Eine der Formeln, die sich im Zuge der Kompetenzorientierung des Faches Geschichte etabliert haben, ist die von Waltraud Schreiber geprägte Formulierung von „reflektiertem und (selbst-)reflexivem“ Geschichtsbewusstseins als Ziel historischen Lernens. Die Unterscheidung beider Partikel ist zumeist dahingehend erläutert worden, dass das letztere Element die Fokussierung des historischen Denkens nicht nur auf den (vergangenen) Gegenstand und seine Beziehung der Gegenwart umfasst wie das zuerst genannte, sondern die spezifische Wendung des Geschichtsbewusstseins bzw. seine*r Träger*in auf die eigene Position und Rolle dabei, also auf die Eigenschaft auch Akteur*in des eigenen Geschichtsdenkens zu sein.

In einem anderen Zugriff haben vor zwei Jahren Christian Heuer, Waltraud Schreiber und ich in einem nicht publizierten und nicht videographierten Vortrag auf einer Tagung der Sektion Schulpädagogik der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft die Unterscheidung von „Reflektierheit“ und „Reflexivität“ ähnlich, aber doch in entscheidender Hinsicht anders getroffen.((Körber, Andreas; Heuer, Christian; Schreiber, Waltraud (2021 [unpubl.]): Begründung und Entscheidung: Reflexion und Reflexivität als Elemente geschichtsdidaktischer Professionalität. „Reflexion und Reflexivität in Unterricht, Schule und Lehrer*innen­bildung“. Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft; Sektion Schulpädagogik. Online, 23.09.2021 [unpubl.]. Online verfügbar unter https://www.dgfe-sektionstagung-schulpaedagogik-2020.de/, https://www.conftool.pro/dgfe-schulpaedagogik2020/index.php?page=browseSessions&form_session=103.)) Wir haben dort „Reflektiertheit“ als Ausweis eines mittleren Kompetenzniveaus und „Reflexivität“ als Indikator für das elaborierte Niveau angenommen, begründet mit der schon im Niveauunterscheidungs- (also Graduierungs-)Konzept des FUER-Kompetenzmodells angelegten Definition, dass das mittlere (intermediäre) Niveau historischen Denkens in der Nutzung konventioneller Begriffe, Konzepte, Methoden etc. für eigenständiges historisches Denken, das elaborierte Niveau hingegen darin bestehe, dass diese Konventionen nicht einfach (produktiv) angewandt, sondern (gewissermaßen „neben“ deren Anwendung) selbst zum Gegenstand des historischen Denkens gemacht werden — insbesondere hinsichtlich ihrer Reichweite, Leistung und Grenzen bzw. Konkretisierungs-, Adaptions- und Weiterentwicklungsbedarf. In diesem Sinne ist „Reflexivität“ nicht allein die Wendung des Historischen Denkens auf die eigene Positionalität, Perspektive und agency, gewissernaßen als komplementäre Facette zu Reflektiertheit, sondern eine höhere, gesteigerte Form, die auch eine noch so produktive Anwendung konventioneller Formen übersteigt.

Reflexivität erscheint so als Ausweis desjenigen Niveaus, das schulisches Geschichtslernen wenigstens ansatzweise anstreben muss, während und nachdem die Befähigung zur Nutzung gesellschaftlich und disziplinär konventioneller Konzepte fokussiert wird. Letztere ist notwendige Bedigung für eine aktive wie passive Teilhabe an der Geschichtskultur — etwa dadurch, dass die Verfügung über solche Konzepte die Befähigung grundlegt, von anderen verstanden werden, wenn nach historischen Informationen, Deutungen etc. gefragt wird (u.a. durch korrekten Bezug auf Epochen, Sektoren, durch Verweis auf Deutungs- und Erklräungsmuster etc.), reicht für die Zuerkennung elaborierter Kompetenz jedoch nicht aus, wenn darunter verstanden werden soll, dass das einzelne Mitglied der Gesellschaft einsehen und damit umgehen können soll, dass solche Konventionen eben nicht einfach „die wahre Vergangenheit“ abbilden, sondern dass sie zeit-, kulturspezifische und weitere Setzungen enthalten, die ggf. kritische zu reflektieren sind.

Allerdings ist es mit dieser Form von Reflexivität historischen Denkens angesichts der gegenwärtig diskutierten Orientierungsbedürfnisse der Menschheit wohl nicht getan. Die bislang die geschichtsdidaktische Diskussion und Forschung in Deutschland und auch darüber hinaus prägenden Zeitverlaufs- und -relationskonzepte geraten unter den rezent diskutierten Eindrücken existenzieller Herausforderungen  in Verdacht, nicht auszureichen.

Diese besagen, dass das Ziel historischer Denkoperationen ist — immer die (ko-)konstruktive Gewinnung zeitlicher Orientierung, d.h. die Vergewisserung und Prüfung des eigenen „Standorts“ der so denkenden und argumentierenden Individuen und Kollektive sowohl innerhalb der Gegenwart, vornehmlich aber in Relation zu vergangenen Zeiten („Identifizierung“; Identitätsreflexion), die Klärung eigener und fremder Erwartungen (neutral-sachlicher Art ebenso wie Hoffnungen und Befürchtungen) für kommende Zeiten, und zentral der Möglichkeiten und Grenzen gegenwärtiger Handlungen mit Blick auf diese Erfahrungen „im Lichte“ des Vergangenen.

Diese Kombination der Dreiheit „Vergangenheitsdeutung – Gegenwartswahrnehmung und Zukunftserwartung“, wie sie Karl-Ernst Jeismann als Grundstruktur der Zentralkategorie der Geschichtsdidaktik, des Geschichtsbewusstseins, formuliert hat, prägt Forschung, normative Diskussion und Pragmatik der Disziplin bis heute. Angesichts der skizzierten Herausforderungen erscheint sie aber nicht mehr hinreichend. Vielmehr macht es den Eindruck, dass — bei aller Reflektiertheit (!), die diese Konzeptentwicklung im Zusammenspiel von Geschichtstheorie, -forschung und -didaktik offebart — die in ihr präsente Perspektive noch eine ist, deren Zukunftserwartung gewissermaßen „ungetrübt“ von existentiellen Besorgnissen erschien. Die skizzierte „Dreierformel“ wie auch die verschiedenen Formulierungen der Funktionsbschreibung der Geschichte bzw. des historischen Denkens durch Jörn Rüsen zeugen davon — etwa wenn davon die Rede ist, dass „Menschen historisch denken müssen, um leben zu können, daß sie ihre Gegenwart nur erschließen und ihre Zukunft nur entwerfen können, wenn sie sich der Vergangenheit zuwenden“,((Rüsen, Jörn (1983): Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Kleine Vandenhoeck-Reihe, 1489), S. 26.)), erste „als Handlungsperspektive […] gewonnen“ werden soll1. Es geht um die Eröffnung von Zukunftsperspektiven „in die hinein absichtsvoll gehandelt werden kann“2.

Zu den Herausforderungen des im Folgenden skizzierten bisherigen Konzept historischen Denkens sensu Rüsen gehört die ursprünglich in der Naturwissenschaft formulierte, in sich selbst aber grundlegend historische Wahrnehmung, die Menschheit sei in ein weiteres Zeitalter ihrer Gattungsgeschichte eingetreten, nämlich das Anthropozän, ebenso wie weniger in den Konzepten von „Big History“ formulierte Wahrnehmungen unmittelbar oder demnächst bevorstehender Bedrohungen menschlicher Ordnungen oder gar der Existenz, wie unter dem Stichwort „Klimawandel“, „Kippunkte“ und „letzte Generation“ diskutiert. Alle diese Denkformen sind konstitutiv narrativ, d.h. historisch strukturiert, insofern sie gegenwärtige Erlebnisse im Modus historischen Denkens mit mehr oder weniger stringent forschend gewonnenen Informationen über vergangene Gegebenheiten und Entwicklungen sowie mit Erwartungen an die Zukunft in Beziehung setzen. Das gleiche gilt etwa für die Zukunftsprojektion eines Heraustretens der Gattung homo sapiens aus dem Kreis der Natur (als zwar besonders mächtiges, aber doch letztlich ein Tier unter anderen), in welcher sie ihr Verhältnis zum Rest der Natur intentional und grundlegend verändern kann – nicht zuletzt durch Integration von Mensch und Technik (etwa Schnittstellen zwischen Computern und Körpern und vor allem Gehirnen) bzw. durch die Gewinnung technologischer Herrschaft nicht nur über die Tatsache menschlicher Reproduktion, sondern ebenso über die Gestaltung künftiger Menschen, wie sie vor ein paar Jahren Yuval Harari entworfen hat.((Harari, Yuval Noaḥ (2017): Homo deus. A brief history of tomorrow. First U.S. edition. New York, NY: Harper.)) Sie wären ein „Game Changer“ nicht insofern als Chancen im grundlegend gleichen Spiel neu verteilt würden, sondern insofern die Regeln des Spiels „Menschsein“ neu definiert würden. Mit der Klimathematik und dem dort beheimateten Konzept des Anthropozäns hätte diese Vision gemeinsam, dass die Stellung des Menschen zur Natur gänzlich umstrukturiert würde im Sinne einer grundlegenden Gestaltungsmacht der menschlichen Gattung.

Man könnte zunächst meinen, dass unter derart veränderten Bedingungen der gesamte Erfahrungsschatz menschlichen Zusammenlebens in der Vergangenheit und damit historisches Denken sowie Geschichtsbewusstsein wertlos würde. Dem scheint aber nicht so zu sein. Historisches Denken nach diesem Übergang müsste jedoch in beiden Fällen darin bestehen, die Andersartigkeit der Beziehungs- und Wirkungslogiken vor un nach diesem Zeitenwandel zu bestimmen und zu berücksichtigen, um die Art und Weise wie die Grenzen, in welcher rekonstruierten „älteren“ Logiken der Naturen und Beziehungen von Umwelt und Menschen Bedeutung zugewiesen werden kann auch für die neue Situation. Im Sinne einer einfachen, linear gerichteten Veränderung entlang einer Linie wird das nicht mehr gelingen. Es werden vielmehr neue Formen der Sinnbildung entwickelt werden — das ist die Form, in welcher nie zuvor dagewesener Wandel((Vgl. Simon, Zoltán Boldizsár (2021): History in Times of Unprecedented Change.)) das historiche Denken als Orientierung herausfordert, und in welcher auch die bisherigen Vorschläge einer Verlängerung der Typologie Rüsens nach „oben“ durch Bodo von Borries (nächster Sinnbildungstyp „evolutionäres Erzählen“) und mich (zunächst „pluri-genetisches und dann evolutionäres Erzalen“) offenkundig kaum aureichen.3

Ich möchte im Folgenden vielmehr einen Vorschlagen machen, wie das Konzept historischen Denkens in anderer Hinsicht erweitert werden müsste.

Ein Pfeil geht von "Heute" nach links zur "Vergangenheit" und wendet sich dann wieder nach rechts zur "Zukunft". An seinem Anfang steht ein Fragezeichen, am Wendepunkt und Ende ein Ausrufezeichen in Klammern

Historisches Denken aus Vergangenheitsdeutung, Gegenwartswahrnehmung und Erwartung einer offenen Zukunft.

Gemäß der oben skizzierten überkommenen Konzeption besteht historische Denken in der Wendung des sich zeitlich orientierenden Blicks zur Vergangenheit sowie dann samt gewonnener Erkenntnisse über Vergangenes in einer Rückwendung in die Gegenwart und zur nunmehr als nicht mehr ganz so unbestimmt offenen, aber doch als Handlungsfeld gewonnenen Zukunft (vgl. Abb. 1).

Durch die grundlegende Tatsache pluraler Perspektiven entsteht so nicht eine einheitliche, sondern mehrere historische Orientierungen, die möglichst miteinander kompatibel sein sollten (Abb 2).

Abb. 2: Mehrere Pfeile als Symbole pluraler Orientierungen

 

 

 

 

 

 

 

Ein Pfeil geht von "Heute" nach links zur "Vergangenheit" und wendet sich dann wieder nach rechts zur "Zukunft". An seinem Anfang steht ein Fragezeichen, am Wendepunkt und Ende ein Ausrufezeichen in Klammern; zudem kehrt ein anders gepunkteter Pfeil von der Zukunft zurpck zu Gegenwart

Abb. 3; Orientierungspfeil, reflexiv

Diesem Modell nun möchte ich ein zweites entgegenstellen, das die Zukunft nicht einfach als offen, sondern in deutlich stärkerem Maße auch als Konsequenz gegenwärtigen und vergangenen Handelns in den Blick bringt und damit die Konzeption historischer Orientierung verändert. Dieses Modell könnte gedacht werden, wie in Abb. 3 skizziert. Es ergänzt das in die Zukunft als eigenes Handlungsfeld gerichtete Denken um einen Pfeil, der eine antizipierte Retrospektive künftiger Generationen auf das heutige, eigene Denken symbolisiert. Nicht mehr vornehmlich oder ausschließlich „wer sind wir angesichts der Vergangenheit“ und „was können wir heute tun“ bzw. „was sollten wir angesichts der Erfahrungen in und aus der Vergangenheit, lieber vermeiden“ lautet die historische Orientierungsfrage, sondern „wer werden wir für die Menschen jener Zukunft, in die hinein wir handeln gewesen sein?“ und „wer wollen wir in ihren Augen gewesen sein?“((Vgl. Willemsen, Roger (2016): Wer wir waren. Zukunftsrede. Frankfurt/Main: S. Fischer.)) Historische Orientierung und darauf gerichtetes Historisches Denken muss nicht nur für die Zukunft orientieren, sondern auch angesichts einer Verantwortung gegenüber der Zukunft.((Das ist inzwischen auch Grundgedanke einer höchstrichterlichen Entscheidung; vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 24. März 202; -1 BvR 2656/18 -, http://www.bverfg.de/e/rs20210324_1bvr265618.html; Leitsatz 1; 4; Rn.))

Abb. 4 Mehrere Pfeile als Symbole pluraler Orientierungen . reflexiv

Auch diese erweiterte Form historischer Orientierung ist nicht für alle Menschen gleich, sondern je nach Perspektive unterschiedlich.

In diesem Sinne ist dieses historische Denken als „reflexiv“ zu charakterisieren. Nicht nur, weil es die der jeweiligen Gegenwart des historischen Denkens zur Verfügung stehenden Konventionen nicht nur anwendet, sondern sie ihrerseits reflektiert, sondern vornehmlich dadurch, dass es die eigene Position im (narrativ zu konstruierenden) historischen Prozess nicht nur als Möglichkeits- sondern auch als Verantwortungsraum denkt. Die Zukunft des Historischen Denkens wird so um die Perspektive eines Futur 2 erweitert.((Vgl. bereits Körber, Andreas (2019): Extending historical consciousness. Past futures and future pasts. In: Historical Encounters. A Journal of Historical Consciousness, Historical Cultures, and History Education 6 (1), S. 29–39. Online verfügbar unter https://www.hej-hermes.net/_files/ugd/f067ea_054b06dd0b7747cea0ea768812b15b05.pdf.))

Auch hier lässt sich „reflektiert“ und „reflexiv“ unterscheiden: Das überkommende Konzept historischer Orientierung und historischen Denkens ist wiederum insofern „reflektiert“, als es das Gegebene — in diesem Fall die re-konstruierten Einsichten in Vergangenes und seine Zusammenhänge untereinander sowie mit der Gegenwart — für die Konstruktion von Erwartungen, Hoffnungen, Befürchtungen nutzt; „reflexiv“ hingegen ist das erweiterte onzept, insofern die eigene Position des Denkens im Zeitverlauf und auch als potentielle Ursache für Künftiges in den Blick nimmt.

Schließlich können beide Formen von Reflektiertheit und Reflexivität aufeinander bezogen und miteinander verschränkt werden. So, wie das „reflektierte“, auf die offene Zukunft gerichtete historische Denkens auf unterschiedlichen Qualitätsniveaus vollzogen werden kann (basal: unter Anwendung nicht-systematisierter, nicht-konsistenter, spontaner Konzeptbildungen; intermediär unter Anwendung und elaboriert unter Reflexion der konventionellen Konzepte), ist dies auch für das reflexive Historische Denken und Geschichtsbewusstsein möglich.

Inwiefern diese Erweiterung des Konzepts von Geschichtsbewusstsein und historischem Denken selbst bereits ein neues Sinnbildungsmuster etabliert, ist eine kurze Erwägung wert.((Ich danke Daniel Fastlabend-Vargas für das Aufwerfen und ein erstes Diskutieren dieser Frage)) Es erscheint zunächst attraktiv, es als ein solches neues Sinnbildungsmuster auszuweisen. „Reflexivität“ wäre dann nicht so sehr Aufgabe jeglichen historischen Erzählens, sondern dieses besonderen Typs. Das aber erscheint wenig sinnvoll. Auch die Aufgabe reflexiven Erzählens kann formal mittels der bisherigen Sinnbildungsmuster erfolgen — etwa traditional: „Unsere Nachkommen werden in unserem Handeln den Ursprung von XXX“ (vermutlich: ihres Unglücks hinsichtlich des Klimas) „erblicken“; exemplarisch: „Wie künftige Generationen unser Handeln einschätzen werden, hängt wie immer davon ab, wie sie gesellschaftlich organisiert sind“; oder genetisch: „Was immer wir heute tun – es wird weitere Entwicklungen in dieser Richtung anstoßen, die wir aber nicht absehen können“), In diesem Sinne konstituiert die Anforderung der Reflexivität nicht einen neuen Sinnbildungstyp, sondern eine besondere Anforderung an historische Erzählungen. Mit mehr Recht als bei den Sinnbildungstypen könnte man überlegen, ob nicht ein weiteren Triftigkeitskriterium formuliert werden sollte, nämlich die Frage, inwiefern heutige Geschichtserzählungen künftige Generationen und Gesellschaften nicht nur als unmündige Erben der Konsequenzen unseres Handelns unterstellen, sondern sie als Akteure eigenen historischen Denkens berücksichtigen, dessen Sinnbildungsmaterial unter anderem aus unserem Tun und Lassen besteht.

Diese Erweiterung der Zeitkomponente des Geschichtsbewusstseins und des Historischen Denkens um das Futur II besteht aber nicht nur darin, retrospektive Sinnbildungen kommender Generationen zu antizipieren. Sie müssen vielmehr — wie auch der Rückblick in die Vergangenheit — zur Verarbeitung der zeitlichen Kontingenz genutzt werden:

  • In Anwendung des Muster traditionaler Sinnbildung werden so nicht nur die Gegenwart und die Zukunft als eine Zeit gedacht werden, in der in einer Vergangenheit aufgekommene Zustände (sei es durch Erfindung, Entwicklung, Gewinnung eines neuen Zustandes oder auch durch Verlust eines früheren) weiter gelten, sondern letztere auch als eine Zeit, die unter den Bedigungen der Geltung dieser seither still gestellten Zeitlichkeit ihrerseits in ihre vergangenheit und damit auch auf unsere Gegenwart schaut. Narrativ traditionale Ausprägungen dieses um das Futur II ergänzte des Geschichtsbewusstseins bewirken also eine Verstärkung der im klassischen Geschichtsbewusstseins-Konzept schon erzeugten Orientierung als Stabilität: Künftige Generationen können und werden einem solchen Denken zufolge uns wie unsere gemeinsame Vergangenheit nicht unter lediglich strukturell vergleichbaren, aber anderen (exemplarische Sinnbildung) oder gar konstitutiv weiter entwickelten Gesichtspunkten (genetische Sinnbildung) betrachten und beurteilen.
  • Exemplarische Sinnbildungsmuster hingegen entwickeln bei der Hinzunahme der Futur II-Perspektive Historischen Denkens eine an Orientierungskraft. In Anwendung aus der Betrachtung (möglichst vieler) vergangener Fälle und der Entwicklung einer Vorstellung von die jeweils konkreten Unterschiede derselben gemeinsam unterfütternden Regelhaftigkeiten, müsste sie unser historisches Denken dahingehend informieren, dass künftige Generationen unsere Zeiten anders betrachten werden als wir selbst es würden, nämlich in derselben Weise, wie wir Vergangenes unter der Orientierung auf Regelkompetenz nicht so sehr als konkrete Ursprünge unserer Lebenswelt, sondern vielmehr hinsichtlich der die zeiten überdauernden Reglen „dahinter“ untersuchen. Eine Schlussfolgerung daraus könnte lauten, dass kluge orientierung auf erkannte Mechanismen menschlich-gesellschaftlichen Zusammenlebens geeignet sei, auch den künftigen Urteilen über unser Tun Rechnung zu tragen.
  • Genetische Sinnbildung schließlich wird unterstellen müssen, dass künftige Generationen nicht unter willkürlich, aber doch deutlich anderen Gesichtspunkten auf die Vergangenheiten und damit auch auf uns schauen werden. Diese aber seien auch als Ergebnis unseres Handelns in diesem Strom gerichteter Veränderung zu verstehen. Will man vor der Zukunft bestehen, wird man die Entwicklungen aus der Vergangenheit in die Zukunft extrapolieren müssen, und zwar nicht nur als Option, sondern auch als Verpflichtung.

 

 

  1. Ebda. S. 50. []
  2. Ebda. S. 52 []
  3. Borries, Bodo von (1988): Geschichtslernen und Geschichtsbewusstsein. Empirische Erkundungen zu Erwerb und Gebrauch von Historie. 1. Aufl. Stuttgart: Klett, S. 61 mit dem Vorschlag einer „evolutionären“ Sinnbildung sowie ihrer Differenzierung nach innen und Erweiterung zunächst als „pluri-genetisch“ bei Körber, Andreas (2013): Historische Sinnbildungstypen. Weitere Differenzierung. Online verfügbar unter http://www.pedocs.de/volltexte/2013/7264/. Sie sind schon dadurch problematisch, dass eine einfache Verlängerung derselben ihrerseits im Muster einer genetischen (gerichteten) Veränderung verbleiben, damit aber nicht der Anforderung gerecht werden, einen nächsten Sinnbildungsmodus nach dessen Kritik skizzieren zu können. Der von Jakob Krameritsch vorgeschlagene fünfte Sinnbildungstyp des „situierten“ oder „situativen Erzählens“ in der „flüchtigen Moderne“ überzeugt eher nicht, insofern er den Zusammenhang zwischen den Zeiten eher aufhebt, deren je spezifische Konstruktion jedoch gerade das proprium von Sinnbildungsmustern ausmacht. Vgl. Krameritsch, Jakob (2009): Die fünf Typen des historischen Erzählens – im Zeitalter digitaler Medien. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 8 (3), S. 413–432. Online verfügbar unter http://www.zeithistorische-forschungen.de/file/3002/download?token=lGGU9jqH. []