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Anzu­zei­gen ist ein zugleich wich­ti­ges und pro­ble­ma­ti­sches Buch zur aktu­el­len Debat­te um Kom­pe­ten­zen in der Geschichts­di­dak­tik und ihrer Umset­zung für den Geschichts­un­ter­richt. Wer­ner Heil, Gym­na­si­al­leh­rer, Fach­se­mi­nar­lei­ter und Lehr­be­auf­trag­ter für Geschichts­di­dak­tik in Stutt­gart hat mit dem ers­ten Band der neu­en Rei­he “Geschich­te im Unter­richt” ein Werk vor­ge­legt, das in sei­nem ers­ten Teil Wesent­li­ches zur Klä­rung der gegen­wär­ti­gen Arbei­ten zur Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung des Geschichts­un­ter­richts leis­tet – hof­fent­lich gera­de auch für die Rezi­pi­en­ten die­ser Anstren­gun­gen, die Geschichts­leh­rer. Die­ser ers­te Teil besticht durch die Klar­heit, mit der der Gedan­ke der Kom­pe­tenz­för­de­rung ernst genom­men und zur Grund­la­ge einer gleich­zei­tig wert­schät­zen­den wie auch urteils­freu­di­gen Ana­ly­se einer Rei­he von Lehr­plä­nen wie drei­er der bis­her vor­ge­leg­ten Kom­pe­tenz­mo­del­le (FUER, Pan­del und Sauer/​VGD 1; lei­der fehlt Gaut­schi) gemacht wird. Heil gelingt es, Unter­schie­de und Gemein­sam­kei­ten der Kom­pe­tenz­mo­del­le sowohl im Kon­struk­ti­ven wie auch in dar­un­ter lie­gen­den Prä­mis­sen und Vor­ver­ständ­nis­sen deut­lich her­aus­zu­ar­bei­ten. Beson­ders her­vor­zu­he­ben ist die Deut­lich­keit, in wel­cher er die Spe­zi­fi­tät kom­pe­tenz­ori­en­tier­ten Ler­nens gegen­über ande­ren Lern­kon­zep­ten, gera­de auch gegen­über der Lern­ziel­ori­en­tie­rung, her­aus­stellt. Heil nimmt den Cha­rak­ter von Kom­pe­ten­zen, all­ge­mein, auf eine Rei­he unter­schied­li­cher Phä­no­me­ne, Ereig­nis­se, Pro­ble­me bzw. Fra­ge­stel­lun­gen anwend­bar zu sein, beson­ders ernst und kann auf die­se Wei­se sehr deut­lich zwi­schen einer ech­ten Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung und einem in Kom­pe­tenz­for­mu­lie­run­gen ver­pack­ten her­kömm­li­chen Geschichts­un­ter­richt unter­schei­den. Auch ist her­vor­zu­he­ben, dass der Blick “von außen” (sofern man das bei einem Autoren sagen kann, der im glei­chen Buch ein eige­nes Modell vor­legt) auf die drei ana­ly­sier­ten Model­le dazu führt, dass deren Unter­schei­dun­gen, aber auch Gemein­sam­kei­ten in einer etwas ande­ren Per­spek­ti­ve sicht­bar wer­den, als in der bis­he­ri­gen Debat­te erkenn­bar wur­de. Dass eini­ge der dabei vor­ge­nom­me­nen sach­li­chen und wer­ten­den Urtei­le wie auch ein­zel­ne Zuord­nun­gen nicht ohne Wider­spruch der Autoren der ana­ly­sier­ten Model­le und der rest­li­chen Zunft blei­ben dürf­ten, tut dem kei­nen Abbruch.

Der zwei­te Teil des Buches besteht in der Kon­struk­ti­on eines eige­nen Kom­pe­tenz­struk­tur­mo­dells samt eini­ger Bei­spie­le sei­ner Kon­kre­ti­sie­rung für den Unter­richt. Die­ses wei­te­re Kom­pe­tenz­mo­dell ist deut­lich prag­ma­tisch und hand­hab­bar – es führt aber in einer ganz ande­ren Hin­sicht von der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung fort, wie zumin­dest ich (als Mit­au­tor des FUER-Modells) sie ver­ste­he, und wie sie m.E. auch aus der Weinert‘schen Kom­pe­tenz­de­fi­ni­ti­on (auf die auch Heil sich bezieht) folgt. Ursa­che die­ser Ver­feh­lung der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung ist nicht – wie etwa von Heil den “Bil­dungs­stan­dards” des VGD beschei­nigt – ein Rück­fall in einen “lern­ziel­ori­en­tier­ten” Unter­richt klas­si­scher Prä­gung, wel­cher an kon­kre­te Phä­no­me­ne gebun­de­ne Per­for­man­zen for­dert (und damit ein ganz kon­kre­tes Geschichts­bild vor­schreibt), nicht aber trans­fera­ble Kom­pe­ten­zen för­dert, son­dern die Tat­sa­che, dass Heil auf der Grund­la­ge eines anders gela­ger­ten Geschichts­be­griff argu­men­tiert, der nicht zen­tral nar­ra­tiv ist, son­dern zugleich radi­ka­ler und weni­ger kon­se­quent kon­struk­ti­vis­tisch als der­je­ni­ge, den er (zu Recht) bei der FUER-Grup­pe und Pan­del dia­gnos­ti­ziert, und dass er auf die­ser Basis letzt­lich sei­nem eige­nen Kom­pe­tenz­mo­dell doch wie­der ein spe­zi­fi­sches “Geschichts­bild” zu Grun­de legt, des­sen Über­nah­me kom­pe­tenz­haft model­liert wird. Auch Heils Kom­pe­tenz­mo­dell engt – ganz ent­ge­gen sei­ner im ers­ten Teil erkenn­ba­ren Inten­ti­on – die Mög­lich­kei­ten des his­to­ri­schen Den­kens der Schü­le­rin­nen und Schü­ler inhalt­lich ein. Die­ses Urteil bedarf der Erläuterung:

Wer­ner Heil steht auf der Basis einer wis­sen­schafts- und erkennt­nis­theo­re­ti­schen Posi­ti­on, die er bereits in sei­ner Dis­ser­ta­ti­on 2 und einem spä­te­ren schma­len Werk 3 aus­ge­führt hat, der nar­ra­ti­vis­ti­schen Geschichts­theo­rie, die (nicht nur durch Rüsen, wie Heil behaup­tet, son­dern bereits zuvor von Dan­to und Baum­gart­ner ent­wi­ckelt) die deut­sche Geschichts­di­dak­tik seit nun­mehr fast 30 Jah­ren prägt, kri­tisch (wenn auch nicht gänz­lich ableh­nend) gegen­über. Sie geht ihm zum einen nicht weit genug in ihrem Kon­struk­ti­vis­mus, der vor allem auf den his­to­ri­schen (“nar­ra­ti­ven”) Sinn gerich­tet ist. Heil betont zu Recht, dass nicht nur nar­ra­ti­ver Sinn “kon­stru­iert” wer­den muss, son­dern Wirk­lich­keit insgesamt.

Dass nicht nur Sinn kon­stru­iert wer­den muss, son­dern Wirk­lich­keit ins­ge­samt nicht ohne Kon­struk­ti­ons­leis­tung wahr­nehm­bar und denk- sowie kom­mu­ni­zier­bar ist, wird auch von der nar­ra­ti­vis­ti­schen Theo­rie nicht bestrit­ten. Ihr geht es jedoch dar­um, dass die spe­zi­fi­sche Funk­ti­on his­to­ri­schen Den­kens die sinn­haf­te Ver­bin­dung von Infor­ma­tio­nen (“Ver­gan­gen­heits­par­ti­keln” in der FUER-Ter­mi­no­lo­gie) aus bzw. über min­des­tens zwei Zeit­punk­te ist, die aus die­sen erst “Geschich­te” macht.

Weder der Nar­ra­ti­vis­mus noch Heil gehen davon aus, dass die Kon­struk­ti­ons­leis­tun­gen des Gehirns auf der Sub­jekt (Rea­li­en-) noch der Objekt­sei­te völ­lig fik­tiv sind. Weder das den­ken­de Gehirn bzw. der his­to­risch den­ken­de Mensch noch die frü­he­re Wirk­lich­keit sind rei­ne Erfin­dun­gen. Ein sol­ches Ver­ständ­nis wür­de dazu füh­ren, dass der Ori­en­tie­rungs­an­spruch von kon­stru­ier­ten Geschich­ten nicht auf­recht­zu­er­hal­ten wäre. Sie wären von Lite­ra­tur und auch rei­nen Spin­ne­rei­en nicht mehr zu unter­schei­den. Geschichts­den­ken, das eine lebens­welt­li­che Ori­en­tie­rungs­funk­ti­on erfül­len soll (das wird von Heil geteilt) muss also davon aus­ge­hen, dass das Refe­renz­ob­jekt der Ver­gan­gen­heit exis­tiert. Der Unter­schied zwi­schen der nar­ra­ti­vis­ti­schen Theo­rie und Heils Erkennt­nis­theo­rie besteht nun dar­in, dass ers­te­re deut­lich zwi­schen “Ver­gan­gen­heit” und “Geschich­te” unter­schei­det. Ihr zufol­ge wird erst durch das Erzäh­len, durch die kon­struk­ti­ve Ver­bin­dung von Infor­ma­tio­nen über min­des­tens zwei Zeit­punk­te (wobei die Art und Wei­se, wie die­se Zeit­punk­te gedacht bzw. begriff­lich gefasst wer­den, wie­der­um nicht vor­ge­ge­ben, son­dern kon­struk­tiv erstellt ist) macht sie zur “Geschich­te”. Daher gibt es nicht eine Geschich­te – nicht ein­mal als Kol­lek­tiv­sin­gu­lar, schon gar nicht außer­halb der den­ken­den Sub­jek­te. Wie immer die Zustän­de der Vergangenheit(en) auf­ein­an­der gefolgt sind – jeg­li­che Ver­bin­dung zwi­schen ihnen ist nur denk­bar durch Rück­griff auf vor­gän­gi­ge, nicht in der ver­gan­ge­nen Wirk­lich­keit (allein) zu ver­an­kern­den Kon­zep­ten von Zeit­ver­läu­fen, sei­en es Kausal‑, Final‑, Bei­spiel-Aus­nah­me- oder auch nur rein tem­po­ra­le Bezie­hun­gen (davor-danach, zeit­gleich etc.). Bei Heil hin­ge­gen gibt es die Geschich­te auch vor dem Den­ken. Sie exis­tiert und wirkt. Die Not­wen­dig­keit einer Tren­nung von “Ver­gan­gen­heit” und “Geschich­te”, wie in der eng­li­schen Geschichts­theo­rie etwa so deut­lich von Keith Jenk­ins her­aus­ge­ar­bei­tet wur­de, exis­tiert für ihn nicht. Letzt­lich bezieht sich der Kon­struk­ti­ons­cha­rak­ter ledig­lich auf “unser Wis­sen von ihr”. Dies ist ein Wider­spruch in der Erkenntnistheorie.

Die­se anders gela­ger­te Epis­te­mo­lo­gie des his­to­ri­schen wäre weni­ger pro­ble­ma­tisch, wenn sie sich nicht an zen­tra­ler Stel­le in kon­kre­ten Set­zun­gen nie­der­schla­gen würde.

Zunächst noch zu einer Stär­ke von Heils Radi­ka­li­tät, den Kon­strukt­cha­rak­ter für die Wirk­lich­keit ins­ge­samt, nicht nur für den “Sinn” ein­zu­for­dern: Wie schon in “Der stil­le Ruf des Horus­fal­ken” radi­ka­li­siert Heil mit die­sem Kon­zept die Denk­mög­lich­keit anders­ar­ti­ger Lebens­wel­ten. Fremd­ver­ste­hen ist ihm zufol­ge (zu Recht) nur dann mög­lich, wenn wir nicht unse­re Wirk­lich­keit und ihre Kon­zep­te an die uns in zufäl­li­gen Über­res­ten und Tra­di­tio­nen begeg­nen­den ver­gan­ge­nen Lebens­wel­ten her­an­tra­gen und mit ihnen die­sen einen Sinn abzu­ge­win­nen suchen, son­dern wenn wir aner­ken­nen (und das ist mehr als ertra­gen), dass Men­schen in ande­ren Zei­ten die Welt ganz anders wahr­ge­nom­men haben – eben bis hin zur Art und Wei­se, wie sie “Wirk­lich­keit” kon­stru­ie­ren (S. 66). Die­sen Gedan­ken radi­ka­li­siert Heil in einem Modell, dem zufol­ge Men­schen  nicht nur theo­re­tisch, son­dern ganz konkrezt zu unter­schied­li­chen Zei­ten in unter­schied­li­cher Form unter­schied­li­che Wirk­lich­kei­ten gelebt haben. Ent­schei­dend ist für ihn dabei das wech­seln­de Ver­hält­nis zwi­schen “Sin­nes-” und “Begriffs­er­le­ben”. Ers­te­res sei für die Neu­zeit und Gegen­wart domi­nant, letz­te­res für die Vor- und Früh­ge­schich­te, Anti­ke und Mit­tel­al­ter sei­en durch ein aus­ge­wo­ge­nes Ver­hält­nis bei­der gekennzeichnet.

Hin­sicht­lich des Anspruchs, eine radi­kal ande­re Wirk­lich­keit (zeit­lich, aber viel­leicht auch kul­tu­rell) ande­rer Men­schen ernst zu neh­men und anzu­er­ken­nen, ist das wei­ter­füh­rend. Indem Heil die­ses Modell aber zur Grund­la­ge sei­ner Geschichts­theo­rie macht, wird es pro­ble­ma­tisch. Letzt­lich ist näm­lich auch sei­ne gro­be Geschich­te der “Ent­wick­lung des Erkennt­nis­ver­mö­gens” der Mensch­heit genau das – eine Geschich­te, die mit Hil­fe gegen­wär­ti­ger Kon­zep­te und Kate­go­rien erstellt ist, und die Ori­en­tie­rung in der Viel­falt der Vergangenheit(en) geben soll. Dass in der Vor- und Früh­ge­schich­te die Men­schen stär­ker “geis­tig-begriff­lich” erlebt haben, ist eine Hypo­the­se, eine Kon­struk­ti­on – aber selbst noch kei­ne Wirk­lich­keit. Ob und inwie­fern die Kon­zep­te (Begrif­fe) “Geist” und “Begriff” ihrem Den­ken gerecht wer­den, kann eben nicht ohne Rück­griff auf eine nar­ra­ti­ve Fas­sung geklärt wer­den, weil wir die­se Men­schen nicht selbst syn­chron befra­gen kön­nen. Das Kon­zept, mit dem Heil (in Der stil­le Ruf des Horus­fal­ken) die Wirk­lich­keit der Kon­stru­ie­ren­den (Gehir­ne) his­to­risch klä­ren will, ist eben selbst wie­der Pro­dukt eines sol­chen (ela­bo­riert) his­to­ri­schen Den­ken­den Gehirns.

Wir kom­men letzt­lich nicht aus der Situa­ti­on her­aus, dass wir über Ver­gan­ge­nes nur etwas aus­sa­gen kön­nen, wenn es die Form einer Nar­ra­ti­on annimmt – das ist genau die Posi­ti­on, die Heil ver­wirft. Selbst die For­mu­lie­rung von der “Ent­wick­lung der Erkennt­nis­fä­hig­keit des Men­schen” ist bereits eine sol­che Pro­to-Nar­ra­ti­on, die ohne­dies nicht auto­ma­tisch trif­tig ist. Vor der (his­to­ri­schen – auch dies eine nar­ra­ti­ve Erklä­rung!) Ent­wick­lung des Kon­zepts der gene­ti­schen Ver­än­de­rung wäre die­se Auf­fas­sung undenk­bar gewe­sen. Und selbst heut­zu­ta­ge ist nicht zwei­fels­frei geklärt, inwie­fern die Sin­nes-Aus­stat­tung des Men­schen und sei­ne kör­per­li­chen Funk­tio­nen über­haupt “varia­bel” sind.

So weit das erkennt­nis­theo­re­ti­sche Pro­blem. Zum Pro­blem der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung wird es dort, wo Heil in sei­nem Struk­tur­git­ter­an­satz “Domä­nen” der Geschich­te struk­tu­riert und mit den Kom­pe­ten­zen ver­schränkt (S. 71ff):

Unter “Domä­nen” ver­steht Heil wesent­li­che Sub­struk­tu­ren der Gesamt­do­mä­ne “Geschich­te”. Er nennt deren neun: “Herr­schaft”, “Gesell­schaft”, “Recht”, “Wirt­schaft”, “Krieg”, “Selbst­ver­ständ­nis”, “Reli­gi­on”, “Wis­sen­schaft”, “Wirk­lich­keit”. Wegen der übli­chen Ver­wen­dung des Begriffs “Domä­ne” in der kogni­ti­ven Psy­cho­lo­gie für brei­te­te Berei­che (etwa “Geschich­te” ins­ge­samt) wäre hier wohl bes­ser von “Sek­to­ren” die Rede. Das ist aber nicht schlimm. Auch sei zuge­stan­den, dass hier eine begrenz­te und zudem (ein­ge­stan­de­ner­ma­ßen) euro­zen­tri­sche Ein­tei­lung vor­liegt, über die gestrit­ten wer­den kann und wohl auch muss (inwie­fern etwa “Geschlecht”, “Umwelt”, “Lebens­form” mit Fami­lie etc. ergänzt wer­den kön­nen oder müs­sen, sei hier noch anheim­ge­stellt). Eben­falls sinn­vol­ler­wei­se defi­niert Heil für die “Ori­en­tie­rungs­kom­pe­tenz” jedes die­ser Berei­che einen Satz typo­lo­gisch-kate­go­ria­ler Begrif­fe, die die Domä­ne erschlie­ßen. Für “Herr­schaft” etwa sind die­se “Theo­kra­tie”, “Aris­to­kra­tie” und “Demo­kra­tie”, für “Gesell­schaft”: “kol­lek­ti­ve Gesell­schaft”, “Stän­de­ge­sell­schaft”, “bür­ger­li­che Gesell­schaft”, für “Reli­gi­on”: “Poly­the­is­mus”, “Mono­the­is­mus” und “Reli­gi­ons­frei­heit, Athe­is­mus” usw. Das lässt sich sicher­lich ergän­zen und dif­fe­ren­zie­ren, ist so jeden­falls nicht unsinnig.

Pro­ble­ma­tisch wird nun die Kon­struk­ti­on der “Kom­pe­ten­zen”: Heil ord­net die­se Begrif­fe näm­lich im Sin­ne einer Chro­no­lo­gie an. Ein Struk­tur­git­ter zeigt zudem die Zusam­men­hän­ge zwi­schen ihnen an (Demo­kra­tie gehe mit Indi­vi­dua­lis­mus ein­her und Rechts­gleich­heit). Damit sind sicher­lich wesent­li­che Ein­sich­ten in Zusam­men­hän­ge for­mu­liert. Die­se zu erwer­ben, kann in der Tat als Lern­fort­schritt ange­se­hen wer­den. Was das Modell dann aber nicht leis­tet, ist die Befä­hi­gung zur Refle­xi­on die­ser Kon­struk­ti­on selbst (denn um eine sol­che han­delt es sich).

Letzt­lich gibt das Modell einen all­ge­mei­nen Fort­schritts­ge­dan­ken vor, den his­to­risch kom­pe­ten­te Men­schen ken­nen soll­ten, den sie aber auch infra­ge­stel­len und reflek­tie­ren kön­nen müs­sen. Anders gesagt: Wer heut­zu­ta­ge nicht akzep­tiert, dass “Religionsfreiheit/​Atheismus” eine höhe­re, weil fort­ge­schrit­te­ne­re Stu­fe der Geschichts­ent­wick­lung dar­stellt als “Mono­the­is­mus” und gar “Poly­the­is­mus”, wird mit Hil­fe die­ses Modells nicht als kom­pe­tent ange­se­hen wer­den kön­nen. Dass zur Markt­wirt­schaft nicht “Mono­the­is­mus” son­dern “Religionsfreiheit/​Atheismus” passt, lässt sich argu­men­tie­ren – aber auch umge­kehrt (wei­te Tei­le der CDU könn­ten die­sem Modell zufol­ge nicht his­to­risch kom­pe­tent sein).

Das Pro­blem die­ses Modells ist es, dass es Kom­pe­tenz und Über­nah­me einer ganz kon­kre­ten Geschichts­auf­fas­sung mit einem west­lich-moder­nen Fort­schritts­kon­zept kop­pelt. Quer­lie­gen­des Geschichts­den­ken dürf­te dem­nach gera­de nicht kom­pe­tent sein.

Damit sei nicht gesagt, dass das Struk­tur­git­ter unsin­nig ist – im Gegen­teil. Schüler(innen), die im Geschichts­un­ter­richt anhand kon­kre­ter his­to­ri­scher Phä­no­me­ne, Ereig­nis­se, Struk­tu­ren, ler­nen, mit Hil­fe die­ses Struk­tur­git­ters ande­re his­to­ri­sche Phä­no­me­ne selbst­stän­dig zu beur­tei­len, und nicht so sehr die im Unter­richt the­ma­ti­sier­ten (“durch­ge­nom­me­nen”) Ein­zel­hei­ten selbst memo­rie­ren und deren Addi­ti­on für “Geschichts­be­wusst­sein” hal­ten, sind in einem ganz spe­zi­fi­schen Sin­ne kom­pe­tent. Wer so gelernt hat, ist sicher­lich in der Lage selbst­stän­dig zu den­ken. Das Pro­blem dabei ist, dass das Koor­di­na­ten­sys­tem die­ses Den­kens, das Struk­tur­git­ter (wel­ches Heil selbst als modell­haft, nicht als Abbild von Wirk­lich­keit ver­stan­den wil­len will), nicht sys­te­ma­tisch in den Hori­zont der Refle­xi­on ein­be­zo­gen wird. Die Kom­pe­tenz, die Heil mit die­sem Modell för­dert, ist somit nicht die­je­ni­ge des his­to­ri­schen Den­kens, son­dern die­je­ni­ge, auf der Basis eines spe­zi­fisch euro­pä­isch-moder­nen Geschichts­bil­des und Fort­schritts­kon­zepts letzt­lich belie­bi­ge his­to­ri­sche Phä­no­me­ne in eben die­ses Kon­zept ein­zu­ord­nen. Es ist die Kom­pe­tenz, Geschich­te “west­lich” zu denken.

Das ist nicht ohne Iro­nie, weil es ja gera­de Heil ist, der im “Stil­len Ruf des Horus­fal­ken” und dar­auf basie­rend auch hier wie­der, die radi­ka­le Bereit­schaft zum his­to­ri­schen Per­spek­ti­ven­wech­sel ein­for­dert (und ansatz­wei­se model­liert), indem er völ­lig ande­re Wirk­lich­keits­mo­del­le aner­kennt. Die­se Bereit­schaft zur Aner­ken­nung ande­rer Kon­struk­tio­nen müss­te dann aber auch für die Kon­struk­ti­on der Zusam­men­hän­ge zwi­schen (immer­hin mit dem eige­nen Instru­men­ta­ri­um an Metho­den, Kri­te­ri­en, Kon­zep­ten und Kate­go­rien) fest­ge­stell­ten und bezeich­ne­ten Phä­no­me­nen gel­ten. Die­se Inkon­se­quenz ist im Übri­gen durch­aus erklär­bar: Der bewun­derns­wer­ten Bereit­schaft, radi­ka­le ande­re Wirk­lich­keits­kon­zep­te anzu­er­ken­nen und gel­ten zu las­sen, steht die erkennt­nis­theo­re­ti­sche Pro­ble­ma­tik gegen­über (nicht: ent­ge­gen), dass wir auch die­se letzt­lich immer mit unse­ren Begrif­fen und Kon­zep­ten model­lie­ren müs­sen. Die im Stil­len Ruf des Horus­fal­ken pos­tu­lier­ten ande­ren Wirk­lich­keits­vor­stel­lun­gen sind eben nicht die­je­ni­gen der Ver­gan­gen­hei­ten, mit der sich die Geschichts­wis­sen­schaft jeweils beschäf­tigt, son­dern ihre eige­nen Re-Kon­struk­tio­nen. Heil gerät hier an die Gren­ze des Fremd­ver­ste­hens – oder genau­er: an die Gren­ze zwi­schen der Mög­lich­keit, Frem­des anzu­er­ken­nen (reco­gni­ti­on) und der Unmög­lich­keit, es in und aus sich selbst her­aus zu ver­ste­hen. Auch das radi­kal Frem­de muss letzt­lich aus der eige­nen Per­spek­ti­ve her­aus model­liert wer­den. 4

Indem Heil nun die­se For­de­rung nach Aner­ken­nung frem­der Wirk­lich­keits­kon­struk­tio­nen (sei­ne detail­rei­chen Bei­spie­le im Kom­pe­tenz­mo­dell sind aber sol­che syn­chro­ner Art, näm­lich des gegen­wär­ti­gen Japan) in ein Kom­pe­tenz­mo­dell ein­baut, des­sen Zusam­men­hangs­kon­struk­tio­nen (S. 73) selbst nicht der­art radi­kal als eigen­per­spek­ti­vi­sches Kon­strukt reflek­tiert wer­den, gerät es in die Gefahr der Indok­tri­na­ti­on. Kon­kret: Ist es wirk­lich Aus­druck his­to­ri­scher Kom­pe­tenz, die gött­li­che Stel­lung des Ten­no in der japa­ni­schen Kul­tur als Aus­druck eines “Aus-der-Zeit-Seins” die­ser japa­ni­schen Kul­tur zu wer­ten, die Mög­lich­keit von “Theo­kra­tie” und Markt­wirt­schaft auf­grund der unter­schied­li­chen Posi­tio­nie­run­gen im Struk­tur­git­ter zu ver­nei­nen? Ihre Koexis­tenz im Japan der Vor­kriegs­zeit wäre somit typo­lo­gisch unver­träg­lich. Erkennt Heil das im Fall Japans impli­zit noch mit Ver­weis auf die kul­tu­rell ande­re Wirk­lich­keits­kon­struk­ti­on der Japa­ner an, gerät das Modell gera­de im Fall Euro­pas an sei­ne Gren­zen: Eben­so wie für Japan pas­se Theo­kra­tie auf­grund des ande­ren Wirk­lich­keits­ver­ständ­nis­ses für die Alten Hoch­kul­tu­ren “in die Zeit”, dem Abso­lu­tis­mus, den Dik­ta­tu­ren des 20. Jahr­hun­derts müs­se auf­grund ihres Sys­tem­bru­ches jedoch die “Daseins­be­rech­ti­gung” abge­spro­chen wer­den (92). Damit ist in der Tat eine Urteils­fä­hig­keit erreicht: Schüler(innen), die gelernt haben, das Struk­tur­git­ter Heils anzu­wen­den, kön­nen “erken­nen, wann Phä­no­me­ne typisch oder unty­pisch auf­tre­ten” und bei “Unlo­gik” eine “poli­ti­sche und sozia­le Unver­träg­lich­keit” dia­gnos­ti­zie­ren, die zu “Wider­spruch und ‑stand” her­aus­for­de­re. Aber zu was für Urtei­len wer­den Schüler(innen) so befä­higt? His­to­ri­sche Phä­no­me­ne wer­den somit zwar weder allein nach gegen­wär­ti­gen Moral­stan­dards, in ver­kürz­tem His­to­ris­mus nur in ihrem eige­nen Hori­zont beur­teilt – inso­fern ver­meint­lich ein Gewinn. Aber eben nur ver­meint­lich: Urteils­ba­sis ist auch hier die gegen­wär­ti­ge Sys­tem­lo­gik moder­nen euro­päi­schen Den­kens à la Wer­ner Heil: Was sys­tem­treu ist, ist gut (gewe­sen), was sys­tem­fremd, schlecht. Des­po­tie und Tyran­nis in der Anti­ke sind dem­nach anders zu beur­tei­len als Dik­ta­tur in der Neu­zeit. Einer­seits stimmt das ja auch. Gegen­wär­ti­ge Nor­men gel­ten für Ver­gan­ge­nes nicht unum­schränkt. Aber ist des­halb alles Ver­gan­ge­ne “gut”, wenn es “sys­tem­ge­recht” war und alles Gegen­wär­ti­ge nur dann “schlecht” oder “böse”, wenn es “unty­pisch” ist? Mir scheint, hier wird die Eigen­heit des his­to­ri­schen Den­kens gera­de­zu auf­ge­ho­ben: Wer so urtei­len lernt, steht gar nicht mehr vor dem Pro­blem des his­to­ri­schen Ver­ste­hens und Urtei­lens: Was typo­lo­gisch zu ver­ste­hen ist, ist auch so zu beur­tei­len. Heißt das, dass der Natio­nal­so­zia­lis­mus und der Faschis­mus, aber auch der Sta­li­nis­mus nur des­halb kei­ne Daseins­be­rech­ti­gung hat­ten, weil sie zu spät kamen, weil sie in ihrer Zeit unty­pisch waren? Nicht auch des­we­gen, weil sie einem Men­schen­bild wider­spra­chen (und in ihren Exis­tenz­ni­schen) wider­spre­chen, das wir nicht ohne Grund als uni­ver­sell den­ken. Heil gibt hier ohne Not das Regu­la­tiv der Idee der Mensch­heit und der uni­ver­sa­len Nor­men auf.

Hier zeigt sich das gan­ze Pro­blem: Heil zufol­ge besteht his­to­ri­sches Urtei­len eben nicht dar­in, die Zeit­qua­li­tät in ihrer Span­nung zwi­schen Zeit­ge­nös­si­schem und Heu­ti­gem zu reflek­tie­ren und den­kend immer neu zu ver­bin­den zu einem eige­nen Urteil. Viel­mehr besteht das Urtei­len bei Heil in der Appli­ka­ti­on eines selbst als zeit­über­grei­fend gedach­ten Sche­mas. Pas­send oder nicht? Wei­ter geht das his­to­ri­sche Den­ken und Urtei­len dort nicht.

Inter­es­sant an Heils Modell ist aller­dings, dass es selbst als Bei­spiel für die Logik des kon­kur­rie­ren­den (und von ihm par­ti­ell sehr posi­tiv bespro­che­nen) FUER-Modell fun­gie­ren kann: Das Struk­tur­git­ter Heils kann gedacht wer­den als eine kom­ple­xe Form gegen­wär­ti­ger gesell­schaft­li­cher Kon­ven­tio­nen, sol­cher näm­lich, die das euro­pä­isch-west­lich-moder­ne Selbst­ver­ständ­nis und sei­nes Geschichts­bil­des struk­tu­rell fas­sen. Im Struk­tur­git­ter drü­cken sich in kate­go­ria­ler Wei­se wesent­li­che Cha­rak­te­ris­ti­ka des sozia­len, poli­ti­schen und (in der Zusam­men­schau der Spal­ten einer Zei­le 5) his­to­ri­schen Selbst­ver­ständ­nis­ses heu­ti­ger west­li­cher Gesell­schaf­ten. Über die­se Kon­zep­te und Kate­go­rien zu ver­fü­gen und mit ihnen umge­hen zu ler­nen, ist somit in der Tat wesent­li­ches Ziel his­to­ri­schen Ler­nens, und die Fähig­keit, mit Hil­fe die­ses Git­ters wie sei­ner Bestand­tei­le danach zu fra­gen, inwie­fern Phä­no­me­ne typisch oder unty­pisch sind, ist durch­aus Aus­weis einer gewis­sen Kom­pe­tenz – aber (bei aller Kom­ple­xi­tät) allen­falls auf dem inter­me­diä­ren Niveau: Wer hier ste­hen bleibt, lernt eben nichts ande­res, als ande­re Kul­tu­ren und Zei­ten im Ver­hält­nis zu unse­rem west­li­chen Ver­ständ­nis ein­zu­ord­nen, und das die­ser Per­spek­ti­ve struk­tu­rell “fremd” Erschei­nen­de zu ver­ur­tei­len. Allen­falls (auch das wäre ein Aus­weis die­ses mitt­le­ren Niveaus) könn­te man unter Anwen­dung die­ses Modells sei­ner Irri­ta­ti­on Aus­druck ver­lei­hen, eige­ne Fra­gen stellen.

Nötig wäre aber gera­de hier die Ela­bo­ra­ti­on des Umgangs mit die­sem (und ande­ren, kon­kur­rie­ren­den) Struk­tur­git­tern – die Refle­xi­on ihrer Modell­haf­tig­keit, ihrer Per­spek­ti­ve, ihrer Her­kunft aus sys­tem­lo­gi­schem Den­ken usw. Wer his­to­risch ela­bo­riert kom­pe­tent sein will, dem scha­det die Ver­fü­gung über alle Kon­zep­te Heils gar nichts – im Gegen­teil, aber sich allein auf sie zu ver­las­sen, sie nur anzu­wen­den, bedeu­te­te doch, nicht wirk­lich selbst auf ela­bo­rier­tem Niveau urteils­fä­hig zu sein.

Unter Ein­bau des Gra­du­ie­rungs­kon­zepts der FUER-Grup­pe erhält Heils Struk­tur­git­ter­mo­dell Kom­pe­tenz­cha­rak­ter: erst dann näm­lich geht es um die Fähig­keit, Fer­tig­keit und Bereit­schaft sowie die Zustän­dig­keit des Ler­nen­den, sein his­to­ri­sches Den­ken selbst-refle­xiv zu vollziehen.

Fazit

Alles in allem ist Heils Buch äußerst zwei­ge­teilt zu beur­tei­len: Sel­ten hat jemand in der bis­he­ri­gen Debat­te den Grund­ge­dan­ken der Kom­pe­tenz­för­de­rung und der Stan­dards im Posi­ti­ven wie in ihrer Pro­ble­ma­tik so ernst genom­men und so klar for­mu­liert. Dafür gebührt Wer­ner Heil gro­ße Aner­ken­nung. Sei­ne Aus­füh­rung zur Unter­schei­dung von Per­for­manz und Kom­pe­tenz gehö­ren in jedes Semi­nar über Kompetenzorientierung.

Heils eige­nes Modell kon­ter­ka­riert dies jedoch genau an der Stel­le, wo er ver­sucht, mit Hil­fe eines Struk­tur­git­ters des Schü­le­rin­nen und Schü­lern die Basis für wirk­lich trans­fer­fä­hi­ge Fähig­kei­ten zu legen. Indem er die­ses Git­ter abso­lut setzt und es nicht selbst sys­te­ma­tisch mit sei­ner Kon­struk­ti­ons­lo­gik, sei­ner Per­spek­ti­ve, sei­nen Prä­mis­sen und den Fol­gen für his­to­ri­sches Den­ken und Urtei­len zu Gegen­stand der Refle­xi­on macht, läuft er Gefahr, sei­ner­seits indok­tri­nie­rend zu wir­ken, wenn auch auf deut­lich höhe­rem, weil struk­tu­rel­lem, Niveau als etwa die Bil­dungs­stan­dards des VGD.

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Anmer­kun­gen /​ Refe­ren­ces
  1. Ver­band der Geschichts­leh­rer Deutsch­lands.[]
  2. Wer­ner Heil (1988): Das Pro­blem der Erklä­rung in der Geschichts­wis­sen­schaft. Ein Bei­trag zum Selbst­ver­ständ­nis und zur Objek­ti­vi­tät der Geschichts­wis­sen­schaft, Frankfurt/​M.: R. G. Fischer.[]
  3. Heil, Wer­ner (1999): Der stil­le Ruf des Horus­fal­ken. Ist die Geschichts­wis­sen­schaft unhis­to­risch? Mar­bach: Buch­ver­lag Irm­gard Keil.[]
  4. An eini­gen Stel­len erkennt Heil dies durch­aus in sei­ner Rezi­pro­zi­tät an. Vgl. S. 79.[]
  5. Heil bezeich­net lei­der alle Zei­len auch als Spal­ten. Das ver­wirrt etwas[]
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