei­sen” las­sen zu wol­len etc., sind im bes­ten Sin­ne frag-wür­dig. Sie müs­sen befragt und reflek­tiert wer­den, sie dür­fen allen­falls tem­po­rä­re Teil-Zie­le für ein­zel­ne Pha­sen sein, die kei­ne eige­ne Legi­ti­mi­tät haben, son­dern die­se erst dadurch gewin­nen, dass sie in umfas­sen­de­re Zie­le gegen­wär­ti­ger Refle­xi­on über das Ver­hält­nis des jewei­li­gen “Ver­gan­ge­nen” zur eige­nen Gegen­wart und Zukunft ein­ge­bet­tet sind.

Wieder Diskussion zum “chronologischen Geschichtsunterricht”

18. August 2010 Andreas Körber 1 Kommentar

Zur Zeit fin­det anläss­lich einer Umstruk­tu­rie­rung des Lehr­plans in Bran­den­burg eine wei­te­re Run­de der Dis­kus­si­on um die Rol­le der Chro­no­lo­gie im Geschichts­un­ter­richt statt. Infra­ge steht wie­der ein­mal (und immer zu Recht), ob die Chro­no­lo­gie als Gesichts­punkt für die Anordung der Gegenstände/​Themen im Geschichts­un­ter­richt unver­zicht­bar (weil ‘in der Natur der Sache lie­gend’), bei Vor­lie­gen bes­se­rer Kri­te­ri­en ver­zicht­bar, zu ergän­zen oder gar pro­ble­ma­tisch und zu über­win­den ist.
Geführt wird die Debat­te unter ande­rem in den Blogs “web​log​.hist​net​.ch” von Peter Haber und “Medi­en im Geschichts­un­ter­richt” von Dani­el Eisenmenger.
Mir scheint, dass dabei zwar nicht unbe­dingt sehr neue Argu­men­te zur Spra­che kom­men, aber ange­sichts der Her­aus­for­de­rung durch die Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung man­ches doch einen beach­tens­wer­ten neu­en Aspekt gewinnt. Das ist zum Bei­spiel der Fall im bis­lang letz­ten Bei­trag von Dani­el Eisen­men­ger unter dem Titel “Post­mo­der­ne Belie­big­keit”.

Aller­dings the­ma­ti­siert die Debat­te das Pro­blem wohl in grund­sätz­li­che­rer Form als die Bil­dungs­ad­mi­nis­tra­ti­on in Bran­den­burg bei der aus­lö­sen­den Ent­schei­dung. Wenn stimmt, was Dani­el Eil­sen­men­ger in einem älte­ren Bei­trag der Debat­te (“Weg vom chro­no­lo­gi­schen Durch­gang”) anführt, dass im dor­ti­gen Lehr­plan die Chro­no­lo­gie als Ord­nungs­prin­zip auf­ge­ge­ben wur­de, damit Schü­le­rin­nen und Schü­ler frü­her als bis­her Geschichts­un­ter­richt über die DDR erhal­ten kön­nen (begrün­det wird das dem­nach mit dem zu gerin­gen Wis­sen um die DDR).

Der­ar­ti­ges ist nicht neu. Vor vie­len Jah­ren hat Ham­burg zum Bei­spiel die Lehr­plä­ne so geän­dert, dass der Natio­nal­so­zia­lis­mus bereits in der 9. Klas­se ein­ge­ord­net ist, so dass kein Schü­ler ohne die Behand­lung die­ses The­mas die Schu­le verlässt.

Wenn die Chro­no­lo­gie nur zu die­sem Zweck und in die­sem Fal­le auf­ge­ge­ben wer­den soll­te (“Vor­zie­hen” die­ses The­mas), dann wäre das durch­aus pro­ble­ma­tisch, bedeu­te­te es doch kei­ne Abkehr von der Chro­no­lo­gie, son­dern viel­mehr ihre Bestä­ti­gung für den “Rest” der Geschich­te — und ihre Delegitimierung.

Wenn aber die Ein­sicht, dass die­ses The­ma auch für die jün­ge­ren Schü­ler bereits so rele­vant ist, dass sei­ne schu­li­sche Behand­lung auch für sie ermög­licht wer­den muss, dann kann, ja muss das der Ansatz sein, über die Chro­no­lo­gie grund­sätz­lich nach­zu­den­ken, und ande­re Kri­te­ri­en zu suchen. Eisen­men­ger for­mu­liert eine Möglichkeit:

An die Stel­le der chro­no­lo­gi­schen Ord­nung als Rah­men des Unter­richts trä­te ein Per­spek­tiv­wech­sel, der es erlaubt, den Geschichts­un­ter­richt auf den Vor­stel­lun­gen und Fähig­kei­ten der Schü­le­rin­nen und Schü­ler auf­zu­bau­en. Das wäre ein Geschichts­un­ter­richt, der von den Kin­dern und Jugend­li­chen aus­geht – obwohl ich das als oft hoh­le Phra­se aus dem erzie­hungs­wis­sen­schaft­li­chen Teil des Stu­di­ums nicht schät­ze, trifft es dies wohl am bes­ten – und bei dem die Chro­no­lo­gie nicht mehr den Unter­richts­gang vor­struk­tu­riert son­dern zur Ord­nungs­ka­te­go­rie und Ori­en­tie­rungs­hil­fe auf der Ebe­ne der ein­zel­nen The­men­be­rei­che wird.

Das wäre sehr sinnvoll:
Ein Geschichts­un­ter­richt, der an den Deu­tungs-Bedürf­nis­sen der Schü­le­rin­nen und Schü­ler ansetzt, an den ihnen in ihrer Gegen­wart begeg­nen­den Geschichts-Debat­ten, und sie befä­higt, sich selbst ein Urteil dar­über zu bil­den — und zwar sowohl über die “Real­ge­schich­te” (=“Re-Kon­struk­ti­on”) wie auch über unter­schied­li­che Dar­stel­lun­gen und Beur­tei­lun­gen der­sel­ben (“De-Kon­struk­ti­on”). So wür­den die Ler­nen­den befä­higt, selbst an die­ser Deu­tungs­ge­sell­schaft teilzuhaben.

Aber wie es scheint, liegt die Sache durch­aus anders. Die Begrün­dung für den frü­he­ren Ansatz die­ses The­mas sei näm­lich, so Eisen­men­ger in einem ande­ren Bei­trag, der Befund, dass die Schü­ler so wenig über die DDR-Geschich­te wüss­ten. Im Hin­ter­grund ste­hen wohl (auch) die (empi­risch schlecht abge­si­cher­ten) Befun­de von Schroe­der/­Deutz-Schroe­der und die dar­aus ent­stan­de­ne Dis­kus­si­on. Dort aller­dings wird (ohne den all­ge­mei­nen Befund, Schü­ler wüss­ten “zu wenig” zu ent­wer­ten) “Wis­sen” vor­nehm­lich mit dem Ver­fü­gen über eine bestimm­te Deu­tung gleich­ge­setzt. Schü­ler müss­ten wis­sen, dass die DDR ein Unrechts­staat war. Es geht dann weni­ger dar­um, sie zu befä­hi­gen, die Vali­di­tät (anhand von Sach­ur­tei­len) und die Kon­no­ta­tio­nen und Impli­ka­tio­nen die­ses Wert­ur­teils zu prüfen.

Trägt der Beu­tels­ba­cher Kon­sens eigent­lich noch? Wenn der Ansatz­punkt für einen der­art schü­ler­ori­en­tier­ten Geschichts­un­ter­richt ist, dass die DDR-Geschich­te in Wis­sen­schaft und Lebens­welt umstrit­ten ist, dann müs­sen auch die kon­tro­ver­sen Urtei­le dar­über vor­kom­men, ana­ly­siert wer­den, und unter­schied­li­che eige­ne Urtei­le erlaubt sein — etwa dass ein Schü­ler zu dem Urteil kommt, dass der Begriff “Unrechts­staat” in dem Sinn anwend­bar sei, dass die DDR gera­de kein Rechts­staat gewe­sen sei, und dass oft­mals das Jus­tiz­we­sen gegen ele­men­ta­re Rechts­grund­sät­ze ver­sto­ßen hat, dass aber eine Deu­tung, das ALLES in der DDR grund­sätz­lich Unrecht gewe­sen sei, dass es “kein Rich­ti­ges Leben im Val­schen” gege­ben habe, weni­ger zuträ­fe. Eben­so muss aber auch die ande­re Auf­fas­sung mög­lich sein.
Ob das aller­dings schon in nie­de­ren Klas­sen so erreicht wer­den kann, ist durch­aus offen. Wenn es ange­st­revt wür­de, wäre es in Fort­schritt. Es dürf­te nicht dar­um gehen, die Jugend­li­chen im Sin­ne der libe­ral-frei­heit­li­chen Ord­nung zu indok­tri­nie­ren. So rich­tig und not­wen­dig die­se ist, so wenig eig­net sie sich dazu, per admi­nis­tra­tiv und päd­ago­gisch hoheit­li­cher Auto­ri­tät vor­ge­ge­ben zu wer­den. Gera­de das Nach­den­ken auch über die jeweils ande­ren Urtei­le zeich­net doch die Frei­heit aus.

Aus die­ser Über­le­gung ent­steht dann durch­aus der Bedarf, den Geschichts­un­ter­richt anders auf­zu­bau­en. Es müss­te etwa zunächst (in nie­de­ren Klas­sen) dar­um gehen, mit ele­men­ta­ren Ord­nungs- und Begriffs­sys­te­men umge­hen zu ler­nen, um in spä­te­ren Pha­sen an ande­ren, aber immer wie­der auch an wie­der­keh­ren­den The­men (Spi­ral­cur­ri­cu­lar) zur Refle­xi­on der Urtei­le und der Urteils­grund­la­gen zu gelangen.

Kurz­um:
Es erscheint drin­gend nötig, dass Schü­le­rin­nen und Schü­ler mehr und bes­ser über die DDR-Geschich­te ler­nen, dass die Fra­gen von Recht und Unrecht, Tätern und Opfern, Dik­ta­tur- und Unrechts­cha­rak­ter, von Demo­kra­tie- und Menschenrechtsverständis(sen) (im Plu­ral!) und wei­te­re the­ma­ti­siert wer­den; dass Zeit­zeu­gen und ihre Erfah­run­gen ein­be­zo­gen wer­den. Das ist hier nicht anders als beim Gegen­stand Natio­nal­so­zia­lis­mus und Holo­caust. Jeg­li­che Ver­kür­zung auf das Ler­nen vor­ge­ge­be­ner Urtei­le wäre dabei aber kontraproduktiv.

Körber (1994): Ost-West-Geschichte(n) im Schulbuch — eine Expertise

13. Mai 1994 Andreas Körber Keine Kommentare

Kör­ber, Andre­as (1994): “West-Ost/Ost-West-Geschichte[n] im Schul­buch”. Unver­öf­fent­lich­tes Gut­ach­ten über die Dar­stel­lung der inner­deut­schen Bezie­hun­gen zwi­schen 1949 und 1989 in Geschichts­schul­bü­chern der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land und der DDR. Ange­fer­tigt im Rah­men der Vor­be­rei­tung des Schü­ler­wett­be­werbs Deut­sche Geschich­te um den Preis des Bun­des­prä­si­den­ten der Kör­ber-Stif­tung 1994/​95; 47 S.