Zur Zeit findet anlässlich einer Umstrukturierung des Lehrplans in Brandenburg eine weitere Runde der Diskussion um die Rolle der Chronologie im Geschichtsunterricht statt. Infrage steht wieder einmal (und immer zu Recht), ob die Chronologie als Gesichtspunkt für die Anordung der Gegenstände/Themen im Geschichtsunterricht unverzichtbar (weil ‘in der Natur der Sache liegend’), bei Vorliegen besserer Kriterien verzichtbar, zu ergänzen oder gar problematisch und zu überwinden ist.
Geführt wird die Debatte unter anderem in den Blogs “weblog.histnet.ch” von Peter Haber und “Medien im Geschichtsunterricht” von Daniel Eisenmenger.
Mir scheint, dass dabei zwar nicht unbedingt sehr neue Argumente zur Sprache kommen, aber angesichts der Herausforderung durch die Kompetenzorientierung manches doch einen beachtenswerten neuen Aspekt gewinnt. Das ist zum Beispiel der Fall im bislang letzten Beitrag von Daniel Eisenmenger unter dem Titel “Postmoderne Beliebigkeit”.
Allerdings thematisiert die Debatte das Problem wohl in grundsätzlicherer Form als die Bildungsadministration in Brandenburg bei der auslösenden Entscheidung. Wenn stimmt, was Daniel Eilsenmenger in einem älteren Beitrag der Debatte (“Weg vom chronologischen Durchgang”) anführt, dass im dortigen Lehrplan die Chronologie als Ordnungsprinzip aufgegeben wurde, damit Schülerinnen und Schüler früher als bisher Geschichtsunterricht über die DDR erhalten können (begründet wird das demnach mit dem zu geringen Wissen um die DDR).
Derartiges ist nicht neu. Vor vielen Jahren hat Hamburg zum Beispiel die Lehrpläne so geändert, dass der Nationalsozialismus bereits in der 9. Klasse eingeordnet ist, so dass kein Schüler ohne die Behandlung dieses Themas die Schule verlässt.
Wenn die Chronologie nur zu diesem Zweck und in diesem Falle aufgegeben werden sollte (“Vorziehen” dieses Themas), dann wäre das durchaus problematisch, bedeutete es doch keine Abkehr von der Chronologie, sondern vielmehr ihre Bestätigung für den “Rest” der Geschichte — und ihre Delegitimierung.
Wenn aber die Einsicht, dass dieses Thema auch für die jüngeren Schüler bereits so relevant ist, dass seine schulische Behandlung auch für sie ermöglicht werden muss, dann kann, ja muss das der Ansatz sein, über die Chronologie grundsätzlich nachzudenken, und andere Kriterien zu suchen. Eisenmenger formuliert eine Möglichkeit:
An die Stelle der chronologischen Ordnung als Rahmen des Unterrichts träte ein Perspektivwechsel, der es erlaubt, den Geschichtsunterricht auf den Vorstellungen und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler aufzubauen. Das wäre ein Geschichtsunterricht, der von den Kindern und Jugendlichen ausgeht – obwohl ich das als oft hohle Phrase aus dem erziehungswissenschaftlichen Teil des Studiums nicht schätze, trifft es dies wohl am besten – und bei dem die Chronologie nicht mehr den Unterrichtsgang vorstrukturiert sondern zur Ordnungskategorie und Orientierungshilfe auf der Ebene der einzelnen Themenbereiche wird.
Das wäre sehr sinnvoll:
Ein Geschichtsunterricht, der an den Deutungs-Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler ansetzt, an den ihnen in ihrer Gegenwart begegnenden Geschichts-Debatten, und sie befähigt, sich selbst ein Urteil darüber zu bilden — und zwar sowohl über die “Realgeschichte” (=“Re-Konstruktion”) wie auch über unterschiedliche Darstellungen und Beurteilungen derselben (“De-Konstruktion”). So würden die Lernenden befähigt, selbst an dieser Deutungsgesellschaft teilzuhaben.
Aber wie es scheint, liegt die Sache durchaus anders. Die Begründung für den früheren Ansatz dieses Themas sei nämlich, so Eisenmenger in einem anderen Beitrag, der Befund, dass die Schüler so wenig über die DDR-Geschichte wüssten. Im Hintergrund stehen wohl (auch) die (empirisch schlecht abgesicherten) Befunde von Schroeder/Deutz-Schroeder und die daraus entstandene Diskussion. Dort allerdings wird (ohne den allgemeinen Befund, Schüler wüssten “zu wenig” zu entwerten) “Wissen” vornehmlich mit dem Verfügen über eine bestimmte Deutung gleichgesetzt. Schüler müssten wissen, dass die DDR ein Unrechtsstaat war. Es geht dann weniger darum, sie zu befähigen, die Validität (anhand von Sachurteilen) und die Konnotationen und Implikationen dieses Werturteils zu prüfen.
Trägt der Beutelsbacher Konsens eigentlich noch? Wenn der Ansatzpunkt für einen derart schülerorientierten Geschichtsunterricht ist, dass die DDR-Geschichte in Wissenschaft und Lebenswelt umstritten ist, dann müssen auch die kontroversen Urteile darüber vorkommen, analysiert werden, und unterschiedliche eigene Urteile erlaubt sein — etwa dass ein Schüler zu dem Urteil kommt, dass der Begriff “Unrechtsstaat” in dem Sinn anwendbar sei, dass die DDR gerade kein Rechtsstaat gewesen sei, und dass oftmals das Justizwesen gegen elementare Rechtsgrundsätze verstoßen hat, dass aber eine Deutung, das ALLES in der DDR grundsätzlich Unrecht gewesen sei, dass es “kein Richtiges Leben im Valschen” gegeben habe, weniger zuträfe. Ebenso muss aber auch die andere Auffassung möglich sein.
Ob das allerdings schon in niederen Klassen so erreicht werden kann, ist durchaus offen. Wenn es angestrevt würde, wäre es in Fortschritt. Es dürfte nicht darum gehen, die Jugendlichen im Sinne der liberal-freiheitlichen Ordnung zu indoktrinieren. So richtig und notwendig diese ist, so wenig eignet sie sich dazu, per administrativ und pädagogisch hoheitlicher Autorität vorgegeben zu werden. Gerade das Nachdenken auch über die jeweils anderen Urteile zeichnet doch die Freiheit aus.
Aus dieser Überlegung entsteht dann durchaus der Bedarf, den Geschichtsunterricht anders aufzubauen. Es müsste etwa zunächst (in niederen Klassen) darum gehen, mit elementaren Ordnungs- und Begriffssystemen umgehen zu lernen, um in späteren Phasen an anderen, aber immer wieder auch an wiederkehrenden Themen (Spiralcurricular) zur Reflexion der Urteile und der Urteilsgrundlagen zu gelangen.
Kurzum:
Es erscheint dringend nötig, dass Schülerinnen und Schüler mehr und besser über die DDR-Geschichte lernen, dass die Fragen von Recht und Unrecht, Tätern und Opfern, Diktatur- und Unrechtscharakter, von Demokratie- und Menschenrechtsverständis(sen) (im Plural!) und weitere thematisiert werden; dass Zeitzeugen und ihre Erfahrungen einbezogen werden. Das ist hier nicht anders als beim Gegenstand Nationalsozialismus und Holocaust. Jegliche Verkürzung auf das Lernen vorgegebener Urteile wäre dabei aber kontraproduktiv.
21. August 2010 um 1:22 pm Uhr
Noch einmal zu Peter Habers Argument, man müsse doch “die Grundlagen” eine Themas (hier: der Demokratie, nämlich die griechischen) kennengelernt haben, bevor man Fragen gegenwärtiger Demokratie (etwa DDR und Demokratie) zum Thema macht (vgl. auch meinen Kommentar dort):
1. Was sind eigentlich “die Grundlagen” — und wann sind sie vollständig? Reicht “die Demokratie” in Griechenland? Sind das erschöpfend “die Grundlagen”? Müssen nicht — dieser Logik zufolge — alle Ideen, Einflüsse etc., die Eingang in den modernen Demokratiegedanken gefunden haben, VORAB behandelt werden? Wenn dem so wäre, führte es unweigerlich dazu, dass immer zunächst die “ganze” Vorgeschichte, die vollständige Entwicklung bzw. Entfaltung behandelt werden muss. Wenn nicht — wer bestimmt dann, wann “die Grundlagen” erschöpfend oder nur: “genug” behandelt sind? Würde nicht jede derartige Entscheidung bedeuten, dass vorab (und für die Schülerinnen und Schüler intransparent) entschieden wird, welche “Grundlagen” für die gegenwärtige Thematisierung der Demokratie nötig und hinreichend sind?
2. Ist es wirklich so, dass man diese Grundlagen haben muss, bevor die Fragen der Demokratie heute zum Thema (gemacht) werden können? Es ist sicherlich so, dass diese Grundlagen in vernünftiger Auswahl aufgearbeitet und behandelt sein müssen, bevor man zu den Fragen gegenwärtiger Demokratie zu einem Urteil kommt — aber bevor sie thematisch werden? Ist es nicht viel eher so, dass ihre Aufarbeitung erst dann sinnvollerweise gelingen kann, wenn diese durch Fragen strukturiert wird, die durch ein gegenwärtiges Thema entstanden sind?
Wie wäre denn eine “Vermittlung” “der Grundlage” ohne solches Thema zu denken? Müsste das nicht implizieren, dass diese Grundlagen umfassen, vollständig “vermittelt ” werden, weil man ja nicht vorab wissen kann, welche Aspekte später Bedeutung erlangen? Wann aber “hat” man “die Grundlagen”? Wann verfügt ein Schüler über “die Grundlagen der Demokratie” (auch nur der griechischen)?
Ist es nicht ehrlicher, die jeweils relevanten Aspekte in problemorierentierter Form aufzuarbeiten, wenn sie thematisch sind?
Also weiterhin: Kein Widerspruch zu der Aussage, dass man über die nötigen Grundlagen verfügen muss — aber das muss nicht unbedingt vorher geschehen, quasi “auf Vorrat”. Das würde ja auch implizieren, dass man “die (chronologischen) Grundlagen” für jeglichen später vielleicht thematisch werdenden Gegenstand auf Vorrat unterrichten müsste. Dann wären wir wieder (mit gutem Anspruch) bei der Notwendigkeit eine welt- oder universalgeschichtliche Meistererzählung vermitteln zu müssen, deren Validität in der Gegenwart der Heterogenität (in den “Posttraditionalen Gesellschaften”) mit guten Argumenten in Zweifel gezogen worden ist.