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Vor eini­gen Tagen hat Tho­mas Hell­muth auf Public Histo­ry Weekly einen Bei­trag geschrie­ben (“Ein Plä­doy­er für ‘Histo­rytel­ling’ im Unter­richt”), auf den sowohl Lind­say Gib­son als auch ich geant­wor­tet haben. Eine erneu­te Replik des Autors war offen­kun­dig als Schluss der Debat­te gedacht, denn es gibt kein wei­te­res Kom­men­tar­feld mehr.

Die­ser Schluss der Debat­te ist miss­lich, denn die Replik Hell­muths for­dert durch­aus zu wei­te­rer Aus­ein­an­der­set­zung auf. Ohne die­se Debat­te hier nun in eine unnö­ti­ge Län­ge zie­hen zu wol­len, möch­te ich doch auf eini­ge weni­ge Punk­te erneut eingehen:

  • Gegen den Ein­be­zug viel­fäl­ti­ger Metho­den der Pro­duk­ti­on und Ana­ly­se von Nar­ra­tio­nen in den Geschichts­un­ter­richt ist nichts zu sagen. In der Tat hat Hell­muth Recht, wenn er hier noch Poten­ti­al sieht. Aller­dings wirft sei­ne Replik wie der ursprüng­li­che Bei­trag durch­aus pro­ble­ma­ti­sche Fra­gen auf.
  • Zunächst: Zur von Hell­muth beklag­ten strik­ten “Tren­nung” von Re-Kon­struk­ti­on und De-Kon­struk­ti­on im FUER-Modell ist zu sagen, dass das FUER-Modell gera­de kei­ne strik­te unter­richt­li­che Tren­nung in Pha­sen for­dert, in denen ent­we­der nur das eine oder das ande­re the­ma­ti­siert, geübt etc. wer­den dürf­te. Die­ser Aus­sa­ge liegt offen­kun­dig ein Miss­ver­ständ­nis des Kom­pe­tenz­mo­dells als auch sei­nes Modell­cha­rak­ters zugrun­de: Das Modell unter­schei­det “Kom­pe­ten­zen” (Fähig­kei­ten, Fer­tig­kei­ten und Bereit­schaf­ten), nicht sau­ber von­ein­an­der zu tren­nen­de Pha­sen oder Schrit­te. Die tat­säch­li­che Aus­ein­an­der­set­zung, der kon­kre­te Lern­pro­zess ver­läuft oft wenig sys­te­ma­tisch, wie ja auch der For­schungs­pro­zess der His­to­ri­ker in der Rea­li­tät nicht dem Kreis­lauf­mo­dell Rüsens folgt — etwa in der Form eines ein­ma­li­gen nach­ein­an­der­fol­gen­den Durch­lau­fens der ein­zel­nen Schrit­te vom Ori­en­tie­rungs­be­dürf­nis­sen über die Akti­vie­rung lei­ten­der Hin­sich­ten zur metho­di­sier­ten Zuwen­dung zur Ver­gan­gen­heit und danach zur Dar­stel­lung. Nein, das Leben ist unsys­te­ma­tisch. Gera­de des­halb ist aber die ana­ly­ti­sche Unter­schei­dung der Ope­ra­tio­nen so wich­tig, dass man (im bes­ten Fal­le) immer weiß, was man gera­de tut; ob man also gera­de selbst syn­the­tisch-kon­struk­tiv neu­en Sinn bil­det oder den in einer Nar­ra­ti­on ent­hal­te­nen Sinn her­aus­ar­bei­tet; in weni­ger sys­te­ma­ti­schen Situa­tio­nen (wo man eine Geschich­te liest, neue Fra­gen ent­wi­ckelt, nie­der­schreibt, mit neu­en, eige­nen Ideen wei­ter­liest etc.) soll­te man sich mit Hil­fe die­ser Unter­schei­dun­gen klar machen kön­nen, wel­chen Sta­tus das eige­ne Tun gera­de hat, usw. Auch bei “Sto­rytel­ling” in Form einer krea­ti­ven wie ana­ly­ti­schen Beschäf­ti­gung mit frem­den und neu­en eige­nen Geschich­ten hat die­se Unter­schei­dung also durch­aus ihren Sinn.
  • Wich­ti­ger aber ist, dass Hell­muth in sei­ner Replik mei­ne Skep­sis gegen­über sei­ner Auf­fas­sung, es sei nicht pro­ble­ma­tisch, wenn erfun­de­ne Geschich­ten als “wah­rer” emp­fun­den wür­den, nicht argu­men­ta­tiv auf­greift, son­dern ledig­lich mit Hil­fe eini­ger Zita­te bekräf­tigt und in leicht iro­ni­schem Ton mei­ne Skep­sis gegen­über einer Über­schrei­tung einer roten Linie kommentiert.
    Dazu sei klar­ge­stellt, dass ich die “rote Linie” nicht dort über­schrit­ten sehe, wo mit fik­tio­na­len Tex­ten gear­bei­tet wird und Schü­ler auch sol­che erfin­den sol­len, wohl aber, wenn die “Wahr­heit” solch erfun­de­ner Tex­te nicht unter­sucht, ana­ly­siert und reflek­tiert wird — und zwar mit Bezug auf die erkennt­nis­theo­re­ti­schen Stan­dards der Geschichts­wis­sen­schaft -, son­dern wo sie eher affir­miert werden.Die von Hell­muth ange­führ­ten Auto­ri­tä­ten Jor­ge Sem­prun, Ruth Klü­ger und José Sara­ma­go hel­fen in die­ser Fra­ge gera­de nicht wei­ter. Nicht, dass die von ihnen ange­führ­te “Wahr­heit” der erfun­de­nen Geschich­ten kei­ne wäre — aber sie hat doch einen ande­ren Sta­tus. Eine ein­di­men­sio­na­le Unter­schei­dung zwi­schen “unwahr” — “wahr” — “wah­rer” greift hier nicht, viel­mehr ist das Kon­zept der Wahr­heit dif­fe­ren­zier­ter zu ana­ly­sie­ren und anzu­wen­den — gera­de auch, wenn es um Lern­si­tua­tio­nen geht.
    Wenn die For­de­rung Hell­muths nun dar­auf gin­ge Whar­heits­an­sprü­che, mit Hil­fe von Objektivitäts‑, oder bes­ser Plau­si­bi­li­täts-Kri­te­ri­en (Rüsen 2013) zu ana­ly­sie­ren (um nicht den älte­ren Begriff der Trif­tig­keit zu benut­zen), so dass Schü­le­rin­nen ler­nen zu dif­fe­ren­zie­ren, dass Geschich­ten durch­aus in unter­schied­li­chem Maße empi­risch, nor­ma­tiv und nar­ra­tiv trif­tig sein kön­nen, und wie dann auch empi­risch weni­ger trif­ti­gen Geschich­ten nar­ra­ti­ve Plau­si­bi­li­tät eig­nen kann — dann wäre alles in Ord­nung. Die Asser­ti­on, dass sol­che Geschich­ten ein­fach “wah­rer” sein kön­nen, hilft aller­dings nicht.
    Die von Hell­muth ange­führ­ten Auto­ri­tä­ten sind aber auch noch in ande­rer Hin­sicht pro­ble­ma­tisch in die­sem Zusam­men­hang. Zumin­dest bei Sem­prún und Klü­ger, aber auch bei Sára­ma­go (zumin­dest in sei­nen Sold­ados de Sala­mi­na) bezieht sich die beson­de­re, erhöh­te Wahr­heit zumin­dest par­ti­ell auch dar­auf, dass die­se fik­tio­na­len Geschich­ten eine “Wahr­heit” aus­zu­drü­cken ver­mö­gen, die “tro­cke­ne”, kogni­ti­vis­ti­sche Geschichts­wis­sen­schaft nicht leis­ten kann, weil sie mit der bio­gra­phi­schen und gene­ra­tio­nel­len Erfah­rung die­ser Autoren in beson­de­rer Wei­se auf­ge­la­den sind. Es geht hier ganz offen­kun­dig um die Wahr­heit der tota­li­tä­ren Erfah­rung von Leid und Unmensch­lich­keit, die eben nicht ein­fach wis­sen­schaft­lich erfasst und inter­sub­jek­tiv ver­mit­telt wer­den kann.
    Ist nun aber die­ser Modus der “Wahr­heit” eben­so ein­fach auch Geschich­ten zuzu­ge­ste­hen, die Schü­le­rin­nen und Schü­ler (gleich wel­chen fami­li­en­bio­gra­phi­schen und/​oder kul­tu­rel­len bezu­ges) zu Gegen­stän­den des Geschichts­un­ter­richts “erfin­den” — wie es bei Hell­muth offen­kun­dig gemeint ist? Kön­nen sie auch die­se Form der Wahr­heit bean­spru­chen? Wenn in sol­che Geschich­te exis­ten­ti­el­le Bedürf­nis­se, Per­spek­ti­ven etc. ein­flie­ßen, dann sicher. Aber gilt es auch für Geschich­ten, die sich Schü­le­rin­nen und Schü­ler zu his­to­ri­schen The­men im Unter­richt aus­den­ken? Kann sol­che Art Wahr­heit durch didak­ti­sche Pla­nung gesi­chert, her­ge­stellt wer­den? Ist ein unter­richt­li­ches “Histo­rytel­ling” zu distan­ten Gegen­stän­den ein­fach so die­ser lite­ra­risch-exis­ten­ti­el­len Form der nar­ra­ti­ven Wahr­heit zu vergleichen?
  • Das nun ist eine der wesent­li­chen Her­aus­for­de­run­gen der Beschäf­ti­gung mit Nar­ra­ti­vi­tät: Schü­ler kön­nen, nein: müs­sen ler­nen, dass und wie lite­ra­ri­sche und his­to­ri­sche “Wahr­heit” sich auf­ein­an­der bezie­hen kön­nen, auch auch, dass sie sich unter­schei­den. Unter­richt­lich ist also nicht die Fra­ge zen­tral, ob von Schü­lern erfun­de­ne Geschich­ten “wahr” sein kön­nen, son­dern die The­ma­ti­sie­rung der Art und Wei­se und des (per­spek­ti­visch durch­aus unter­schied­li­chen) Gra­des, wie sie “wahr” oder bes­ser: plau­si­bel sind — und wem gegen­über die­se Plau­si­bi­li­tä­ten einen Anspruch auf Gel­tung bean­spru­chen können.

Ins­ge­samt also: Nichts gegen “Histo­rytel­ling” — aber doch als Mit­tel zur Refle­xi­on über die Gemein­sam­kei­ten udn Unter­schie­de, über die Prin­zi­pi­en und Kri­te­ri­en von “Wahr­heit” im his­to­ri­schen und im lite­ra­ri­schen Bereich.