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In der letz­ten Woche erschien in der FAZ (Online) ein Arti­kel des Müns­te­ra­ner Islam­wis­sen­schaft­lers und Ara­bis­ten Tho­mas Bau­er, in wel­chem er den Begriff des Mit­tel­al­ters kri­ti­sier­te und zur Dis­po­si­ti­on stell­te: Bau­er, Tho­mas (23.8.2018): “Was den Blick ver­stellt. Der Ori­ent und das Mit­tel­al­ter.” In: Frank­furt All­ge­mei­ne Zei­tung (Online); 23.8.2018.

Bau­er wen­det sich dar­in nicht allein gegen eine Anwen­dung des Begriffs “Mit­tel­al­ter” auf die isla­mi­sche Welt, son­dern erklärt ihn auch für Euro­pa für nicht nur unbrauch­bar, weil die mit ihm gesetz­ten “Epochen”-Grenzen 1 schlecht begrün­det sei­en, inso­fern wesent­li­che für die­se Abgren­zung her­an­ge­zo­ge­ne Ände­run­gen (1) deut­lich frü­her begon­nen hät­ten, (2) zeit­lich über die Ein­gren­zung hin­aus­reich­ten, oder (3) die Lebens­wirk­lich­keit nur weni­ger Men­schen betra­fen. Die heu­te als “Mit­tel­al­ter” zusam­men­ge­fass­ten Jahr­hun­der­te sei­en viel­mehr als eine “for­ma­ti­ve Peri­ode”, als ein Über­gang zwi­schen der Anti­ke und der Neu­zeit zu ver­ste­hen — nicht ein­heit­lich und abge­schlos­sen genug, um als eige­ner Abschnitt zu gelten.

Bau­er geht damit über eine älte­re Linie der Kri­tik am Mit­tel­al­ter-Begriff deut­lich hin­aus, die u.a. die Kon­tin­genz der Abgren­zungs­kri­te­ri­en und die regio­na­le Varia­bi­li­tät der zeit­li­chen Abgren­zun­gen umfass­te, wie etwa — neben vie­len ande­ren Aspek­ten — bei Peter von Moos in sei­nem Bei­trag von 1999 über die “Gefah­ren des Mit­tel­al­ter­be­griffs” 2.
Anders als von Moos aber spricht sich Bau­er nicht für eine fort­ge­setz­te Nut­zung unter deut­li­cher Kenn­zeich­nung des Kon­tex­tes und der eige­nen Ver­wen­dung 3, son­dern eigent­lich für eine Über­win­dung und Auf­ga­be des Mit­tel­al­ter­be­griffs aus. Der bei Öff­nung des o.a. Tex­tes in einem Brow­ser sicht­ba­re Fens­ter­ti­tel lau­tet denn auch: “War­um man sich vom Begriff ‘Mit­tel­al­ter’ ver­ab­schie­den sollte.”
Damit greift er eine radi­ka­le Linie auf, die auch schon Ber­hard Jus­sen 2016 in Geschich­te in Wis­sen­schaft und Unter­richt 4, und zuvor Hart­mut Boock­mann und Karl-Fer­di­nand Wer­ner vor­ge­tra­gen hat­ten 5.

Wie Jus­sen 6 argu­men­tiert nun auch Bau­er, dass der Begriff des Mit­tel­al­ters nicht nur sub­op­ti­mal und unein­deu­tig sei, son­dern “es gera­de­zu ver­bie­te[.], die Regi­on in der Zeit zwi­schen dem Ende des West­rö­mi­schen Reichs 476 und dem Ers­ten Kreuz­zug 1096 noch als Gan­zes in den Blick zu neh­men” (Bau­er 2018). Und wäh­rend Jus­sen abs­trakt meint, es wäre am bes­ten, “For­schung und Leh­re” hör­ten “fürs ers­te schon mal damit auf, mit Makro­kon­zep­ten zu arbei­ten, deren Dekon­struk­ti­on ihnen längst selbst­ver­ständ­lich ist.” Es sei “sehr ein­fach, die Wor­te “Mit­tel­al­ter” und “Neu­zeit” durch bes­se­res zu erset­zen” 7, legt Bau­er einen kon­kre­ten Vor­schlag vor: “Damit ergä­be sich fol­gen­de Epo­chen­glie­de­rung: Die roma­no-grae­co-ira­ni­sche Anti­ke geht um 250 nach Chris­tus in eine Spät­an­ti­ke über, die um 1050 groß­räu­mig in eine neue Epo­che ein­tritt, wel­che wie­der­um bis etwa 1750 andau­ert” 8.

Ein gewis­ser Wider­spruch oder zumin­dest ein Span­nungs­ver­hält­nis ist in Bau­ers Kon­zept­ge­brauch erkenn­bar, inso­fern er einer­seits danach fragt, “wie sich die Geschich­te […] sinn­voll [!] in Peri­oden ein­tei­len” lässt, dass sie für die gan­ze Regi­on Gel­tung haben”, Epo­chen also Kon­zep­te anspricht, die retro­spek­tiv von die Zei­ten und Wand­lun­gen betrach­ten­den His­to­ri­kern unter Nut­zung von Sinn­kri­te­ri­en gebil­det und ange­wandt wer­den, gleich­zei­tig aber aber durch­aus von “einer tat­säch­li­chen Epo­chen­gren­ze” spricht, die “in [!] vie­len Regio­nen wie­der­um um das elf­te Jahr­hun­dert her­um zu suchen [!]” sei.

Nach eini­gen Über­le­gun­gen zu via­blen Kri­te­ri­en und Begrün­dun­gen zur Abgren­zung des Mit­tel­al­ters an sei­nem Anfang und Ende ver­weist Bau­er auf Jac­ques LeG­offs Kri­tik ins­be­son­de­re an des­sen Abgren­zung zur “Neu­zeit” und wird dann wie­der grund­sätz­li­cher. Erst die Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on (mit der Napo­leo­ni­schen Zeit) sei von (zumin­dest vie­len) Zeit­ge­nos­sen selbst als “epo­cha­ler Über­gang” wahr­ge­nom­men wor­den: “Alle frü­he­ren Epo­chen­gren­zen sind nur Kon­struk­te von Historikern.”

Damit kommt ein wei­te­res Motiv ins Spiel, dem­zu­fol­ge Epo­chen­gren­zen nicht retro­spek­tiv (weder nach erst im Rück­blick erkenn­ba­ren “objek­ti­ven” Kri­te­ri­en noch nach sich aus der gegen­wär­ti­gen Fra­ge­stel­lung abge­lei­te­ten), son­dern aus der Wahr­neh­mung der Zeit­ge­nos­sen her­aus defi­niert werden.

Epo­chen­gren­zen wer­den somit zwar nicht als in der Ver­gan­gen­heit selbst, gewis­ser­ma­ßen vom Gegen­stand vor­ge­ge­ben, defi­niert, wohl aber wird gefor­dert, dass aus der Per­spek­ti­ve der jewei­li­gen Zeit wahr­ge­nom­men bzw. gedacht wer­den müs­sen. Das ist eine Vari­an­te der his­to­ris­ti­schen Vor­stel­lung, jede Zeit nur aus sich her­aus ver­ste­hen zu kön­nen bzw. zu sol­len, und steht somit neue­ren Kon­zep­ten his­to­ri­schen Den­kens und his­to­ri­scher For­schung, spe­zi­fisch retro­spek­tiv zu sein, entgegen.

Die Kri­tik am Mit­tel­al­ter­be­griff muss aber wohl in min­des­tens zwei in kom­ple­xer Wei­se auf­ein­an­der ver­wie­se­ne Lini­en unter­glie­dert wer­den: 1) in eine eher “inhalt­li­che” Kri­tik, wel­che die Impli­ka­tio­nen der Rede von (bes­ser: des Den­kens in) sol­chem Begriff in den Mit­tel­punkt stellt und alter­na­ti­ve Epo­chen­glie­de­run­gen erar­bei­tet und vor­schlägt, die die­se ablö­sen (oder viel­leicht auch ergän­zen) sol­len – wie hier.
Dane­ben bedarf es aber drin­gend auch einer all­ge­mei­ne­ren Refle­xi­ons­ebe­ne 2), für die die Kri­tik am Mit­tel­al­ter­be­griff oft schon als tri­vi­al ange­se­hen wird: An ihm (gera­de auch stell­ver­tre­tend für ande­re Epo­chen- und Struk­tur­be­grif­fe) auf­zu­zei­gen, dass sol­che Begrif­fe „kon­stru­iert“ sind, nur im Rück­blick über­haupt denk­bar, inso­fern sie retro­spek­ti­ves Wis­sen benö­ti­gen („kein Mensch des Mit­tel­al­ters wuss­te, dass er in einem ‚Mit­tel­al­ter‘ leb­te“ etc.), ist mei­ner Erfah­rung nach nicht nur für schu­li­schen Geschichts­un­ter­richt, son­dern auch in der Uni­ver­si­tät immer wie­der nötig, wer­den die­se Kon­zep­te doch nicht nur von Stu­die­ren­den, son­dern auch von amt­li­chen Vor­ga­ben als qua­si gege­be­ne, unfrag­li­che Glie­de­run­gen benutzt – so auch in den „Län­der­ge­mein­sa­men Anfor­de­run­gen für die Leh­rer­bil­dung“ der KMK im Fach­pro­fil Geschich­te (2008 bis 2017). Die­se ver­lan­gen von den Lehr­amts­stu­die­ren­den nicht nur ein­fach die Ver­fü­gung über „struk­tu­rier­tes his­to­ri­sches Grund­wis­sen aus allen his­to­ri­schen Epo­chen“ KMK 2017, S. 32; vgl. S. 33), son­dern las­sen zudem jeg­li­che Anfor­de­rung auf die Refle­xi­on von Epo­chen­be­grif­fen als dis­zi­pli­nä­re Instru­men­ta­ri­en ver­mis­sen. Weder sol­len Lehr­amts­stu­die­ren­de also über die Kon­struk­ti­on sol­cher Begrif­fe aus der Retro­spek­ti­ve, noch über ihre Deu­tungs­wir­kung, Uni­for­mi­tät nach Innen und Abgren­zung zu vor­aus­lau­fen­den und nach­fol­gen­den „Epo­chen“ zu erzeu­gen, nach­den­ken – aber offen­kun­dig auch nicht über ihre „inhalt­li­chen“ Kon­se­quen­zen, wie sie hier (und bei Jus­sen) pos­tu­liert werden.
Es wäre gera­de kei­ne Lösung, den Begriff des Mit­tel­al­ters abzu­schaf­fen, ihn zu ver­mei­den, ihn aus den Lehr­plä­nen gänz­lich zu strei­chen, oder auch nur, sei­ne Nut­zung auf die­je­ni­gen Räu­me zu begren­zen, für die sol­che nega­ti­ven Wir­kun­gen noch nicht vor­ge­bracht wären, und ihn durch bes­se­re Begrif­fe und Peri­odi­sie­run­gen zu ersetzen.
Gera­de weil uns und den Schü­le­rin­nen und Schü­lern das Kon­zept in der Geschichts­kul­tur (und der For­schung) stän­dig begeg­net, darf es nicht aus dem Geschichts­un­ter­richt ver­schwin­den. ABER es muss sei­nen STATUS ändern. Es muss – ganz ähn­lich wie die Chro­no­lo­gie selbst – vom unfrag­li­chen, weit­ge­hend unthe­ma­ti­sier­ten, impli­zi­ten Ord­nungs­in­stru­men­ta­ri­um zum expli­zi­ten Gegen­stand von Ler­nen und Refle­xi­on wer­den. Nicht (nur) „Kennt­nis­se in Mit­tel­al­ter­li­cher Geschich­te“ gilt es zu ver­mit­teln, son­dern eine Ver­fü­gung über den Begriff, die Leis­tun­gen und Gren­zen (bzw. „Gefah­ren“; von Moos 1999) des Begriffs, sei­ne Her­kunft, und sei­ne Pas­sung reflektiert.

Anmer­kun­gen /​ Refe­ren­ces
  1. Der Begriff der epo­ché bezeich­net eigent­lich ja nicht den ein­ge­heg­ten Zeit­ab­schnitt, son­dern den unter­tei­len­den Ein­schnitt []
  2. Moos, Peter von (1999): Gefah­ren des Mit­tel­al­ter­be­griffs. Dia­gnos­ti­sche und prä­ven­ti­ve Aspek­te. In: Joa­chim Heinz­le (Hg.): Moder­nes Mit­tel­al­ter. Neue Bil­der einer popu­lä­ren Epo­che. 1. Aufl. Frank­furt am Main, Leip­zig: Insel-Ver­lag (Insel-Taschen­buch, 2513 : Geschich­te), S. 31 – 63. []
  3. von Moos, S. 58 []
  4. Jus­sen, Bern­hard (2016): Rich­tig den­ken im fal­schen Rah­men? War­um das ‘Mit­tel­al­ter’ nicht in den Lehr­plan gehört. In: GWU 67 (9÷10), S. 558 – 576. — man beach­te den Unter­ti­tel![]
  5. Auch refe­riert bei Jus­sen 2016, 560 []
  6. Mit Rudolf Leon­hard: “Wer falsch spricht, denkt falsch.”; Jus­sen 2016, S. 576. []
  7. Jus­sen 2016, S. 576 []
  8. Bau­er 2018 []
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