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[wird wei­ter ergänzt]:
Fra­gen eines Geschichts­di­dak­ti­kers zur Nut­zung der “Leich­ten Spra­che” für das inklu­si­ve his­to­ri­sche Lernen:

Bet­ti­na Zur­stras­sen hat — neben ihrer Kri­tik an man­geln­der empi­ri­scher Über­prü­fung der Wir­kun­gen der Ver­wen­dung Leich­ter Spra­che —  dar­auf hin­ge­wie­sen, dass

  • sprach­li­che Ver­ein­fa­chun­gen auch inhalt­li­che Ver­ein­fa­chun­gen bedeu­ten können,
  • durch die Über­tra­gung von Tex­ten in Leich­te Spra­che auch unbe­ab­sich­tig­te Ver­än­de­run­gen des Sinn­ge­halts nicht zu ver­mei­den sind,
  • durch die Nut­zung der Leich­ten Spra­che sogar das Ziel der Inklu­si­on kon­ter­ka­riert wer­den kann, indem Men­schen auf den letzt­lich restrin­gier­ten Sprach­stil (und die damit restrin­gier­ten Mög­lich­kei­ten von Dif­fe­ren­zie­run­gen) hin sozia­li­sert wer­den könn­ten. 1

Ein paar Beispiele:

  1. In einer Haus­ar­beit zu einer Prak­ti­kums­er­fah­rung reflek­tiert eine Stu­die­ren­de Bedin­gun­gen und Mög­lich­kei­ten sowie Erfah­run­gen mit dem Ein­satz “Leich­ter Spra­che”, um Schüler(innen) mit För­der­be­darf (nicht nur Spra­che, son­dern auch Ler­nen) die Betei­li­gung an einem Ler­nen zu einem gemein­sa­men Gegen­stand zu ermög­li­chen. In einer Unter­richts­ein­heit an einer Stadt­teil­schu­le wur­de fol­gen­de Dar­stel­lung verwendet:

    “Die Volks­ver­samm­lung kann auch  ein Scher­ben­ge­richt durch­füh­ren. Es droht beson­ders ehr­gei­zi­gen Poli­ti­kern, die die Allein­herr­schaft anstre­ben. Die Bür­ger rit­zen dazu den Namen eines Poli­ti­kers, den sie für gefähr­lich hal­ten, auf eine Ton­scher­be. Es sind Bruch­stü­cke von Ton­ge­fä­ßen, die als Stimm­zet­tel benutzt wer­den. Wer­den min­des­tens 6000 Ton­scher­ben abge­ge­ben, muss der­je­ni­ge, des­sen Namen min­des­tens 3001-mal auf­tauchtz, die Stadt für 10 Jah­re ver­las­sen. Der Poli­ti­ker ver­liert aller­dings nicht sein Anse­hen und sein Ver­mö­gen. Das Schre­ben­ge­richt dient dazu, die Macht von ein­zel­nen Poli­ti­kern einzuschränken.”

    In einer nur ansatz­wei­se auf Leich­te Spra­che pro­fi­lier­ten Fas­sung sah der Text dann wie folgt aus:

    “In Athen gab es ein Scher­ben­ge­richt. Das soll­te die Macht ein­zel­ner Poli­ti­ker ein­schrän­ken. Ton­scher­ben wur­den als Stimm­zet­tel benutzt. Wer gewählt wur­de, muss­te Athen für 10 Jah­re verlassen.”

    bzw. in (nach­träg­lich) noch ver­bes­ser­ter Form:

    “Bei den Grie­chen in Athen gibt es ein Scherben-Gericht.
    Die Macht von einem Poli­ti­ker soll begrenzt werden.
    Ton-Scher­ben sind die Stimm-Zettel.
    Der Gewähl­te muss Athen für 10 Jah­re verlassen.”

An die­sem Bei­spiel las­sen sich eini­ge Pro­ble­ma­ti­ken auf­zei­gen — und ggf. eini­ge Ansät­ze, ihnen zu begeg­nen, um eine Ver­let­zung der Wesens­ge­halts­ga­ran­tie zu vermeiden:

  • Die Nut­zung des Prä­sens. Die letz­te Fas­sung des Bei­spiel­texts, die sehr weit­ge­hend mit den Regeln für leich­te Spra­che über­ein­stimmt 2, steht (regel­kon­form) im Gegen­satz zur nur ansatz­wei­se ver­ein­fach­ten zwei­te Fas­sung im Prä­sens. Dies ist ein viel­schich­ti­ges Problem: 
    • Damit wird der zeit­li­che Hori­zont des behan­del­ten Zusam­men­hang ver­un­klart. Gegen­über der Aus­sa­ge “In Athen gab es ein Scher­ben­ge­richt” fehlt in der leich­ten Fas­sung die Mar­kie­rung dar­auf, dass es sich um einen ver­gan­ge­nen Zustand handelt.Die Aus­sa­ge wir a‑historisch.
    • Ange­sichts der aner­kann­ten gram­ma­ti­schen Form des his­to­ri­schen Prä­sens nicht nur unter ver­ein­fach­ten Sprach­be­din­gun­gen, son­dern als gera­de­zu ela­bo­rier­tes Stil­mit­tel, mag man das für neben­säch­lich hal­ten — zumal ja auch der aus­führ­li­che Text, der zum Aus­gangs­punkt der Ver­ein­fa­chung genom­men wur­de, im Prä­sens steht.
    • Aller­dings nimmt das die Sache zu ein­fach: Es ist sehr frag­lich, inwie­fern die Nut­zung des his­to­ri­schen Prä­sens nicht gera­de die ela­bo­rier­te­re Fähig­keit vor­aus­setzt, ange­sichts der stän­di­ge prä­sen­ten Kennt­nis, dass es sich um einen ver­gan­ge­nen Zusam­men­hang han­delt, das so Gele­se­ne bzw. Gehör­te in ein men­ta­les Imper­fekt zu trans­po­nie­ren. Inwie­fern die­se Vor­aus­set­zung hier gemacht wer­den kann, ist doch sehr fraglich.
    • Die­se Schwie­rig­keit ist aber — wie am Aus­gangs­text zu sehen — kei­nes­wegs der Leich­ten Spra­che exklu­siv — bei ihr auf­grund des Regel­werks aber konstitutiv.
    • Begeg­nen lässt sich die­ser Pro­ble­ma­tik und der damit ggf. ver­bun­de­nen Ver­let­zung der Wesens­ge­halts­ga­ran­tie, inso­fern es um his­to­ri­sches, d.h. zeit­be­zo­ge­nes und nicht poli­ti­sches Den­ken gehen soll, aller­dings durch kom­pen­sa­to­ri­sche Maß­nah­men, die eben die­se Prä­mis­se der Ver­or­tung des Zusam­men­hangs als Vor­aus­set­zung auf ande­re Wesies als durch die sprach­li­che Codie­rung sichern und prä­sent hal­ten — etwa durch die durch­ge­hen­de Ver­wen­dung eines Zeit­strahls, auf wel­chem sowohl die betrach­te­te Zeit als auch die eige­ne deut­lich mar­kiert sind.
  • Ein zwei­tes Pro­blem ist schwie­ri­ger. Es ist (wohl nicht nur auf den ers­ten Blick) auch gar nicht spe­zi­fisch his­to­risch, betrifft aber das his­to­ri­sche Den­ken: Es geht um die durch die Ver­ein­fa­chung der Gram­ma­tik, die Reduk­ti­on auf Haupt­sät­ze und den Ver­zicht auf Qua­li­fi­ka­tio­nen von Aus­sa­gen ent­ste­hen­den Gene­ra­li­sie­rungs­ef­fek­te. Der Text in Leich­ter Spra­che mach dort Vor­aus­set­zun­gen in der Begriff­lich­keit, wo im sprach­lich kom­ple­xe­ren Aus­gangs­text Erklä­run­gen zu fin­den sind: “Bei den Grie­chen in Athen gibt es ein Scher­ben-Gericht.” Dass es sich dabei weder um ein “Gericht” im all­tags­sprach­li­chen Sin­ne (ein Essen) noch um eine Insti­tu­ti­on im Sin­ne eines Amtes (Land­ge­richt), son­dern um eine Inst­tu­ti­on im sozia­len Sin­ne han­delt, dass hier also kei­ne Rich­ter, son­dern Volk über etwas ent­schei­den, ist viel­leicht noch am ehes­ten durch die Ein­fü­gung zwei­er wei­te­rer, sprach­lich eben­so leich­ter Sät­ze zu kor­ri­gie­ren. Inwie­fern aber “Gericht” (so es ein­mal geklärt ist) nichts mit tat­säch­li­cher Tat oder Streit, son­dern mit Befürch­tung und somit Prä­ven­ti­on zu tun hat, ist schon schwie­ri­ger. Wenn dann noch das Wort “gewählt” ver­wen­det wird, wel­ches zugleich schü­ler­nah (Klas­sen­spre­cher­wahl) als auch ein­fach ist, hier aber gera­de kei­ne posi­ti­ve, son­dern eine nega­ti­ve Aus­le­se bedeu­tet, wird es durch­aus problematisch.
  • Ein drit­tes Pro­blem Leich­ter Spra­che wird ggf. an einem wei­te­ren Text aus der glei­chen Haus­ar­beit deut­lich, der selbst nur teil­wei­se den Regeln der Leich­ten Spra­che” ent­spricht. Neben einer Comic-Figur steht eine Infor­ma­ti­on zu Perikles:
    “Peri­kles war ein berühm­ter Mann in Athen. Er setz­te sich für die Demo­kra­tie ein. Demo­kra­tie bedeu­tet Volks­herr­schaft. In Athen gab es Demo­kra­tie. Das Volk darf ent­schei­den. dafür gibt es Wah­len. Die Mehr­heit gewinnt. Die Teil­nah­me an der Volks­ver­samm­lung ist wichtig.”
    Dass hier im ers­ten Teil gegen die Rege­lun­gen der Leich­ten Spra­che das Prä­te­ri­um ver­wen­det wird, ist gera­de­zu als eine Stär­ke anzu­se­hen. Auch der Wech­sel zum Prä­sens in dem Satz “Demo­kra­tie bedeu­tet Volks­herr­schaft” ist rich­tig und gera­de auch inten­tio­nal rich­tig, ermög­lich er doch die Unter­schei­dung zwi­schen einer zeit­be­zo­ge­nen und einer zeit­über­grei­fend gene­rel­len Aus­sa­ge. Die fol­gen­den Prä­sens­for­men jedoch sind — obwoihl nun­mehr wie­der völ­lig regel­kon­fom — pro­ble­ma­tisch, nicht nur weil der Ver­gan­gen­heits­be­zug fehlt (dazu sie­he oben), son­dern weil gleich­zei­tig eine Gene­ra­li­sie­rung ent­hal­ten ist (“Das Volk darf ent­schei­den”), die sowohl in ihrer Über­zeit­lich­keit noch in der defi­ni­to­ri­schen Gene­ra­li­sie­rung stim­men: “Dafür gibt es Wahlen”.
Anmer­kun­gen /​ Refe­ren­ces
  1. []
  2. Eine Prü­fung mit dem “Lan­guage Tool. Leich­te Spra­che. deutsch” (https://​com​mu​ni​ty​.lan​guage​tool​.org/​?​l​a​n​g​=de) auf “hur​ra​ki​.de” (http://​www​.hur​ra​ki​.de/​p​r​u​e​f​u​n​g​/​p​r​u​e​f​ung) moniert nur die Pas­siv-Kon­struk­ti­on im zwei­ten Satz.[]
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