Arbeitsbereich Geschichtsdidaktik / History Education, Universität Hamburg

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Fortgang der “Debatte” um die Fakten in der Geschichtsdidaktik

06. November 2016 Andreas Körber 3 Kommentare

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Die Debat­te um “Fak­ten” in der Geschichts­di­dak­tik (vgl.
Geschich­te – Kom­pe­ten­zen und/​oder Fak­ten? Zu eini­gen aktu­el­len Zei­tungs­ar­ti­keln und zur Fra­ge der Chro­no­lo­gie) geht weiter.

Tho­mas Sand­küh­ler ver­weist nun auf Face­book auf einen (inzwi­schen auch online ver­füg­ba­ren) Arti­kel in der ZEIT vom 3.11.2016: Bucher, Eva: “Der Unter­gang der Fak­ten”. In DIE ZEIT Nr. 46/​2016 (3.11.2016), und beklagt, auch in der Geschichts­di­dak­tik ste­he “das Gefühl wie­der in hohem Kurs, woge­gen “Fak­ten” als über­leb­ter Posi­ti­vis­mus abge­tan” wür­den (https://​www​.face​book​.com/​t​h​o​m​a​s​.​s​a​n​d​k​u​h​l​e​r​.​5​/​p​o​s​t​s​/​7​0​5​0​0​9​5​5​2​9​9​6​862).

Mei­ne Ant­wort dar­auf lautet:
“Fak­ten als über­leb­ter Posi­ti­vis­mus in der Geschichts­di­dak­tik? Nein, die Ver­mitt­lung von von “Fak­ten” als gesi­cher­te, von den Schü­lern nicht kri­tisch zu beden­ken­de Aus­sa­gen und Zusam­men­hän­ge, vor allem als Vor­aus­set­zung, nicht aber als Gegen­stand eige­nen kri­ti­schen his­to­ri­schen Den­kens: Das wäre (und manch­mal ist) über­hol­ter Positivismus.
Dass die Dia­gno­se des “Post­fak­ti­schen” und die tat­säch­li­che Ableh­nung von “Fak­ten” zuguns­ten unbe­grün­de­ter gefühl­ter Über­zeu­gun­gen sei­tens bestimm­ter inter­es­sier­ter wie leicht­gläu­bi­ger Grup­pen aber kei­nes­wegs erzwingt, das För­dern kri­ti­schen Den­kens erneut abzu­leh­nen, hat vor eini­gen Wochen z.B. Phil­ipp Sara­sin in Geschich­te der Gegen­wart gezeigt: http://geschichtedergegenwart.ch/fakten-was-wir-in-der…/.
Geschichts­di­dak­tik als “Teil des Post­fak­ti­schen” ist eine gro­be Ver­ken­nung des Anlie­gens, näm­lich die Ler­nen­den zu befä­hi­gen und zu ermu­ti­gen (auch: zu ermu­ti­gen), selbst und selbst­stän­dig kri­tisch das zu prü­fen, was ihnen prä­sen­tiert wird. Da kann es nicht um die Behaup­tung eines “Fakten”-Status gehen, wo doch hin­rei­chend bekannt ist, dass Fak­ten ohne Inter­pre­ta­ti­on, ohne Ver­wen­dung gegen­wär­ti­ger Begrif­fe, gibt. Die Reak­ti­on der Geschichts­di­dak­tik darf gera­de kein Rekurs auf die Ver­mitt­lung von Fak­ten sein, son­dern die Befä­hi­gung zur kri­ti­schen Prü­fung aller Fak­ten­be­haup­tun­gen — unter Anwen­dung durch­aus “har­ter” Kri­te­ri­en von Plau­si­bi­li­tät. Nur damit kann man den Behaup­tun­gen des Post­fak­ti­schen wir­kungs­voll ent­ge­gen­tre­ten.” (https://​www​.face​book​.com/​a​n​k​o​e​r​b​e​r​/​a​l​l​a​c​t​i​v​i​t​y​?​p​r​i​v​a​c​y​_​s​o​u​r​c​e​=​a​c​t​i​v​i​t​y​_​l​o​g​_​t​o​p​_​m​enu#)

 

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3 Kommentare

  1. Matthias Bublitz sagt:

    War­um die Begrif­fe “Macht­er­grei­fung” und “-über­tra­gung” einen höhe­ren, wenn auch ins­ge­samt gerin­gen Anteil von Sub­jek­ti­vis­mus in sich ber­gen als der “noch wert­neu­tra­le­re” Begriff des “Macht­an­tritts”, habe ich oben dar­ge­legt. — Es ist kein ange­mes­se­nes Gegen­ar­gu­ment, dar­auf zu ver­wei­sen, dass auch “Macht­an­tritt” kein abso­lut kla­rer und objek­ti­ver Begriff ist, denn es geht hier ja um eine Abstufung.

    Zu Recht wei­sen Sie dar­auf hin, dass der Begriff “Macht­an­tritt” eine gewis­se Ver­kür­zung und Ver­ein­fa­chung in sich trägt — denn einer­seits hat­te die NSDAP auch schon vor Jan. 33 eine gewis­se Macht, und ande­rer­seits wach­te man im Feb. 33 nicht sofort auf dem Thing­platz von Thu­le auf, son­dern “es gab viel zu tun” aus Sicht eines “NS”-Anhängers, und er pack­te es an!

    Den­noch kann man sagen, dass der ent­schei­den­de Macht­zu­wachs der NSDAP mit der Ernen­nung Hit­lers zum Reichs­kanz­ler erfolg­te. Der Begriff “Macht­an­tritt” ist somit hin­rei­chend klar und ein­deu­tig. Eine Debat­te um Macht und Herr­schaft, um die Pene­tra­ti­ons­ge­schwin­dig­keit eines tota­li­tä­ren Sys­tems ggü. einer viel­schich­ti­gen Gesell­schaft — das alles kann den Begriff “Macht­an­tritt” erst auf einer höhe­ren Ebe­ne rela­ti­vie­ren; vom Sockel sto­ßen lässt er sich dadurch nicht.

    Wenn sie schon beim ers­ten Durch­gang durch die Geschich­te (Mit­tel­stu­fe) die Bau­stei­ne his­to­ri­scher Erzäh­lun­gen der­art hin­ter­fra­gen wie in Ihrem obi­gen Pos­ting, dann “zer­quat­schen” sie sie und legen alles lahm. Und die­ser Effekt ist auch tat­säch­lich zu beobachten.

    Dann kön­nen die Schü­le­rIn­nen auch sagen: “Was heißt denn: ‘Wir haben jetzt Geschich­te!’ Kann man als 15-Jäh­ri­ger denn über­haupt schon Geschich­te haben? Oder: Kann man nicht auch Geschich­te HABEN, aber auf dem Pau­sen­hof SEIN? Sie haben wohl ihren Fromm nicht gele­sen, wenn sie Haben und Sein so unzu­läs­sig gleich­set­zen und hier Anwe­sen­heits­pflich­ten aus der Feu­dal­zeit ein­for­dern! Außer­dem heißt ‘Unter­richts­be­ginn’ nicht, dass die Stun­de geord­net beginnt, son­dern es ist eine inter­sub­jek­tiv ver­han­del­ba­re, in der Rea­li­tät so nie­mals anzu­tref­fen­de, kon­stru­ier­te Ide­al­vor­stel­lung” usw.usf.

  2. Andreas Körber sagt:

    War­um soll­te der Sub­jek­ti­vis­mus bei “Macht­er­grei­fung” oder “macht­über­tra­gung höher sein als bei “Macht­an­tritt”? Auch letz­te­re For­mu­lie­rung trägt Kon­no­ta­tio­nen — z.B. die eines geord­ne­ten Antritt eines Amts. Sie mag rich­tig sein, ist aber eine Deu­tung. Auch dass “Amt” und “Macht” gleich­ge­setzt wird, ist hier zu bemerken.

    Es geht auch gar nicht um Sub­jek­ti­vis­mus — ganz im Gegen­teil. Es geht dar­um, dass Deu­tun­gen, Inter­pre­ta­tio­nen, Schluss­fol­ge­run­gen als inter­sub­jek­tiv ver­han­del­bar im Unter­richt erschei­nen, weder ein­heit­lich-mono­li­thisch noch arbi­trär, son­dern als der inter­sub­jek­tiv nach­voll­zieh­ba­ren, wenn auch nicht (wegen Per­spek­ti­vi­tät etc.) zwin­gend geteil­ten Begrün­dung unterworfen.

    Und: De-Kon­struk­ti­on bedeu­tet nicht Wider­le­gung, son­dern Ana­ly­se, Offen­le­gung des “Bau­prin­zips”, der Kon­sti­tu­ti­on — sie kann gera­de auch zur Bekräf­ti­gung füh­ren, indem näml­cih die Gel­tung einer Aus­sa­gen erkenn­bar wird — nicht nur behauptet.

  3. Matthias Bublitz sagt:

    Viel­leicht soll­te man fol­gen­de Unter­schie­de machen:

    a) Es gibt sehr ver­schie­de­ne Arten von his­to­ri­schen Fakten(-behauptungen), die ganz unter­schied­li­che Gra­de von Kon­stru­iert­heit und Sub­jek­ti­vi­tät in sich tra­gen. Man könn­te z.B. zwi­schen Ereig­nis­fak­ten, Struk­tur­fak­ten, Kau­sa­li­täts­fak­ten u.a.m. unterscheiden.

    Was die Ebe­ne der Ereig­nis­fak­ten angeht, scheint mir der Sub­jek­ti­vis­mus der vor­herr­schen­den Didak­tik (und auch oben ste­hen­den Texts)deutlich zu weit zu gehen: Der Macht­an­tritt Hit­lers am 30.1.33 z.B., aber auch die Ver­nich­tungs­hand­lun­gen des “NS”-Regimes sind Ein­zel­fak­ten (im zwei­ten Fall viel­tei­li­ge), die unab­hän­gig von einer Kon­struk­ti­on, ja sogar: unab­hän­gig von einer Benen­nung, existieren.

    Spricht man hin­ge­gen von “Macht­er­grei­fung” oder aber “Macht­über­tra­gung”, kommt schon ein nuan­cie­ren­der Sub­jek­ti­vis­mus hin­ein, der jedoch — ins­ge­samt gese­hen — im Bereich objek­ti­vier­ba­rer Behaup­tun­gen ver­bleibt, denn es han­del­te sich objek­tiv sowohl um eine Ergrei­fung als auch um eine Über­tra­gung von Macht, und der Sub­jek­ti­vis­mus beschränkt sich hier auf das Her­vor­he­ben einer Komponente.

    Anders, also unüber­sicht­li­cher, sieht es auf der Ebe­ne der Struk­tur- und Kau­sal­fak­ten aus, doch auch hier fin­de ich den immer wie­der vor­ge­tra­ge­nen Sub­jek­ti­vis­mus über­trie­ben. — Kurz­um: Es müss­te sehr viel stär­ker aus­dif­fe­ren­ziert wer­den, wel­che Art von Fakten(-behauptung) man meint.

    Erkenn­bar ist jeden­falls, dass die Didak­tik in die­sem Span­nungs­feld von Sub­jek­ti­vis­mus und Objek­ti­vis­mus ein­sei­tig und dog­ma­tisch in Rich­tung Sub­jek­ti­vis­mus segelt und hän­de­rin­gend nur auf die­ser Sei­te nach Argu­men­ten sucht, wäh­rend man objek­ti­vis­ti­sche Kom­po­nen­ten nur wider­wil­lig und immu­ni­sie­rend berücksichtigt.

    b) Was die didak­ti­schen Gefah­ren angeht, d.h. das Abglei­ten in einen rech­ten Sub­jek­ti­vis­mus, den man bei Trump wie bei der “Reichs­bür­ger-Bewe­gung” sieht, muss man stär­ker zwi­schen der “aktu­el­len Unter­richts­si­tua­ti­on” und den mit­tel­fris­ti­gen Wir­kun­gen unterscheiden:

    INNERHALB der Schu­le dürf­te es dem/​ der Leh­ren­den meis­tens gelin­gen, die Gel­tungs­kraft huma­nis­ti­scher Geschichts­deu­tun­gen im Ver­bund mit Wiki­pe­dia und Goog­le durch­zu­set­zen, den­noch wird die Saat gelegt für einen Will­kür-Skep­ti­zis­mus, der dann jen­seits der 20 — und erst dann inter­es­sie­ren sich vie­le “nor­mal ent­wi­ckel­te Jugend­li­che” für Erwach­se­nen­the­men — zu allen mög­li­chen Ver­schwö­rungs­theo­rien und “lax-stren­gen Fak­ten-Checks” füh­ren kann.

    Ein erkennt­nis­tech­ni­sches Pro­blem tritt hin­zu: Wer Fak­ten prü­fen will, kann das nur auf Basis halb­wegs gesi­cher­ter (Hintergrund-)Fakten und Metho­den tun, und selbst wenn die­se Ein­bet­tungs­ebe­ne nur eine inter­sub­jek­ti­ve sein und nur durch eine Dis­kurs­ge­mein­schaft erzeugt soll­te, so muss man doch das Den­ken und Wer­ten die­ser Dis­kurs­ge­mein­schaft “wie ein Fak­tum” zur Kennt­nis genom­men haben. Das funk­tio­niert aber nicht bei einer Didak­tik, die Acht­kläss­ler dazu ermu­tigt, alt­klug Tex­te zu zer­flei­schen, die sie sowie­so nicht interessieren.

    Wenn man schon den “kri­ti­schen Fak­ten-Check” so wich­tig neh­men will (was ich pro­ble­ma­tisch fin­de für die Mit­tel­stu­fe), dann müss­te es doch ein vor­ge­stanz­tes Dekon­struk­ti­ons­er­leb­nis sein und gründ­lich vor­ge­plant wer­den. Denn irgend­wo­her müs­sen die — auch durch eineN Schü­le­rIn wider­leg­ba­ren — Fak­ten­be­haup­tun­gen ja kom­men. Dazu soll­te der/​die Leh­ren­de eine leicht zu wider­le­gen­de und eine nicht leicht zu wider­le­gen­de his­to­ri­sche Behaup­tung prä­sen­tie­ren (“Eine davon ist falsch!”) und sich wäh­rend der Stun­de hin­ter dem Vor­hang ver­ste­cken, damit man sei­ne Mimik nicht sieht…

    Eine weni­ger radi­ka­le, d.h. nicht wider­le­gen­de, son­dern nur rela­ti­vie­ren­de Dekon­struk­ti­on von Fak­ten­be­haup­tun­gen, wie sie im Grun­de ja bei der Debat­te um “Geschichts­be­wusst­sein” ange­peilt wird, wür­de sozio­lo­gi­sche und phi­lo­so­phi­sche Kennt­nis­se vor­aus­set­zen, die vor­her — wie als “Fak­ten” — ver­mit­telt wor­den sein müss­ten. Das wer­den sie aber nicht…

    Ins­ge­samt glau­be ich, dass man den Schü­le­rIn­nen ein Set von Basis­fak­ten zur Ver­fü­gung stel­len kann, bei dem sich eine erkennt­nis­theo­re­ti­sche Debat­te erüb­rigt und die man z.B. mit Mul­ti­ple-choice-Ver­fah­ren abprü­fen kann. In der Mit­tel­stu­fe und im Umgang mit migran­ti­schen, bil­dungs­fer­nen bzw. des­in­ter­es­sier­ten bzw. mur­ren­den Schü­le­rIn­nen kann das ein gro­ßer Schritt hin zu kul­tu­rel­ler Inte­gra­ti­on, gemein­sa­men Aus­gangs­punk­ten und Bil­dungs­ge­rech­tig­keit sein.

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