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Geschichtsdidaktische Perspektiven auf eine aktuelle Geschichtssorte. Fragen und Überlegungen aus Anlass eines Lehrerbildungsprojekts an der Universität Hamburg

Geschichts­be­zo­ge­ne digi­ta­le Spie­le in der Schu­le – inwie­fern ist das wirk­lich ein The­ma mit eige­nem Wert für Geschichts­di­dak­tik und Lehrer*innenbildung? — ein fol­low-up zu Nico Nol­dens jüngs­tem Bei­trag im Blog „gespielt“ des Arbeits­krei­ses Geschichts­wis­sen­schaft und digi­ta­le Spie­le (Nol­den 2018b).

In der Wis­sen­schaft wie in der Öffent­lich­keit erfah­ren geschichts­be­zo­ge­ne Com­pu­ter­spie­le in den letz­ten Jah­ren eine erhöh­te Wahr­neh­mung und Auf­merk­sam­keit. Grund­la­ge ist ihr hoher Anteil sowohl an der gegen­wär­ti­gen Pro­duk­ti­on von Geschichts­me­di­en als auch an der Medi­en­nut­zung heu­ti­ger Jugendlicher.

Als eine Begrün­dung für eine Nut­zung sol­cher Spie­le im Unter­richt reicht vie­len Lehrer*innen und Lehr­amts­stu­die­ren­den die Fas­zi­na­ti­on für Ver­gan­gen­heit und Geschich­te, die sol­che Spie­le offen­kun­dig nicht nur bedie­nen, son­dern auch aktua­li­sie­ren oder über­haupt erst her­vor­ru­fen, aber offen­kun­dig (und zu Recht) nicht aus. Dar­auf deu­ten jeden­falls auch die Rück­mel­dun­gen hin, die wir (die Arbeits­be­rei­che Public Histo­ry und Geschichts­di­dak­tik an der Uni­ver­si­tät Ham­burg) von Schu­len und Kolleg*innen in Ham­burg und im Umland auf Anfra­gen zur Betei­li­gung an unse­rem Lehr- und Ent­wick­lungs­pro­jekt „His­to­Ga­mes“ erhal­ten haben, in dem wir fach­wis­sen­schaft­li­che und fach­di­dak­ti­sche Per­spek­ti­ven auf his­to­ri­sche Digi­ta­le Spie­le nicht nur theo­re­tisch, son­dern auch per­so­nell zusam­men­brin­gen, inso­fern einer­seits Leh­ren­de der Public Histo­ry (Nico Nol­den) und der Fach­di­dak­tik (Alex­an­der Buck und Dani­el Gie­re) die Ver­an­stal­tun­gen gemein­sam lei­ten, ande­rer­seits Lehr­amts- und Fach­wis­sen­schafts-Stu­die­ren­de gemein­sam unter Ein­brin­gung ihrer jewei­li­gen Per­spek­ti­ven gemein­sa­men Spie­le ana­ly­sie­ren, Unter­richts­kon­zep­te dazu ent­wi­ckeln und ihre Nut­zung sowie die dabei zu beob­ach­ten­den Pro­zes­se his­to­ri­schen Den­kens und Ler­nens erforschen.

Hin­ter­grund einer der­art kom­ple­xen The­ma­ti­sie­rung des Phä­no­mens „digi­ta­le his­to­ri­sche Spie­le“ sind eine Rei­he unter­ein­an­der durch­aus in Span­nung ste­hen­de – Pro­blem- und Fra­ge­stel­lun­gen; dar­un­ter: inwie­fern die Nut­zung sol­cher Spie­le im Geschichtsunterricht …

  • geeig­net ist, mit aktu­el­len inter­ak­ti­ven Medi­en sozia­li­sier­te und von ihnen fas­zi­nier­te Jugend­li­che für eine Beschäf­ti­gung mit Geschich­te zu begeis­tern, wie sie etwa im Bericht von Ele­na Schulz in Game­Star auf­scheint (Schulz 2018), oder aber
  • auf eine Kapi­tu­la­ti­on des Geschichts­un­ter­richts vor Geschichts­bil­dern und ‑inter­pre­ta­tio­nen hin­aus, die pro­du­ziert wur­den von den Nutzer*innen unbe­kannt blei­ben­den, wis­sen­schaft­lich nicht aus­ge­wie­se­nen Autor*innen mit kaum zu durch­schau­en­der Kom­bi­na­ti­on wirt­schaft­li­cher und poli­ti­scher Inter­es­sen (vgl. etwa die Debat­te um die poli­ti­sche Posi­tio­nie­rung der Autoren von „Wol­fen­stein II“; vgl. auch all­ge­mei­ner Mey­er o.J.); bzw.
  • inwie­fern ein spe­zi­el­ler Ein­satz sol­cher Spie­le über­haupt nötig ist, weil schon ein kon­ven­tio­nel­ler, umfas­sen­der auf Kennt­nis­se aus­ge­rich­te­ter Geschichts­un­ter­richt eine zuver­läs­si­ge Basis bzw. Folie gesi­cher­ter Infor­ma­tio­nen und Deu­tun­gen dafür bereit­stellt, dass jugend­li­che Nutzer*innen das ihnen dar­in Begeg­nen­de ein­ord­nen kön­nen, bzw.
  • all­ge­mei­ne, für ande­re Medi­en (u.a. Bil­der, Vide­os, Muse­en, Aus­stel­lun­gen, Web­sei­ten usw.) ent­wi­ckel­te Kon­zep­te, Kom­pe­ten­zen und Fähig­kei­ten aus­rei­chen, um auch die in sol­chen Spie­len ent­hal­te­nen Geschich­ten für Jugend­li­che wirk­sam im Unter­richt zu de-konstruieren.

Hin­zu kommt die Fra­ge, inwie­fern die beim Umgang mit sol­chen Spie­len ablau­fen­den kogni­ti­ven und emo­tio­na­len Pro­zes­se sowie die dazu­ge­hö­ri­gen Fähig­kei­ten, Fer­tig­kei­ten und Bereit­schaf­ten über­haupt wesent­lich als his­to­risch auf­ge­fasst wer­den und damit einer dis­zi­plin­spe­zi­fi­schen Ana­ly­se und För­de­rung unter­zo­gen wer­den kön­nen. Wer­den sie nicht zumin­dest wei­test­ge­hend über­la­gert von nicht-his­to­ri­schen Facet­ten einer Fas­zi­na­ti­on durch Tech­nik, Inter­ak­ti­vi­tät und Agen­cy – gewis­ser­ma­ßen medi­al, nicht his­to­risch bestimm­ter Macht- (und ggf. auch Leidens-)Phantasien?

Inwie­fern und mit wel­chen Fra­ge­stel­lun­gen und Zie­len soll­te also Geschichts­di­dak­tik sich mit sol­chen Spie­len befas­sen und Geschichts­un­ter­richt sie nutzen?

Unter den Stu­die­ren­den, die sich über­aus reich­lich für die­ses the­ma­tisch und struk­tu­rell inno­va­ti­ve Lehr­ex­pe­ri­ment anmel­de­ten (so das gar nicht alle zuge­las­sen wer­den konn­ten), zeig­ten sich gleich zu Beginn durch­aus unter­schied­li­che Per­spek­ti­ven und Zugän­ge zum Gegen­stand: Wäh­rend für eini­ge Stu­die­ren­de das Feld der digi­ta­len his­to­ri­schen Spie­le selbst noch eher neu ist und sie Erkun­dung, Ana­ly­se und Didak­ti­sie­rung mit­ein­an­der ver­schrän­ken (müs­sen), sind auch eini­ge dar­un­ter, die einer­seits als „Zocker“ (so eine Selbst­be­zeich­nung) mehr als aus­rei­chen­de Kennt­nis­se ein­zel­ner (nicht nur his­to­ri­scher) Spie­le und Exper­ti­se in ihrer Bewäl­ti­gung („in GTA5 ken­ne ich jede Stra­ße“) besit­zen, eben­so aber von abwer­ten­den Kom­men­ta­ren über ihr Hob­by in Schu­le berichten.

Die­ses Span­nungs­feld zwi­schen hoher und gerin­ger Erfah­rung, aber auch unter­schied­li­che ers­te Vor­stel­lun­gen wie denn sol­che Spie­le zum Gegen­stand his­to­ri­scher, geschichts­kul­tu­rel­ler und fach­di­dak­ti­scher For­schung, Erkun­dung und Ent­wick­lung wer­den kön­nen, machen einen wesent­li­chen Reiz des Lehr­pro­jekts aus, geht es doch – gera­de auch ange­sichts der rasan­ten Tak­tung neu­er tech­ni­scher und media­ler Mög­lich­kei­ten und neu­er Ent­wick­lun­gen ein­zel­ner Spie­le – nicht dar­um, eine gewis­ser­ma­ßen über vie­le Jah­re hin­weg erar­bei­te­te und gesät­tigt vor­lie­gen­de Theo­rie und Metho­dik ein­fach den Stu­die­ren­den zu ver­mit­teln, son­dern viel­mehr anhand einer Aus­wahl mehr oder weni­ger aktu­el­ler Spie­le gemein­sam Kate­go­rien und Kri­te­ri­en für eine Ana­ly­se (bzw. De-Kon­struk­ti­on) zu ent­wi­ckeln (wobei auf umfang­rei­che Vor­ar­bei­ten von Nico Nol­den in sei­ner Dis­ser­ta­ti­on zurück­ge­grif­fen wer­den kann; vgl. Nol­den 2018a; vgl. auch Nol­den 2018b) und die­se Ergeb­nis­se und eige­nen Ein­sich­ten zu nut­zen für die Ent­wick­lung didak­ti­scher Kon­zep­te, wel­che die Befä­hi­gung von jugend­li­chen Ler­nen­den zur reflek­tier­ten und refle­xi­ven Aus­ein­an­der­set­zung mit sol­chen Spie­len und ihrer Bedeu­tung für das eige­ne Ver­ständ­nis von Geschich­te zum Ziel haben. Neben den von Dani­el Gie­re im letz­ten Teil des ers­ten Semi­nars ein­zu­brin­gen­den didak­ti­schen Ansät­zen lie­gen hier­für mit den Kon­zep­ten des reflek­tier­ten und selbst-refle­xi­ven Geschichts­be­wusst­seins sowie der Kom­pe­ten­zen His­to­ri­schen Den­kens der FUER-Grup­pe (Kör­ber et al. 2007) Grund­la­gen vor. Ob und wie die­se jeweils für kon­kre­te, auf ein­zel­ne Spie­le und kon­kre­te Lern­grup­pen aus­ge­rich­te­te Unter­richts­kon­zep­te und wie­der­um für all­ge­mei­ne didak­ti­sche Hand­rei­chun­gen genutzt wer­den kön­nen oder aber ggf. adap­tiert und ggf. ergänzt wer­den müs­sen, wird Gegen­stand der Arbeit im zwei­ten Pro­jekt­se­mes­ter sein.

Auch hier kön­nen (und sol­len) die Prak­ti­kums-Tan­dems aus Lehr­amts­stu­die­ren­den einer­seits und die Tan­dems aus Fach­wis­sen­schafts-Stu­die­ren­den sich ergän­zen, etwa indem letz­te­re – ggf. auf der Basis von Beob­ach­tun­gen, Ein­zel- und Grup­pen­in­ter­views mit jugend­li­chen Spieler*innen, Lehr­per­so­nen, aber auch ggf. ande­ren Betei­lig­ten (Autor*innen, Kritiker*innen etc.) – wei­te­re Ana­ly­sen der media­len und per­for­ma­ti­ven Kon­struk­ti­on von Sinn erar­bei­ten, die wie­der­um in didak­ti­sche Hand­rei­chun­gen ein­ge­hen können.

Was interessiert(e) unsere Studierenden zu Beginn des Projekts?

Die in gemisch­ten Tan­dems (aber getrennt nach inter­es­sie­ren­den Spie­len) auf­grund ers­ter eige­ner Explo­ra­ti­on ent­wi­ckel­ten ers­ten Zugrif­fe, Fra­ge- und Pro­blem­stel­lun­gen las­sen vor­nehm­lich zwei Aspek­te erken­nen: (1) Die Fra­ge nach der „Authen­ti­zi­tät“ digi­ta­ler Spie­le und (2) die Ent­wick­lung kon­kre­ten Unter­richts­han­delns u.a. mit der Idee Per­spek­ti­vi­tät als Ana­ly­se­di­men­si­on zu erpro­ben. Mögen die­se Zugrif­fe und Pro­blem­di­men­sio­nen auch zunächst noch sehr unter­schied­lich wir­ken und als eher getrennt von­ein­an­der zu bear­bei­ten erschei­nen, so lässt sich doch erwar­ten, dass sie sich in wohl kur­zer Zeit als eng auf­ein­an­der ver­wie­sen und mit­ein­an­der ver­floch­ten erwei­sen werden.

Im Fol­gen­den sol­len eini­ge mit dem his­to­ri­schen Den­ken und Ler­nen zusam­men­hän­gen­de Pro­blem­fel­der (digi­ta­len) his­to­ri­schen Spie­lens beleuch­tet wer­den, die für deren Ana­ly­se und unter­richt­li­che The­ma­ti­sie­rung rele­vant wer­den kön­nen, die aber durch wei­te­re, im Pro­jekt von den Stu­die­ren­den zu ent­wi­ckeln­de oder aber empi­risch her­aus­zu­ar­bei­ten­de Aspek­te ergänzt und modi­fi­ziert wer­den kön­nen (und müs­sen). Denn auch dar­um wird es in unse­rem Lehr­pro­jekt gehen, dass nicht ein­fach vor­han­de­ne Ein­sich­ten und Kon­zep­te „umge­setzt“ wer­den, son­dern dass Geschichts­stu­die­ren­de mit und ohne das Stu­di­en­ziel Lehr­amt gemein­sam die­sen Kom­plex media­len Bezugs auf die Ver­gan­gen­heit gemein­sa­men explo­ra­tiv erforschen.

Zu 1: Authentizität versus Plausibilität

Nicht ver­wun­der­lich war, dass die Fra­ge der „Authen­ti­zi­tät“ der Spie­le einen rela­tiv gro­ßen Stel­len­wert ein­nahm. In wel­chem Ver­hält­nis dabei ein Ver­ständ­nis von „Authen­ti­zi­tät“ im Sin­ne einer „kor­rek­ten Abbil­dung“ der wirk­li­chen Ver­gan­gen­heit zu wei­te­ren denk­ba­ren Aspek­ten und Dimen­sio­nen bzw. gar Ver­ständ­nis­sen von „Authen­ti­zi­tät“ steht, wird im wei­te­ren zu the­ma­ti­sie­ren und zu dis­ku­tie­ren sein. Schon bei klas­si­schen Medi­en der His­to­rie ist die Vor­stel­lung einer mehr oder weni­ger gelin­gen­den „Abbil­dung“ oder Reprä­sen­ta­ti­on der ver­gan­ge­nen Rea­li­tät pro­ble­ma­tisch, inso­fern sie die spe­zi­fi­sche, durch zeit­li­che, sozia­le, kul­tu­rel­le, poli­ti­sche und wei­te­re Posi­tio­na­li­tä­ten, aber auch Inter­es­sen, Fra­ge­hal­tun­gen und schließ­lich per­sön­li­che Vor­lie­ben, der jewei­li­gen Autor*innen gepräg­te Per­spek­ti­vi­tät und die Bin­dung jeder Dar­stel­lung an den (wie auch immer reflek­tier­ten) Ver­ste­hens­ho­ri­zont der Erzähl­zeit ver­kennt. Neben die Plau­si­bi­li­tät des Erfah­rungs­ge­halts („empi­ri­sche Trif­tig­keit“) müs­sen als Kri­te­ri­en der Qua­li­tät his­to­ri­scher Dar­stel­lun­gen und Aus­sa­gen somit schon immer die­je­ni­gen der nor­ma­ti­ven Trif­tig­keit (also der Relevanz‑, Wer­te- und Nor­men­ho­ri­zon­te) und der nar­ra­ti­ven Triftigkeit(en) sowie ggf. der Plau­si­bi­li­tät der dar­in ange­hen­den Kon­zep­te und Theo­rien („theo­re­ti­sche Plau­si­bi­li­tät“ nach Rüsen 2013) tre­ten, die alle­samt nicht ein­fach in einem binä­ren (gege­ben-nicht gege­ben) Modus oder als ein­fa­che Aus­prä­gungs­ska­la zu den­ken sind, son­dern über die Gra­de der inter­sub­jek­tiv nach­voll­zieh­ba­ren Begrün­dung und somit den Grad des expli­zi­ten Ein­be­zugs mög­li­cher Ein­wän­de gegen die empi­ri­sche Grund­la­ge, die Per­spek­ti­ven und Wer­te sowie die Kon­struk­ti­on der Erzäh­lung ope­ra­tio­na­li­siert wer­den müssen.

Rezipient(en) als Ko-Konstrukteur(e) historischer Narrationen

All dies gilt auch für ande­re inter­ak­ti­ve und per­for­ma­ti­ve For­men der „Ver­ge­gen­wär­ti­gung“ von Geschich­te. Hin­zu kommt für digi­ta­le Spie­le jedoch die deut­lich grö­ße­re „Rol­le“ der Rezi­pi­en­ten für die Ent­ste­hung einer his­to­ri­schen Nar­ra­ti­on. Selbst bei den klas­si­schen Medi­en (Buch, Film) ist nicht davon aus­zu­ge­hen, dass eine „im Mate­ri­al ange­leg­te“ Nar­ra­ti­on 1:1 von jeder/​m Rezi­pi­en­ten iden­tisch „wahr­ge­nom­men“ wird, son­dern viel­mehr, dass die Rezep­ti­on selbst ein akti­ver Vor­gang ist, der wesent­li­chen Anteil an der Kon­struk­ti­on einer his­to­ri­schen Sinn­bil­dung ist.

Selbst klas­si­sche per­for­ma­ti­ve Medi­en wie etwa ein (Geschichts-)Theater oder Vor­trag, die nach dem Moment der Wahr­neh­mung nicht mehr in der­sel­ben Form vor­lie­gen (also „flüch­tig“ sind), haben zumeist eine weit­ge­hend fest­ge­leg­te, für alle Rezi­pi­en­ten gemein­sam gül­ti­ge Form. Dies ist bei inter­ak­ti­ven Medi­en wie Spie­len anders. Hier haben die Spie­len­den selbst einen erheb­li­chen Ein­fluss auf die kon­kre­te Form des ihnen ent­ge­gen­tre­ten­den nar­ra­ti­ven Ange­bots, das sie nicht nur im Wege der Rezep­ti­on, son­dern eben­so der Inter­ak­ti­on zu ihrer eige­nen Sinn­bil­dung „ver­ar­bei­ten“ müs­sen. Wäh­rend es bei den klas­si­schen Geschichts­me­di­en nicht-flüch­ti­ger wie auch (auf der Basis ver­schrift­lich­ter Vor­la­gen oder auch nach­träg­li­cher Doku­men­ta­ti­on) weit­ge­hend mög­lich ist, die „Angebots“-Seite (d.h. die Dar­stel­lung) als sol­che zu ana­ly­sie­ren („de-kon­stru­ie­ren“) auf ihren Erfah­rungs­ge­halt, die in (an?) ihnen erkenn­ba­ren Kon­zep­te, Rele­vanz­aus­sa­gen, Wer­te und Nor­men sowie Erklä­rungs­mus­ter der Autor*innen, erlau­ben inter­ak­ti­ve Spie­le zumin­dest ideell eine unend­li­che und im Vor­hin­ein kaum bestimm­ba­re Varia­ti­on an Ver­läu­fen und damit Nar­ra­tio­nen. Jeg­li­che Ana­ly­sen (De-Kon­struk­tio­nen) müs­sen somit min­des­tens zwei Ebe­nen tren­nen, näm­lich (1) die „von außen“ nicht kon­kret erkenn­ba­re Tie­fen­di­men­si­on der in die Spiel­re­geln bzw. Algo­rith­men auf der Basis von „Ver­gan­gen­heits­par­ti­keln“, Nor­men und nar­ra­ti­ven Kon­zep­ten ein­pro­gram­mier­ten Ent­schei­dungs- und Vari­anz­stel­len und der dadurch mög­li­chen poten­ti­el­len Nar­ra­ti­ve, sowie die in der Inter­ak­ti­on mit den (ggf. meh­re­ren!) Spie­len­den ent­ste­hen­den aktua­li­sier­ten Narrative.

Letz­te­re ent­ste­hen ggf. auch bei völ­lig zufäl­li­gem, kei­nem kon­kre­ten Mus­ter oder einer Stra­te­gie fol­gen­den Agie­ren der Spie­len­den, wer­den aber zumeist mit – nicht aber allein – bestimmt sein durch ihre eige­nen Per­spek­ti­ven, ihre Hori­zon­te an Wert‑, Norm- und Zusam­men­hangs­über­zeu­gun­gen und ihrer Geschichts­bil­der (wie auch immer bewusst sie sind). Sie sind somit abhän­gig von Aus­prä­gun­gen des Geschichts­be­wusst­seins sowie Pro­zes­sen des his­to­ri­schen Den­kens und beein­flus­sen ihrer­seits bei­de (vgl. Kör­ber 2018).

Didaktische Relevanz digitaler Spiele

Damit sind his­to­ri­sche Spie­le als per­for­ma­tiv-inter­ak­ti­ve Geschichts­sor­ten hoch­gra­dig didak­tisch rele­vant. Nicht nur inso­fern die von ihnen in Form ein­pro­gram­mier­ter poten­ti­el­ler Nar­ra­ti­ve ange­bo­te­nen 1 Aus­prä­gun­gen von Geschichts­be­wusst­sein, kon­kre­te Geschichts­bil­der und Kennt­nis­se sowohl bestä­ti­gen und ggf. dif­fe­ren­zie­ren und erwei­tern kön­nen, son­dern auch ihnen wider­spre­chen, sie her­aus­for­dern und kon­ter­ka­rie­ren, bedür­fen sowohl die Rezep­ti­on (oder bes­ser: Nut­zung) als auch die Kom­mu­ni­ka­ti­on über Spiel­erfah­run­gen und Her­aus­for­de­run­gen selbst his­to­ri­scher Kennt­nis­se, kate­go­ria­len Wis­sens und der Fähig­keit zur De und Re-Kon­struk­ti­on, son­dern gera­de auch, inso­fern der inter­ak­ti­ve per­for­ma­ti­ve Pro­zess jeweils neue Nar­ra­ti­ve und Bil­der in einer sonst kaum erfahr­ba­ren Geschlos­sen­heit und Dyna­mik pro­du­ziert. Wo klas­si­sche Medi­en der Geschich­te ent­we­der per wie­der­hol­ter Rezep­ti­on ent­we­der des Ori­gi­nals (erneu­te Lek­tü­re) oder aber einer Doku­men­ta­ti­on in eini­ger Tie­fe und Genau­ig­keit ana­ly­siert und de-kon­stru­iert wer­den kön­nen, bevor man sich zu ihnen ver­hal­ten muss, erzeugt die Inter­ak­ti­vi­tät des Spie­lens die Not­wen­dig­keit von Ana­ly­sen der jeweils emer­gen­ten Situa­tio­nen in actu – ein­schließ­lich ihrer Ein­bet­tung in das emer­gen­te Nar­ra­tiv und in das Geschichts­bild und ‑ver­ständ­nis der/​des Spie­len­den. Die eige­ne Akti­vi­tät selbst im Reagie­ren auf kon­kre­te Situa­tio­nen kann dabei ggf. zu einer Form der Beglau­bi­gung sowohl der wahr­ge­nom­me­nen Ein­zel­hei­ten und Situa­tio­nen als auch der tie­fer­lie­gen­den Logi­ken des Han­delns werden.

Ana­ly­sen his­to­ri­scher Spie­len, die nicht nur die Prä­sen­ta­ti­ons- (bzw. Angebots-)Seite in den Blick neh­men, son­dern die bei den Spie­len­den wirk­sam wer­den­den Pro­zes­se des his­to­ri­schen Den­kens (eben­so) berück­sich­ti­gen wol­len, müs­sen somit über die Ana­ly­se ein­zel­ner kon­kre­ter aktua­li­sier­ter Nar­ra­ti­ve hin­aus die dar­un­ter lie­gen­den, in der Anla­ge des Spiels, dem Regel­werk bzw. der Pro­gram­mie­rung und den in sie ein­ge­gan­ge­nen Kon­zep­ten, Hand­lungs­mög­lich­kei­ten etc. erkenn­ba­ren poten­ti­el­len Nar­ra­tio­nen eben­so in den Blick neh­men wie die in der Inter­ak­ti­on mit den Spiel­hand­lun­gen emer­gen­ten Pro­zes­se his­to­ri­schen Den­kens der Spie­len­den. Zu ana­ly­sie­ren sind somit nicht nur mate­ria­le Erzäh­lun­gen media­ler Art, son­dern wesent­lich auch per­for­ma­ti­ve Pro­zes­se des his­to­ri­schen Denkens.
Hier­aus lässt sich fra­gen, inwie­fern die Nut­zung von inter­ak­ti­ven his­to­ri­schen Spie­len gleich­zei­tig Chan­cen für his­to­ri­sches Ler­nen bie­tet (und in wel­cher Form), und inwie­fern es auf bestimm­te (ggf. gegen­über her­kömm­li­chen Kon­zep­ten ver­än­der­te) Aus­prä­gun­gen his­to­ri­scher Kom­pe­ten­zen ange­wie­sen ist (und wie bei­de mit­ein­an­der interagieren).

Zu 2: Wie kann nun Schule und schulischer Geschichtsunterricht dazu beitragen?

Auch wenn digi­ta­le his­to­ri­sche Spie­le ein noch recht jun­ges Unter­su­chungs­feld der Geschichts­di­dak­tik dar­stel­len (früh: Grosch 2002; Ben­der 2012; Küh­ber­ger 2013), gibt es bereits eine Rei­he von Unter­richts­kon­zep­ten (z.B. Gie­re 2018). Auch in den Grup­pen unse­res Semi­nars wur­den in einem ers­ten Schritt unter­richtsprag­ma­ti­sche Ansät­ze thematisiert.

Dass mit dem Spie­len fik­tio­na­ler Spie­le direkt vali­des Wis­sen über ver­gan­ge­ne Rea­li­tät gewon­nen wer­den kann, mag vie­len mit Kon­zep­ten des his­to­ri­schen Ler­nens Ver­trau­ten eini­ger­ma­ßen naiv erschei­nen. Den­noch ist die Vor­stel­lung kei­nes­wegs aus der Welt, wie – sowohl zu Wer­be­zwe­cken behaup­tet, aber auch in Schil­de­run­gen von Spiel­erfah­run­gen zu fin­den – das Bei­spiel der Explo­rer-Funk­ti­on der neue­ren Ver­sio­nen von Ass­as­sins Creed zeigt. Außer­halb krie­ge­ri­scher Spiel­hand­lun­gen ermög­li­che das Spiel sei­nen Nut­zern, die ver­gan­ge­ne Welt (kon­kret: Ägyp­tens) zu erkun­den und zu erfah­ren, wie es damals war. 2

Die frü­hen Unter­richts­vor­stel­lun­gen unse­rer Stu­die­ren­den gehen deut­lich ande­re Wege. Im Vor­der­grund steht die Vor­stel­lung einer eher kon­tras­ti­ven Posi­tio­nie­rung von Spiel­erfah­rung und „Real­ge­schich­te“, sei es im Sin­ne der Ein­wick­lung von Fra­ge­stel­lun­gen zur spiel­ex­ter­nen Geschich­te auf­grund spiel­in­ter­ner Erfah­run­gen oder durch expli­zi­te Ver­glei­che – etwa durch Kon­tras­tie­rung mit wie­der­um spiel­ex­ter­nen Quel­len und Darstellungen.

In den Grob­kon­zep­ten der Grup­pen tauch­ten immer wie­der vie­le kon­kret unter­richtsprag­ma­ti­sche Vor­schlä­ge zum Umgang mit digi­ta­len Spie­len auf. Genannt wur­den die gemein­sa­me Ent­wick­lung von Fra­ge­stel­lun­gen, die Kon­tras­tie­rung von Spiel­sze­nen mit his­to­ri­schen Fotos und/​oder Quel­len. Dar­an schließt sich die Fra­ge der Ziel­per­spek­ti­ve von Geschichts­un­ter­richt an. Wel­che Funk­ti­on haben all die­se Vor­schlä­ge für his­to­ri­sches Ler­nen und was ver­ste­hen wir über­haupt darunter?

Dis­ku­tiert wur­de in die­sem Zusam­men­hang die Rol­le von Wis­sens­er­werb über „die“ Ver­gan­gen­heit durch digi­ta­le Spie­le. Über­dies wur­den die Teilnehmer*innen kon­fron­tiert mit der Vor­stel­lung eines Auf­baus von Kom­pe­ten­zen his­to­ri­schen Den­kens mit dem Ziel der Ent­wick­lung und Erwei­te­rung eines refle­xi­ven und (selbst)reflexiven Geschichts­be­wusst­seins (Schrei­ber 2002; Kör­ber et al. 2007). Für digi­ta­le Spie­le wur­de die Fra­ge dis­ku­tiert, inwie­fern die dicho­to­mi­sche Vor­stel­lung einer „Zwei-Wel­ten-Leh­re“ zur wei­te­ren Erfor­schung sinn­voll sein könn­te (dazu Kör­ber 2018).

Die spiel­erfah­re­nen Teilnehmer*innen konn­ten hier wert­vol­le Impul­se lie­fern. So berich­te­te eine Stu­den­tin von spiel­in­ter­nen Kon­tin­genz­si­tua­tio­nen. Inwie­fern die­se durch his­to­ri­sches Den­ken inner­halb des Spiels bewäl­tigt wer­den kön­nen, wäre bei­spiels­wei­se ein For­schungs­pro­jekt. Ob spiel-exter­nes Wis­sen – hier: zu den euro­päi­schen Bünd­nis­sys­te­men – inner­halb von digi­ta­len Spie­len erfolg­reich genutzt wer­den kann, wur­de eben­falls dis­ku­tiert. Ein ande­rer stu­den­ti­scher Bei­trag stell­te eige­ne spie­le­ri­sche Zeit­er­fah­run­gen in den Mit­tel­punkt: In einem Stra­te­gie­spiel war ein (selbst auf­ge­bau­tes) mäch­ti­ges Reich plötz­lich unter­ge­gan­gen. Der Spie­ler hat­te jetzt die Idee, in der Zeit – das war durch die Spiel­me­cha­nik erlaubt – zurück zu rei­sen, um die Ursa­chen für die­sen Nie­der­gang zu ergrün­den und mög­li­cher­wei­se die Spiel­ver­gan­gen­heit ent­spre­chend zu mani­pu­lie­ren. Für die Umset­zung im Geschichts­un­ter­richt ver­trat eine grö­ße­re Grup­pe die Ansicht, es müs­se auf­grund unse­rer Dis­kus­si­on nach Mög­lich­kei­ten gesucht wer­den, Spielerfahrung(en) selbst zum Refle­xi­ons­ge­gen­stand zu machen. Viel­leicht müs­sen dazu Metho­den der empi­ri­schen Sozi­al­for­schung (z.B. nach­träg­li­ches lau­tes Den­ken) zumin­dest in einer prag­ma­ti­schen Form Ein­zug in den Geschichts­un­ter­richt erhalten.

Multiperspektivität

Als Qua­li­täts­kri­te­ri­um und zur Ein­schät­zung der Eig­nung eines digi­ta­len Spiels für den Geschichts­un­ter­richt bie­tet sich – zumin­dest auf den ers­ten Blick – die Berück­sich­ti­gung unter­schied­li­cher Per­spek­ti­ven im ver­gan­ge­nen Gesche­hen an. Dies war auch von unse­ren Stu­die­ren­den früh for­mu­liert wor­den. Indem inter­ak­ti­ve Spie­le es ermög­li­chen, Rol­len zu wech­seln, wer­de die Mono-(retro-)Perspektivität des tra­di­tio­nel­len Mas­ter-Nar­ra­tivs und vie­ler klas­si­scher Tex­te durch­bro­chen. Wenn (und inso­fern) Spie­le es dabei nicht nur erlau­ben, unter­schied­li­che, aber letzt­lich kaum unter­schie­de­ne Indi­vi­du­en zu ver­kör­pern, son­dern in sozi­al, poli­tisch, kul­tu­rell oder auch geschlecht­lich unter­schied­li­che Rol­len zu schlüp­fen, wäre damit zumin­dest in fik­tio­na­ler, hypo­the­ti­scher Aus­prä­gung eine wesent­li­che For­de­rung geschichts­di­dak­ti­scher Prä­sen­ta­ti­on und /​oder Insze­nie­rung erfüllt. So kön­nen zumin­dest poten­ti­ell unter­schied­li­che zeit­ty­pi­sche Wahr­neh­mun­gen und Inter­es­sen in Bezug auf ein glei­ches (gespiel­tes) Ereig­nis simu­liert und über ihre Unter­schied­lich­keit dis­ku­tiert wer­den. Wenn die­se unter­schied­li­chen Rol­len und Per­spek­ti­ven mit­tels per­spek­ti­vi­scher Quel­len­tex­te (bzw. auf ihnen basie­ren­der Deri­va­te) cha­rak­te­ri­siert wer­den, ist Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät im enge­ren Sin­ne, zumin­dest ansatz­wei­se gege­ben. Wo dies auf­grund man­geln­der Quel­len­ver­füg­bar­keit nicht der Fall ist, könn­te man ver­sucht sein, die auf Klaus Berg­mann zurück­ge­hen­de For­de­rung, auch die Per­spek­ti­ve der „stum­men Grup­pen“ der Ver­gan­gen­heit zu berück­sich­ti­gen, erfüllt zu sehen. 3

Inwie­fern die Kri­te­ri­en der Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät aber wirk­lich oder nur ver­meint­lich als erfüllt gel­ten kön­nen, bzw. – gera­de auch dem Nut­zer – ein fal­scher Ein­druck dies­be­züg­lich ver­mit­telt wird, bedarf jeweils der theo­re­ti­schen Refle­xi­on 4 wie einer genau­en Ana­ly­se der kon­kre­ten Spie­le. Hier­zu ist etwa zu analysieren,

  • inwie­fern die Cha­rak­te­ris­ti­ka der wähl- und wech­sel­ba­ren Rol­len mit sowohl trif­ti­gen als auch für die/​den Spieler*in erkenn­ba­ren his­to­ri­schen Infor­ma­tio­nen „belegt“ bzw. gestützt sind,
  • inwie­fern das Spiel nicht nur das Erfül­len einer Ver­hal­tens­vor­ga­be in einer pro­to­ty­pi­schen Situa­ti­on erfor­dert oder aber dazu bei­trägt, dass Struk­tu­ren und Abläu­fe his­to­ri­scher Situa­tio­nen aus einer rol­len-spe­zi­fi­schen Per­spek­ti­ve aus zu beur­tei­len sind,
  • und ande­re Aspek­te mehr.

Dar­auf auf­bau­end bedarf darf die Ein­schät­zung, inwie­fern etwa­ige Mög­lich­kei­ten einer Rol­len­über­nah­me bzw. die Prä­sen­ta­ti­on unter­schied­li­cher Figu­ren in Spie­len auch zur mul­ti­per­spek­ti­vi­schen Prä­sen­ta­ti­on von Ver­gan­gen­heit und zur unter­richt­li­chen Refle­xi­on geeig­net sind, wei­te­rer didak­ti­scher Über­le­gun­gen. Zu reflek­tie­ren ist jeweils all­ge­mein und auf ein kon­kre­tes Spiel bezogen,

  • (wie) (ein) Spiel(e) so ein­ge­setzt wer­den kann/​können, dass Schüler*innen nicht frag­los (immersiv) in eine Per­spek­ti­ve hin­ein­ge­stellt wer­den und in ihr ver­blei­ben, son­dern dass es ihnen mög­lich wird, den Kon­strukt­cha­rak­ter nicht nur der Geschich­te an sich, son­dern der Per­spek­ti­ve (= Posi­ti­on + Inter­es­sen, Hand­lungs­op­tio­nen) selbst zu erken­nen und zu reflektieren,
  • (wie) in einem unter­richt­li­chen Zusam­men­hang sicht­bar und dis­ku­tier­bar gemacht wer­den kann, ob bzw. inwie­fern Schüler*innen die­se retro­spek­ti­ve, auf einem Geschichts­bild basie­ren­de Aus­ge­stal­tung ihrer „Rol­le“ bewusst wird, und wie ihnen Ein­sich­ten dazu ermög­licht wer­den können,
  • wel­che Irri­ta­tio­nen und Ein­sich­ten sowie Fra­gen an das Medi­um „Spiel“ und sei­ne Bedeu­tung bei Schüler*innen ange­sto­ßen wer­den und wel­che Bedeu­tung deren Reak­tio­nen für a) die Theo­rie­bil­dung über und Eva­lua­ti­on von Spie­len als Geschichts­sor­te und b) die Ent­wick­lung schu­li­schen Geschichts­un­ter­richts als einer Instanz haben, die zu kri­ti­schem reflek­tier­tem Umgang mit der Geschichts­kul­tur befähigt.
Historische Spiele nur etwas für „Zocker-Schüler*innen“?

Unter­richts­kon­zep­te, die die­se Fra­gen zum Aus­gangs­punkt von Didak­ti­sie­rung und Ope­ra­tio­na­li­sie­rung machen, set­zen kei­nes­wegs vor­aus, dass Schüler*innen im Unter­richt (oder häus­lich zur Vor­be­rei­tung) exten­siv spie­len. Dies wird einer­seits auf­grund unter­schied­li­cher häus­li­cher und auch schu­li­scher Aus­stat­tung nicht immer mög­lich sein, in man­chen Fäl­len auch wegen Beden­ken von Eltern oder auf­grund nicht immer jugend­frei­en Cha­rak­ters der Spie­le. Zudem dürf­te die Kom­ple­xi­tät vie­ler Spie­le jeg­li­che Vor­stel­lung einer The­ma­ti­sie­rung in toto von vorn­her­ein aus­schlie­ßen. Es wird also schon aus prag­ma­ti­schen und orga­ni­sa­to­ri­schen Grün­den erfor­der­lich sein, aus­zu­wäh­len, zu fokus­sie­ren und ggf. auch Mate­ria­li­en über sol­che Spie­le bzw. sol­che, wel­che Spie­le und Spiel­ver­läu­fe doku­men­tie­ren, ein­zu­set­zen an Stel­le des gan­zen Spiels selbst. Dies ist aber auch aus didak­ti­schen Grün­den sinnvoll.

Unter­richt­li­che Nut­zung von Geschichts­sor­ten soll ja weder die­se Geschichts­sor­ten selbst unter­rich­ten noch sie als ein­fa­ches Medi­um zur Ver­mitt­lung von Fach­wis­sen ein­set­zen, son­dern sie selbst zum Gegen­stand machen. Das beinhal­tet über­dies, dass weder eine Affi­ni­tät zu sol­chen Spie­len Bedin­gung für die unter­richt­li­che Beschäf­ti­gung mit ihnen sein kann noch eine per­sön­li­che (oder häus­li­che) Distanz zu die­sen Medi­en ein Grund für eines Dis­pens dar­stellt. Digi­ta­le his­to­ri­sche Spie­le als Medi­en der heu­ti­gen Geschichts­kul­tur müs­sen eben­so im Unter­richt the­ma­ti­siert wer­den kön­nen wie bei­spiels­wei­se Denk­mä­ler, Muse­en und Filme.

Mögliche Umsetzung im Geschichtsunterricht

Eini­ge – zunächst noch theo­re­ti­sche – Mög­lich­kei­ten sei­en skizziert:

  • Zwei kon­tras­ti­ve Spiel­ver­läu­fe ver­gleich­ba­rer („glei­cher“) Sze­nen wer­den als (Video-)Protokoll vor­ge­legt und die ent­ste­hen­den unter­schied­li­chen Nar­ra­tio­nen ver­gli­chen sowie die Rol­le der jeweils getrof­fe­nen Ent­schei­dun­gen für die­se unter­schied­li­chen Dar­stel­lun­gen dis­ku­tiert und reflektiert.
  • Bei Spie­len, in deren Ver­lauf jeweils meh­re­re unter­schied­li­che Ent­schei­dun­gen zu tref­fen sind, spielt eine mit meh­re­ren Com­pu­tern aus­ge­stat­te­te Grup­pe an eine Rei­he sol­cher Ent­schei­dun­gen jeweils in Grup­pen unter­schied­lich durch und erzählt im Anschluss (nach meh­re­ren sol­cher Ent­schei­dun­gen) die unter­schied­li­chen Ver­läu­fe nach, so dass die Bedeu­tung der „agen­cy“ der Spiel­fi­gur für das ent­ste­hen­de Nar­ra­tiv sicht­bar wird.
  • Eige­ne und frem­de Spiel­erfah­run­gen von Schü­le­rin­nen und Schü­lern wer­den zum Gegen­stand der Refle­xi­on gemacht.
  • Schüler*innen kön­nen aus­ge­wähl­te Sze­nen ein­zel­ner Spie­le selbst spie­len und ihre eige­ne (in geeig­ne­ter Form gesi­cher­te) Erfah­rung sowie die dabei ent­stan­de­nen eige­nen Fra­gen anschlie­ßend mit zuvor erho­be­nen Pro­to­kol­len ande­rer Spieler*innen ver­glei­chend aus­wer­ten. Hier­zu eig­nen sich ggf. Pro­to­kol­le in actu oder nach­träg­lich statt­fin­den­den lau­ten Den­kens (sti­mu­la­ted recall; vgl. Mess­mer 2015, s. auch Lenz und Tals­nes 2014).
  • Wenn die Mög­lich­keit eige­nen Spie­lens mit Doku­men­ta­ti­on im Unter­richt nicht oder nur in gerin­gem Umfang gege­ben ist, kön­nen auch (ggf. nur kur­ze, ein „look and feel“ ver­mit­teln­den eige­nen Spie­lens oder der Vor­füh­rung eines aus­ge­wähl­ten Spiel­ver­laufs) mög­lichst unter­schied­li­che (visu­el­le und text­lich vor­lie­gen­de) Spiel­pro­to­kol­le ver­glei­chend aus­ge­wer­tet werden.

Bei all die­sen Metho­den wird es dar­auf ankom­men, dass nicht ein­fach Fra­gen des Gelingens/​des Spiel­erfolgs im Mit­tel­punkt ste­hen, son­dern die Wahr­neh­mun­gen der gestal­te­ten Spiel­si­tua­ti­on, der ggf. von der/​dem Spie­len­den ver­lang­ten Ent­schei­dun­gen und ihres Ver­hält­nis­ses zu ihrem Geschichts­bild (der Vor­stel­lung von der jewei­li­gen Ver­gan­gen­heit) und zu ihrem Geschichts­be­wusst­sein ankom­men. Zu letz­te­rem gehö­ren etwa die (ggf. noch eher unbe­wuss­ten) Vor­stel­lun­gen davon, inwie­fern „dama­li­ges“ Han­deln und die zuge­hö­ri­ge Moral sich von heu­ti­gen unter­schei­den, die bei Schüler*innen gege­be­nen Vor­stel­lun­gen von Macht, Herr­schaft, Gewalt, Gut und Böse, aber auch ihre Über­le­gun­gen zu Authen­ti­zi­tät und Trif­tig­keit der jeweils prä­sen­tier­ten Geschichte.

Was ist eigentlich „Geschichte“?

Somit wer­den nicht nur kon­kre­te Spie­le und Spiel­sze­nen sowie spiel-imma­nen­tes Han­deln the­ma­tisch für Geschichts­un­ter­richt. Er muss viel­mehr auch das Augen­merk auf die Vor­stel­lun­gen und Begrif­fe der Schüler*innen davon rich­ten, was Geschich­te, wel­che Funk­ti­on und Bedeu­tung sie für die Gesell­schaft all­ge­mein sowie für sie als Indi­vi­du­en besitzt – und über die Rol­le his­to­ri­scher Spie­le als „Geschichts­sor­te“ im geschichts­kul­tu­rel­len Gefüge.

Inwie­fern etwa neh­men Schüler*innen die Dar­stel­lung von Geschich­te in sol­chen Spie­len und die in der Gesell­schaft und Schu­le sonst ver­han­del­te Geschich­te als zusam­men­ge­hö­rig oder aber als deut­lich von­ein­an­der getrennt wahr? Inwie­fern wer­den die sol­che Spie­le struk­tu­rie­ren­den Wel­ten über­haupt als einer auch außer­halb die­ser Spiel­welt gege­be­nen Ver­gan­gen­heit zuge­hö­rig (und somit als „his­to­risch“) wahr­ge­nom­men – oder aber als eine rei­ne Folie, die mit der Ver­gan­gen­heit letzt­lich nichts zu tun hat? Inwie­fern sind ihnen mög­li­che oder tat­säch­lich Ein­flüs­se der ihnen in Spie­len begeg­nen­den Geschichts­dar­stel­lun­gen auf ihr eige­nes Geschichts­bild und ‑bewusst­sein gar nicht, ansatz­wei­se oder (zuneh­mend?) deut­lich bewusst?

Inwie­fern besit­zen bzw. erwer­ben Schüler*innen einen kri­ti­schen Blick auf die Art und Wei­se, wie Ver­gan­ge­nes in sol­chen Spie­len kon­stru­iert und gestal­tet ist?

Fazit

Natür­lich wird unser kom­bi­nier­tes Pro­jekt­se­mi­nar weder alle hier noch alle in Nico Nol­dens jüngs­tem fach­be­zo­ge­nen Ein­trag im Blog „gespielt“ des Arbeits­krei­ses Geschichts­wis­sen­schaft und digi­ta­le Spie­le (https://​gespielt​.hypo​the​ses​.org/). (Nol­den 2018b) ange­spro­che­nen theo­re­ti­schen Fra­gen in Bezug auf digi­ta­le his­to­ri­sche Spie­le als Geschichts­sor­te in Gän­ze bear­bei­ten kön­nen; noch wer­den alle denk­ba­ren unter­richtsprag­ma­ti­schen Ansät­ze für eine kom­pe­tenz- und refle­xi­ons­ori­en­tier­te The­ma­ti­sie­rung in schu­li­schem Geschichts­un­ter­richt umge­setzt wer­den kön­nen. Es wird aber schon ein deut­li­cher Erfolg sein, wenn (auch über die bei Nico Nol­den sowie in die­sem Bei­trag ange­ris­se­nen Aspek­te hin­aus) sowohl die Beschäf­ti­gung der Lehr­amts- wie der Fach­stu­die­ren­den mit den Spie­len als auch ihre Erfah­run­gen und Erkun­dun­gen im Umfeld kon­kre­ter Unter­richts­ver­su­che dazu füh­ren, dass eine Rei­he von Ein­sich­ten sowohl in die his­to­rio­gra­phi­schen und media­len Logi­ken der Geschichts­prä­sen­ta­ti­on in die­ser Geschichts­sor­te, in For­men per­for­ma­ti­ver Sinn­bil­dun­gen (ein­schließ­lich Irri­ta­tio­nen und neu ent­ste­hen­der Fra­gen) und Mög­lich­kei­ten ihrer prag­ma­ti­schen Fokus­sie­rung ent­wi­ckelt werden.

Literatur

Anmer­kun­gen /​ Refe­ren­ces
  1. Ana­log zu ande­ren Berei­chen könn­te man auch die von Spiel-Hard- und v.a. Soft­ware gebo­te­nen Nar­ra­ti­ve als „Ange­bo­te“ begrei­fen. Ähn­lich wie bei Unter­richt (vgl. Sei­del 2014) stel­len die­se aber nicht ein­fach alter­na­tiv zu „nut­zen­de“, voll­stän­dig aus­ge­präg­te Vari­an­ten (dort: von Lern­pro­zes­sen, hier his­to­ri­scher Nar­ra­ti­ve) dar, son­dern viel­mehr „Pro­to-For­men“ bzw. poten­ti­el­le Nar­ra­ti­ve, die erst durch die (Inter-)Aktion der Spie­len­den zu voll­stän­di­gen Ver­läu­fen wer­den, wobei unter­schied­li­che Nar­ra­ti­ve gewis­ser­ma­ßen emer­gie­ren. []
  2. Selbst wenn etwa der Crea­ti­ve Direc­tor des Spiels, Jean Gues­don, betont, dass Spiel sei „kein Ersatz für Geschichts­un­ter­richt oder Leh­re“, ver­steht er die Dar­stel­lung doch als geeig­ne­tes „Anschau­ungs­ma­te­ri­al“; vgl. Kre­ien­brink 2018. []
  3. Vgl. „Es besteht in der Geschichts­di­dak­tik wei­test­ge­hen­der Kon­sens dar­über, dass auch das Leben und Wir­ken ande­rer sozia­ler Grup­pen als der Herr­scher­eli­te im Geschichts­un­ter­richt the­ma­ti­siert wer­den muss, und dass auch geschicht­lich ‘stum­me’ Grup­pen in ihm zum Spre­chen zu brin­gen sind. Damit wer­den in der Didak­tik Grup­pen bezeich­net, von denen aus den ver­schie­dens­ten Grün­den kei­ne oder wenig Zeug­nis­se über­lie­fert wor­den sind: Bau­ern frü­he­rer Zei­ten etwa, die nicht schrei­ben konn­ten, Frau­en frü­he­rer Zei­ten, die als nicht wich­tig genug ange­se­hen wur­den, dass sie in der Geschichts­schrei­bung vor­ka­men, Ver­lie­rer gro­ßer Krie­ge, über die nur der Gewin­ner berich­te­te, und dann wie­der­um fast nur Nega­ti­ves, und so wei­ter.“ (Stel­lo 2016, S. 282). []
  4. Das betrifft etwa die Fra­ge, inwie­fern die Per­spek­ti­ven von Grup­pe ohne eige­ne Über­lie­fe­rung über­haupt ähn­lich sol­cher mit Über­lie­fe­rung ein­ge­nom­men wer­den kön­nen oder ob dies not­wen­di­ger­wei­se gegen­wär­ti­gen Per­spek­ti­ven und Kon­zep­ten eben­so wie Fremd­wahr­neh­mun­gen ande­rer Grup­pen ver­haf­tet blei­ben­de Spe­ku­la­ti­on blei­ben muss. Ande­rer­seits ist die Fra­ge zu stel­len, ob sich die­se Her­aus­for­de­rung wirk­lich prin­zi­pi­ell oder nur gra­du­ell von ande­ren his­to­ri­schen Rekon­struk­ti­ons­pro­zes­sen unter­schei­det.[]
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