Anzuzeigen ist ein zugleich wichtiges und problematisches Buch zur aktuellen Debatte um Kompetenzen in der Geschichtsdidaktik und ihrer Umsetzung für den Geschichtsunterricht. Werner Heil, Gymnasiallehrer, Fachseminarleiter und Lehrbeauftragter für Geschichtsdidaktik in Stuttgart hat mit dem ersten Band der neuen Reihe “Geschichte im Unterricht” ein Werk vorgelegt, das in seinem ersten Teil Wesentliches zur Klärung der gegenwärtigen Arbeiten zur Kompetenzorientierung des Geschichtsunterrichts leistet – hoffentlich gerade auch für die Rezipienten dieser Anstrengungen, die Geschichtslehrer. Dieser erste Teil besticht durch die Klarheit, mit der der Gedanke der Kompetenzförderung ernst genommen und zur Grundlage einer gleichzeitig wertschätzenden wie auch urteilsfreudigen Analyse einer Reihe von Lehrplänen wie dreier der bisher vorgelegten Kompetenzmodelle (FUER, Pandel und Sauer/VGD1; leider fehlt Gautschi) gemacht wird. Heil gelingt es, Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Kompetenzmodelle sowohl im Konstruktiven wie auch in darunter liegenden Prämissen und Vorverständnissen deutlich herauszuarbeiten. Besonders hervorzuheben ist die Deutlichkeit, in welcher er die Spezifität kompetenzorientierten Lernens gegenüber anderen Lernkonzepten, gerade auch gegenüber der Lernzielorientierung, herausstellt. Heil nimmt den Charakter von Kompetenzen, allgemein, auf eine Reihe unterschiedlicher Phänomene, Ereignisse, Probleme bzw. Fragestellungen anwendbar zu sein, besonders ernst und kann auf diese Weise sehr deutlich zwischen einer echten Kompetenzorientierung und einem in Kompetenzformulierungen verpackten herkömmlichen Geschichtsunterricht unterscheiden. Auch ist hervorzuheben, dass der Blick “von außen” (sofern man das bei einem Autoren sagen kann, der im gleichen Buch ein eigenes Modell vorlegt) auf die drei analysierten Modelle dazu führt, dass deren Unterscheidungen, aber auch Gemeinsamkeiten in einer etwas anderen Perspektive sichtbar werden, als in der bisherigen Debatte erkennbar wurde. Dass einige der dabei vorgenommenen sachlichen und wertenden Urteile wie auch einzelne Zuordnungen nicht ohne Widerspruch der Autoren der analysierten Modelle und der restlichen Zunft bleiben dürften, tut dem keinen Abbruch.

Der zweite Teil des Buches besteht in der Konstruktion eines eigenen Kompetenzstrukturmodells samt einiger Beispiele seiner Konkretisierung für den Unterricht. Dieses weitere Kompetenzmodell ist deutlich pragmatisch und handhabbar – es führt aber in einer ganz anderen Hinsicht von der Kompetenzorientierung fort, wie zumindest ich (als Mitautor des FUER-Modells) sie verstehe, und wie sie m.E. auch aus der Weinert‘schen Kompetenzdefinition (auf die auch Heil sich bezieht) folgt. Ursache dieser Verfehlung der Kompetenzorientierung ist nicht – wie etwa von Heil den “Bildungsstandards” des VGD bescheinigt – ein Rückfall in einen “lernzielorientierten” Unterricht klassischer Prägung, welcher an konkrete Phänomene gebundene Performanzen fordert (und damit ein ganz konkretes Geschichtsbild vorschreibt), nicht aber transferable Kompetenzen fördert, sondern die Tatsache, dass Heil auf der Grundlage eines anders gelagerten Geschichtsbegriff argumentiert, der nicht zentral narrativ ist, sondern zugleich radikaler und weniger konsequent konstruktivistisch als derjenige, den er (zu Recht) bei der FUER-Gruppe und Pandel diagnostiziert, und dass er auf dieser Basis letztlich seinem eigenen Kompetenzmodell doch wieder ein spezifisches “Geschichtsbild” zu Grunde legt, dessen Übernahme kompetenzhaft modelliert wird. Auch Heils Kompetenzmodell engt – ganz entgegen seiner im ersten Teil erkennbaren Intention – die Möglichkeiten des historischen Denkens der Schülerinnen und Schüler inhaltlich ein. Dieses Urteil bedarf der Erläuterung:

Werner Heil steht auf der Basis einer wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Position, die er bereits in seiner Dissertation2 und einem späteren schmalen Werk3 ausgeführt hat, der narrativistischen Geschichtstheorie, die (nicht nur durch Rüsen, wie Heil behauptet, sondern bereits zuvor von Danto und Baumgartner entwickelt) die deutsche Geschichtsdidaktik seit nunmehr fast 30 Jahren prägt, kritisch (wenn auch nicht gänzlich ablehnend) gegenüber. Sie geht ihm zum einen nicht weit genug in ihrem Konstruktivismus, der vor allem auf den historischen (“narrativen”) Sinn gerichtet ist. Heil betont zu Recht, dass nicht nur narrativer Sinn “konstruiert” werden muss, sondern Wirklichkeit insgesamt.

Dass nicht nur Sinn konstruiert werden muss, sondern Wirklichkeit insgesamt nicht ohne Konstruktionsleistung wahrnehmbar und denk- sowie kommunizierbar ist, wird auch von der narrativistischen Theorie nicht bestritten. Ihr geht es jedoch darum, dass die spezifische Funktion historischen Denkens die sinnhafte Verbindung von Informationen (“Vergangenheitspartikeln” in der FUER-Terminologie) aus bzw. über mindestens zwei Zeitpunkte ist, die aus diesen erst “Geschichte” macht.

Weder der Narrativismus noch Heil gehen davon aus, dass die Konstruktionsleistungen des Gehirns auf der Subjekt (Realien-) noch der Objektseite völlig fiktiv sind. Weder das denkende Gehirn bzw. der historisch denkende Mensch noch die frühere Wirklichkeit sind reine Erfindungen. Ein solches Verständnis würde dazu führen, dass der Orientierungsanspruch von konstruierten Geschichten nicht aufrechtzuerhalten wäre. Sie wären von Literatur und auch reinen Spinnereien nicht mehr zu unterscheiden. Geschichtsdenken, das eine lebensweltliche Orientierungsfunktion erfüllen soll (das wird von Heil geteilt) muss also davon ausgehen, dass das Referenzobjekt der Vergangenheit existiert. Der Unterschied zwischen der narrativistischen Theorie und Heils Erkenntnistheorie besteht nun darin, dass erstere deutlich zwischen “Vergangenheit” und “Geschichte” unterscheidet. Ihr zufolge wird erst durch das Erzählen, durch die konstruktive Verbindung von Informationen über mindestens zwei Zeitpunkte (wobei die Art und Weise, wie diese Zeitpunkte gedacht bzw. begrifflich gefasst werden, wiederum nicht vorgegeben, sondern konstruktiv erstellt ist) macht sie zur “Geschichte”. Daher gibt es nicht eine Geschichte – nicht einmal als Kollektivsingular, schon gar nicht außerhalb der denkenden Subjekte. Wie immer die Zustände der Vergangenheit(en) aufeinander gefolgt sind – jegliche Verbindung zwischen ihnen ist nur denkbar durch Rückgriff auf vorgängige, nicht in der vergangenen Wirklichkeit (allein) zu verankernden Konzepten von Zeitverläufen, seien es Kausal-, Final-, Beispiel-Ausnahme- oder auch nur rein temporale Beziehungen (davor-danach, zeitgleich etc.). Bei Heil hingegen gibt es die Geschichte auch vor dem Denken. Sie existiert und wirkt. Die Notwendigkeit einer Trennung von “Vergangenheit” und “Geschichte”, wie in der englischen Geschichtstheorie etwa so deutlich von Keith Jenkins herausgearbeitet wurde, existiert für ihn nicht. Letztlich bezieht sich der Konstruktionscharakter lediglich auf “unser Wissen von ihr”. Dies ist ein Widerspruch in der Erkenntnistheorie.

Diese anders gelagerte Epistemologie des historischen wäre weniger problematisch, wenn sie sich nicht an zentraler Stelle in konkreten Setzungen niederschlagen würde.

Zunächst noch zu einer Stärke von Heils Radikalität, den Konstruktcharakter für die Wirklichkeit insgesamt, nicht nur für den “Sinn” einzufordern: Wie schon in “Der stille Ruf des Horusfalken” radikalisiert Heil mit diesem Konzept die Denkmöglichkeit andersartiger Lebenswelten. Fremdverstehen ist ihm zufolge (zu Recht) nur dann möglich, wenn wir nicht unsere Wirklichkeit und ihre Konzepte an die uns in zufälligen Überresten und Traditionen begegnenden vergangenen Lebenswelten herantragen und mit ihnen diesen einen Sinn abzugewinnen suchen, sondern wenn wir anerkennen (und das ist mehr als ertragen), dass Menschen in anderen Zeiten die Welt ganz anders wahrgenommen haben – eben bis hin zur Art und Weise, wie sie “Wirklichkeit” konstruieren (S. 66). Diesen Gedanken radikalisiert Heil in einem Modell, dem zufolge Menschen  nicht nur theoretisch, sondern ganz konkrezt zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlicher Form unterschiedliche Wirklichkeiten gelebt haben. Entscheidend ist für ihn dabei das wechselnde Verhältnis zwischen “Sinnes-” und “Begriffserleben”. Ersteres sei für die Neuzeit und Gegenwart dominant, letzteres für die Vor- und Frühgeschichte, Antike und Mittelalter seien durch ein ausgewogenes Verhältnis beider gekennzeichnet.

Hinsichtlich des Anspruchs, eine radikal andere Wirklichkeit (zeitlich, aber vielleicht auch kulturell) anderer Menschen ernst zu nehmen und anzuerkennen, ist das weiterführend. Indem Heil dieses Modell aber zur Grundlage seiner Geschichtstheorie macht, wird es problematisch. Letztlich ist nämlich auch seine grobe Geschichte der “Entwicklung des Erkenntnisvermögens” der Menschheit genau das – eine Geschichte, die mit Hilfe gegenwärtiger Konzepte und Kategorien erstellt ist, und die Orientierung in der Vielfalt der Vergangenheit(en) geben soll. Dass in der Vor- und Frühgeschichte die Menschen stärker “geistig-begrifflich” erlebt haben, ist eine Hypothese, eine Konstruktion – aber selbst noch keine Wirklichkeit. Ob und inwiefern die Konzepte (Begriffe) “Geist” und “Begriff” ihrem Denken gerecht werden, kann eben nicht ohne Rückgriff auf eine narrative Fassung geklärt werden, weil wir diese Menschen nicht selbst synchron befragen können. Das Konzept, mit dem Heil (in Der stille Ruf des Horusfalken) die Wirklichkeit der Konstruierenden (Gehirne) historisch klären will, ist eben selbst wieder Produkt eines solchen (elaboriert) historischen Denkenden Gehirns.

Wir kommen letztlich nicht aus der Situation heraus, dass wir über Vergangenes nur etwas aussagen können, wenn es die Form einer Narration annimmt – das ist genau die Position, die Heil verwirft. Selbst die Formulierung von der “Entwicklung der Erkenntnisfähigkeit des Menschen” ist bereits eine solche Proto-Narration, die ohnedies nicht automatisch triftig ist. Vor der (historischen – auch dies eine narrative Erklärung!) Entwicklung des Konzepts der genetischen Veränderung wäre diese Auffassung undenkbar gewesen. Und selbst heutzutage ist nicht zweifelsfrei geklärt, inwiefern die Sinnes-Ausstattung des Menschen und seine körperlichen Funktionen überhaupt “variabel” sind.

So weit das erkenntnistheoretische Problem. Zum Problem der Kompetenzorientierung wird es dort, wo Heil in seinem Strukturgitteransatz “Domänen” der Geschichte strukturiert und mit den Kompetenzen verschränkt (S. 71ff):

Unter “Domänen” versteht Heil wesentliche Substrukturen der Gesamtdomäne “Geschichte”. Er nennt deren neun: “Herrschaft”, “Gesellschaft”, “Recht”, “Wirtschaft”, “Krieg”, “Selbstverständnis”, “Religion”, “Wissenschaft”, “Wirklichkeit”. Wegen der üblichen Verwendung des Begriffs “Domäne” in der kognitiven Psychologie für breitete Bereiche (etwa “Geschichte” insgesamt) wäre hier wohl besser von “Sektoren” die Rede. Das ist aber nicht schlimm. Auch sei zugestanden, dass hier eine begrenzte und zudem (eingestandenermaßen) eurozentrische Einteilung vorliegt, über die gestritten werden kann und wohl auch muss (inwiefern etwa “Geschlecht”, “Umwelt”, “Lebensform” mit Familie etc. ergänzt werden können oder müssen, sei hier noch anheimgestellt). Ebenfalls sinnvollerweise definiert Heil für die “Orientierungskompetenz” jedes dieser Bereiche einen Satz typologisch-kategorialer Begriffe, die die Domäne erschließen. Für “Herrschaft” etwa sind diese “Theokratie”, “Aristokratie” und “Demokratie”, für “Gesellschaft”: “kollektive Gesellschaft”, “Ständegesellschaft”, “bürgerliche Gesellschaft”, für “Religion”: “Polytheismus”, “Monotheismus” und “Religionsfreiheit, Atheismus” usw. Das lässt sich sicherlich ergänzen und differenzieren, ist so jedenfalls nicht unsinnig.

Problematisch wird nun die Konstruktion der “Kompetenzen”: Heil ordnet diese Begriffe nämlich im Sinne einer Chronologie an. Ein Strukturgitter zeigt zudem die Zusammenhänge zwischen ihnen an (Demokratie gehe mit Individualismus einher und Rechtsgleichheit). Damit sind sicherlich wesentliche Einsichten in Zusammenhänge formuliert. Diese zu erwerben, kann in der Tat als Lernfortschritt angesehen werden. Was das Modell dann aber nicht leistet, ist die Befähigung zur Reflexion dieser Konstruktion selbst (denn um eine solche handelt es sich).

Letztlich gibt das Modell einen allgemeinen Fortschrittsgedanken vor, den historisch kompetente Menschen kennen sollten, den sie aber auch infragestellen und reflektieren können müssen. Anders gesagt: Wer heutzutage nicht akzeptiert, dass “Religionsfreiheit/Atheismus” eine höhere, weil fortgeschrittenere Stufe der Geschichtsentwicklung darstellt als “Monotheismus” und gar “Polytheismus”, wird mit Hilfe dieses Modells nicht als kompetent angesehen werden können. Dass zur Marktwirtschaft nicht “Monotheismus” sondern “Religionsfreiheit/Atheismus” passt, lässt sich argumentieren – aber auch umgekehrt (weite Teile der CDU könnten diesem Modell zufolge nicht historisch kompetent sein).

Das Problem dieses Modells ist es, dass es Kompetenz und Übernahme einer ganz konkreten Geschichtsauffassung mit einem westlich-modernen Fortschrittskonzept koppelt. Querliegendes Geschichtsdenken dürfte demnach gerade nicht kompetent sein.

Damit sei nicht gesagt, dass das Strukturgitter unsinnig ist – im Gegenteil. Schüler(innen), die im Geschichtsunterricht anhand konkreter historischer Phänomene, Ereignisse, Strukturen, lernen, mit Hilfe dieses Strukturgitters andere historische Phänomene selbstständig zu beurteilen, und nicht so sehr die im Unterricht thematisierten (“durchgenommenen”) Einzelheiten selbst memorieren und deren Addition für “Geschichtsbewusstsein” halten, sind in einem ganz spezifischen Sinne kompetent. Wer so gelernt hat, ist sicherlich in der Lage selbstständig zu denken. Das Problem dabei ist, dass das Koordinatensystem dieses Denkens, das Strukturgitter (welches Heil selbst als modellhaft, nicht als Abbild von Wirklichkeit verstanden willen will), nicht systematisch in den Horizont der Reflexion einbezogen wird. Die Kompetenz, die Heil mit diesem Modell fördert, ist somit nicht diejenige des historischen Denkens, sondern diejenige, auf der Basis eines spezifisch europäisch-modernen Geschichtsbildes und Fortschrittskonzepts letztlich beliebige historische Phänomene in eben dieses Konzept einzuordnen. Es ist die Kompetenz, Geschichte “westlich” zu denken.

Das ist nicht ohne Ironie, weil es ja gerade Heil ist, der im “Stillen Ruf des Horusfalken” und darauf basierend auch hier wieder, die radikale Bereitschaft zum historischen Perspektivenwechsel einfordert (und ansatzweise modelliert), indem er völlig andere Wirklichkeitsmodelle anerkennt. Diese Bereitschaft zur Anerkennung anderer Konstruktionen müsste dann aber auch für die Konstruktion der Zusammenhänge zwischen (immerhin mit dem eigenen Instrumentarium an Methoden, Kriterien, Konzepten und Kategorien) festgestellten und bezeichneten Phänomenen gelten. Diese Inkonsequenz ist im Übrigen durchaus erklärbar: Der bewundernswerten Bereitschaft, radikale andere Wirklichkeitskonzepte anzuerkennen und gelten zu lassen, steht die erkenntnistheoretische Problematik gegenüber (nicht: entgegen), dass wir auch diese letztlich immer mit unseren Begriffen und Konzepten modellieren müssen. Die im Stillen Ruf des Horusfalken postulierten anderen Wirklichkeitsvorstellungen sind eben nicht diejenigen der Vergangenheiten, mit der sich die Geschichtswissenschaft jeweils beschäftigt, sondern ihre eigenen Re-Konstruktionen. Heil gerät hier an die Grenze des Fremdverstehens – oder genauer: an die Grenze zwischen der Möglichkeit, Fremdes anzuerkennen (recognition) und der Unmöglichkeit, es in und aus sich selbst heraus zu verstehen. Auch das radikal Fremde muss letztlich aus der eigenen Perspektive heraus modelliert werden.4

Indem Heil nun diese Forderung nach Anerkennung fremder Wirklichkeitskonstruktionen (seine detailreichen Beispiele im Kompetenzmodell sind aber solche synchroner Art, nämlich des gegenwärtigen Japan) in ein Kompetenzmodell einbaut, dessen Zusammenhangskonstruktionen (S. 73) selbst nicht derart radikal als eigenperspektivisches Konstrukt reflektiert werden, gerät es in die Gefahr der Indoktrination. Konkret: Ist es wirklich Ausdruck historischer Kompetenz, die göttliche Stellung des Tenno in der japanischen Kultur als Ausdruck eines “Aus-der-Zeit-Seins” dieser japanischen Kultur zu werten, die Möglichkeit von “Theokratie” und Marktwirtschaft aufgrund der unterschiedlichen Positionierungen im Strukturgitter zu verneinen? Ihre Koexistenz im Japan der Vorkriegszeit wäre somit typologisch unverträglich. Erkennt Heil das im Fall Japans implizit noch mit Verweis auf die kulturell andere Wirklichkeitskonstruktion der Japaner an, gerät das Modell gerade im Fall Europas an seine Grenzen: Ebenso wie für Japan passe Theokratie aufgrund des anderen Wirklichkeitsverständnisses für die Alten Hochkulturen “in die Zeit”, dem Absolutismus, den Diktaturen des 20. Jahrhunderts müsse aufgrund ihres Systembruches jedoch die “Daseinsberechtigung” abgesprochen werden (92). Damit ist in der Tat eine Urteilsfähigkeit erreicht: Schüler(innen), die gelernt haben, das Strukturgitter Heils anzuwenden, können “erkennen, wann Phänomene typisch oder untypisch auftreten” und bei “Unlogik” eine “politische und soziale Unverträglichkeit” diagnostizieren, die zu “Widerspruch und -stand” herausfordere. Aber zu was für Urteilen werden Schüler(innen) so befähigt? Historische Phänomene werden somit zwar weder allein nach gegenwärtigen Moralstandards, in verkürztem Historismus nur in ihrem eigenen Horizont beurteilt – insofern vermeintlich ein Gewinn. Aber eben nur vermeintlich: Urteilsbasis ist auch hier die gegenwärtige Systemlogik modernen europäischen Denkens à la Werner Heil: Was systemtreu ist, ist gut (gewesen), was systemfremd, schlecht. Despotie und Tyrannis in der Antike sind demnach anders zu beurteilen als Diktatur in der Neuzeit. Einerseits stimmt das ja auch. Gegenwärtige Normen gelten für Vergangenes nicht unumschränkt. Aber ist deshalb alles Vergangene “gut”, wenn es “systemgerecht” war und alles Gegenwärtige nur dann “schlecht” oder “böse”, wenn es “untypisch” ist? Mir scheint, hier wird die Eigenheit des historischen Denkens geradezu aufgehoben: Wer so urteilen lernt, steht gar nicht mehr vor dem Problem des historischen Verstehens und Urteilens: Was typologisch zu verstehen ist, ist auch so zu beurteilen. Heißt das, dass der Nationalsozialismus und der Faschismus, aber auch der Stalinismus nur deshalb keine Daseinsberechtigung hatten, weil sie zu spät kamen, weil sie in ihrer Zeit untypisch waren? Nicht auch deswegen, weil sie einem Menschenbild widersprachen (und in ihren Existenznischen) widersprechen, das wir nicht ohne Grund als universell denken. Heil gibt hier ohne Not das Regulativ der Idee der Menschheit und der universalen Normen auf.

Hier zeigt sich das ganze Problem: Heil zufolge besteht historisches Urteilen eben nicht darin, die Zeitqualität in ihrer Spannung zwischen Zeitgenössischem und Heutigem zu reflektieren und denkend immer neu zu verbinden zu einem eigenen Urteil. Vielmehr besteht das Urteilen bei Heil in der Applikation eines selbst als zeitübergreifend gedachten Schemas. Passend oder nicht? Weiter geht das historische Denken und Urteilen dort nicht.

Interessant an Heils Modell ist allerdings, dass es selbst als Beispiel für die Logik des konkurrierenden (und von ihm partiell sehr positiv besprochenen) FUER-Modell fungieren kann: Das Strukturgitter Heils kann gedacht werden als eine komplexe Form gegenwärtiger gesellschaftlicher Konventionen, solcher nämlich, die das europäisch-westlich-moderne Selbstverständnis und seines Geschichtsbildes strukturell fassen. Im Strukturgitter drücken sich in kategorialer Weise wesentliche Charakteristika des sozialen, politischen und (in der Zusammenschau der Spalten einer Zeile5) historischen Selbstverständnisses heutiger westlicher Gesellschaften. Über diese Konzepte und Kategorien zu verfügen und mit ihnen umgehen zu lernen, ist somit in der Tat wesentliches Ziel historischen Lernens, und die Fähigkeit, mit Hilfe dieses Gitters wie seiner Bestandteile danach zu fragen, inwiefern Phänomene typisch oder untypisch sind, ist durchaus Ausweis einer gewissen Kompetenz – aber (bei aller Komplexität) allenfalls auf dem intermediären Niveau: Wer hier stehen bleibt, lernt eben nichts anderes, als andere Kulturen und Zeiten im Verhältnis zu unserem westlichen Verständnis einzuordnen, und das dieser Perspektive strukturell “fremd” Erscheinende zu verurteilen. Allenfalls (auch das wäre ein Ausweis dieses mittleren Niveaus) könnte man unter Anwendung dieses Modells seiner Irritation Ausdruck verleihen, eigene Fragen stellen.

Nötig wäre aber gerade hier die Elaboration des Umgangs mit diesem (und anderen, konkurrierenden) Strukturgittern – die Reflexion ihrer Modellhaftigkeit, ihrer Perspektive, ihrer Herkunft aus systemlogischem Denken usw. Wer historisch elaboriert kompetent sein will, dem schadet die Verfügung über alle Konzepte Heils gar nichts – im Gegenteil, aber sich allein auf sie zu verlassen, sie nur anzuwenden, bedeutete doch, nicht wirklich selbst auf elaboriertem Niveau urteilsfähig zu sein.

Unter Einbau des Graduierungskonzepts der FUER-Gruppe erhält Heils Strukturgittermodell Kompetenzcharakter: erst dann nämlich geht es um die Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft sowie die Zuständigkeit des Lernenden, sein historisches Denken selbst-reflexiv zu vollziehen.

Fazit

Alles in allem ist Heils Buch äußerst zweigeteilt zu beurteilen: Selten hat jemand in der bisherigen Debatte den Grundgedanken der Kompetenzförderung und der Standards im Positiven wie in ihrer Problematik so ernst genommen und so klar formuliert. Dafür gebührt Werner Heil große Anerkennung. Seine Ausführung zur Unterscheidung von Performanz und Kompetenz gehören in jedes Seminar über Kompetenzorientierung.

Heils eigenes Modell konterkariert dies jedoch genau an der Stelle, wo er versucht, mit Hilfe eines Strukturgitters des Schülerinnen und Schülern die Basis für wirklich transferfähige Fähigkeiten zu legen. Indem er dieses Gitter absolut setzt und es nicht selbst systematisch mit seiner Konstruktionslogik, seiner Perspektive, seinen Prämissen und den Folgen für historisches Denken und Urteilen zu Gegenstand der Reflexion macht, läuft er Gefahr, seinerseits indoktrinierend zu wirken, wenn auch auf deutlich höherem, weil strukturellem, Niveau als etwa die Bildungsstandards des VGD.

==Anmerkung: Vor Umstellung der Blogfarm war der Beitrag erreichbar unter der URL: http://koerber2005.erzwiss.uni-hamburg.de/wordpress-mu/historischdenkenlernen/tag/genetische-sinnbildung/#pandel2002

  1. Verband der Geschichtslehrer Deutschlands. []
  2. Werner Heil (1988): Das Problem der Erklärung in der Geschichtswissenschaft. Ein Beitrag zum Selbstverständnis und zur Objektivität der Geschichtswissenschaft, Frankfurt/M.: R. G. Fischer. []
  3. Heil, Werner (1999): Der stille Ruf des Horusfalken. Ist die Geschichtswissenschaft unhistorisch? Marbach: Buchverlag Irmgard Keil. []
  4. An einigen Stellen erkennt Heil dies durchaus in seiner Reziprozität an. Vgl. S. 79. []
  5. Heil bezeichnet leider alle Zeilen auch als Spalten. Das verwirrt etwas []