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[Der fol­gen­de Bei­trag doku­men­tiert einen Twit­ter-Thread vom 27. Febru­ar 2022: Er ist — mit den Ant­wor­ten etc. hier zu fin­den: https://​twit​ter​.com/​A​n​_​K​o​e​r​/​s​t​a​t​u​s​/​1​4​9​8​0​5​3​7​9​8​9​8​3​6​1​4​4​7​0​?​s​=​2​0​&​t​=​O​q​a​x​0​V​S​W​v​S​Q​8​q​w​L​E​U​e​V​vSg]. Hier habe ich klei­ne­re Schreib­feh­ler korrigiert.

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Vie­le Insti­tu­tio­nen und accounts in meh­re­ren Län­dern stel­len gera­de Rat­schlä­ge und Mate­ria­li­en dazu zusam­men, wie mit Schüler:innen über den Ukrai­ne-Krieg gespro­chen wer­den kann und soll. Dazu gehö­ren sowohl wert­vol­le Hin­wei­se für den sen­si­blen Umgang mit Befürch­tun­gen und Ängs­ten als auch sol­che zur poli­ti­schen Bil­dung. Ein Bei­spiel ist das Pad­let mit Mate­ria­li­en des Ham­bur­ger Lan­des­in­sti­tuts für Leh­rer­bil­dung und Schul­ent­wick­lung. Dort wird im Begleit­an­schrei­ben ganz im Sin­ne der deut­schen Poli­tik­di­dak­tik auf die Prin­zi­pi­en des Beu­tels­ba­cher Kon­senses hin­ge­wie­sen, d.h. auf das Kon­tro­ver­si­täts­ge­bot und Überwältigungsverbot.

Im Gegen­satz zu Letz­te­rem ist ers­te­res ange­sichts der ein­hel­li­gen und berech­tig­ten Beur­tei­lung des Krie­ges als Völ­ker­rechts­bruch viel­leicht nicht so offen­kun­dig. Den­noch ist es nicht nur berech­tigt, son­dern not­wen­dig. Man darf nur nicht den Feh­ler machen, unter dem “Kon­tro­ver­si­täts­ge­bot” eine Art der Neu­tra­li­tät oder eine Hal­tung bestün­de, “bei­de” (oder alle) Sei­ten hät­ten irgend­wie glei­cher­ma­ßen Recht. Um eine for­ma­le “Balan­ce” kann es gera­de nicht gehen – tut es laut Beu­tels­ba­cher Kon­sens auch nicht.

Das Kon­tro­ver­si­täts­ge­bot besagt, dass das, was in Poli­tik und Gesell­schaft kon­tro­vers ist, als kon­tro­vers im Unter­richt erscheint – weder als “egal”, noch als “nicht zu ent­schei­den” oder gar als nicht zu bewer­ten. Nicht “die rus­si­sche” vs. “die west­li­che” Sei­te und Sicht also bil­den die Kon­tro­ver­se, son­dern eini­ge der vie­len Fra­gen, die in unse­rer (und der Welt-)Gesellschaft durch­aus zu Recht (wenn auch nicht ein­fach sym­me­trisch) kon­tro­vers dis­ku­tiert wer­den. Das müs­sen (und dür­fen) gera­de auch nicht ein­fach Wert­ur­tei­le sein, son­dern es muss immer auch zugrun­de lie­gend um Sach-Urtei­le gehen, etwa um die Fra­ge nach dem Cha­rak­ter des Krie­ges als Völ­ker­rechts-Bruch, als Bruch inter­na­tio­na­ler Ver­trä­ge etc. Die­se Fra­gen sind zwar weit­ge­hend ein­deu­tig und erschei­nen auch ent­schie­den – aber sie wur­den dis­ku­tiert: Nicht ob, son­dern war­um und inwie­fern die­ser Krieg Unrecht ist – dazu gab und gibt es sach­li­che Beurteilungen.

Eben­so kön­nen Fra­gen der Legi­ti­ma­ti­on der deut­schen Zurück­hal­tung bei Waf­fen­lie­fe­run­gen, der mög­li­chen Wir­kun­gen von Unter­stüt­zun­gen oder ihres Feh­lens, von For­men der Unter­stüt­zung für die Zivil­ge­sell­schaft dis­ku­tiert und erwo­gen wer­den – auch und gera­de ohne zu einer ein­zi­gen gemein­sa­men und schon vor­her fest­ste­hen­den Ant­wort zu gelangen.

Das Kon­tro­ver­si­täts­ge­bot meint also eine nicht-for­mal-balan­cier­te Dis­kus­si­on und Erwä­gung von Fra­gen mit der Mög­lich­keit unter­schied­li­cher Ein­schät­zun­gen (und auch Wer­tun­gen), beinhal­tet aber gera­de auch, dass Argu­men­te und Urtei­le er- und abge­wo­gen wer­den, wobei Stär­ken und Schwä­chen durch­aus benannt wer­den kön­nen. Das kann – und in vie­len Fäl­len muss – auch beinhal­ten, die Akzep­ta­bi­li­tät man­cher Argu­men­ta­ti­ons­wei­sen deut­lich zu kri­ti­sie­ren, aber eben ohne, dass dadurch auto­ma­tisch genau ein ein­zi­ges Gegen­ar­gu­ment als rich­tig vor­ge­ge­ben würde.

Die Kon­tro­ver­se des Kon­tro­ver­si­täts­ge­bots meint also in sol­chen Kon­flik­ten gera­de nicht die schein-neu­tra­le Gegen­über­stel­lung der Kon­flikt­par­tei­en, son­dern betrifft mehr und deut­li­cher eine gan­ze Rei­he von Fra­gen etwa zur Inter­pre­ta­ti­on der Ursa­chen, der Plau­si­bi­li­tät von Stra­te­gien etc., die in unse­rer Gesell­schaft ja inten­siv dis­ku­tiert wer­den. Es sind gera­de sol­che Fra­gen, die in offe­nen Gesell­schaf­ten mit offe­ner und plu­ra­ler Medi­en­kul­tur dis­ku­tiert wer­den kön­nen – was die­se Gesell­schaft ja (hof­fent­lich) von ande­ren – und in die­sem Kon­flikt der­je­ni­gen der geg­ne­ri­schen Sei­te – unter­schei­det. Das erfor­dert sicher ganz unter­schied­lich umfang­rei­che Unter­richts­ein­hei­ten und Vor­be­rei­tung – und oft auch fächer­über­grei­fen­des oder ‑ver­bin­den­des Lernen.

Die Fra­ge etwa danach, was mit “rus­si­schen Sicher­heits­in­ter­es­sen” von ver­schie­de­ner Sei­te gemeint ist und sein kann, und in wel­ches Ver­hält­nis sie zu den Inter­es­sen der Ukrai­ne gesetzt wer­den kön­nen und müs­sen, ist durch­aus dis­ku­tier­bar – benö­tigt aber Mate­ri­al. Ein letz­ter Punkt: Da Kon­tro­ver­si­täts­ge­bot umfasst auch, den Ein­druck zu ver­mei­den, also könn­te man im Rah­men von Unter­richt, aber auch im Leben in den Foren, in denen sol­che Fra­gen dis­ku­tiert wer­den, über­haupt zu Ant­wor­ten kom­men, die in irgend­ei­ner Wei­se abschlie­ßend wären, die nicht bei neu­en Infor­ma­tio­nen, unter ver­än­der­ten Bedin­gun­gen, auch mit mehr Lebens­er­fah­rung und ande­ren Per­spek­ti­ven einer Nach­schär­fung (bis hin zu Revi­si­on) bedür­fen können.

Das Kon­tro­ver­si­täts­ge­bot ver­langt auch aus ande­rem Grun­de gar nicht, zu Ent­schei­dun­gen, abschlie­ßend oder vor­läu­fig gefäll­ten Urtei­len zu kom­men und Argu­men­ta­tio­nen immer gegen­ein­an­der abzu­wä­gen. Schon die Erkennt­nis, dass es unter­schied­li­che Posi­tio­nen, Per­spek­ti­ven, Sach- und Wert­ur­tei­le samt ihnen zugrun­de lie­gen­den Welt­sich­ten, Kon­zep­ten, Wer­ten etc. gibt, und (bes­ser:) wie sie (oder eini­ge von ihnen aus­se­hen und “funk­tio­nie­ren”, trägt schon sehr zur Ori­en­tie­rungs­fä­hig­keit bei. Zudem: Auch ihre Erkennt­nis erfor­dert zudem Urtei­le, die dis­ku­tiert wer­den können.

Viel­leicht lohnt es, ein­mal ein paar ehr­lich (als) kon­tro­vers zu erschlie­ßen­der Fragen/​ The­men zu sammeln?

  • Was kön­nen Betei­lig­te an der öffent­li­chen Dis­kus­si­on mei­nen, wenn sie von “Sicher­heits­in­ter­es­sen” Russ­lands spre­chen, und strei­ten, ob sie „berück­sich­tigt” wer­den soll(t)en?

  • Putins Poli­tik als “tra­di­tio­nel­les Groß­macht­stre­ben” oder als Ergeb­nis von “Rea­li­täts­ver­lust” oder gar Krank­heit, Irr­sinn? Was mei­nen die­se Inter­pre­ta­tio­nen, und was bedeu­ten sie für Erwar­tun­gen und Reaktionsmöglichkeiten?

  • Deutsch­lands “his­to­risch beding­te” Zurück­hal­tung in der Außen­po­li­tik- was ist/​wird damit gemeint? Wor­in ist/​wird das begrün­det? Inwie­fern wird es als (nicht mehr) ange­mes­sen beur­teilt? Wel­che (unter­schied­li­chen) Vor­stel­lun­gen einer Neu­aus­rich­tung wer­den wie begründet?