A propos einer Anfrage eines Kollegen von heute juckt es mich, doch einmal einen Sachverhalt anzusprechen, den ich unbefriedigend finde –wiewohl ich nicht hoffe, ihn ändern zu können:
Die Anfrage lautete, ob der englische Begriff des “Master Narrative” im Deutschen mit “Meistererzählung” korrekt übersetzt sei.
Die Antwort lautet: “ja, leider” (vgl. etwa den Eintrag im “Kulturglossar”). Es handelt sich um die eingeführte Übersetzung, spätestens (ich habe das jetzt nicht tiefer nachgeprüft) seit dem Sammelband von Jarausch und Sabrow (2002): Auch sie verwenden den Begriff eher, als dass sie ihn in seiner sprachlichen Verfasstheit reflektieren. Jost Dülffer hat 2005 in einem Beitrag in “Aus Politik und Zeitgeschichte” diese Übersetzung ausdrücklich für gut befunden: “ ‘Meistererzählungen’ wird das im Anschluss an die englischen ‘master narratives’ sinnvollerweise genannt, denn diese wirken, und sie prägen die Sicht.” (ebda, Anm. 6).
Ich kann dieses “sinnvollerweise” nicht wirklich nachvollziehen, weil es Missverständnisse begünstigt: Das master narrative ist in meinem Verständnis eher dem “Mutterband” im Kopierwerk einer Audioproduktion vergleichbar, von dem die Kopien gezogen werden — es prägt die Sicht — und in analoger Technik unterscheiden sich die Kopien immer etwas. Im Englischen heißen diese “Mutterbänder” m.W. auch “master”.
Der deutsche Begriff der “Meistererzählung” konnotiert demgegenüber die bei den master narratives keineswegs nötige Meisterschaft. Ich hatte als Jugendlicher in einem Bücherregal ein von meinem Onkel geerbten Band mit Erzählungen Anton Tschechovs, der mit “Meistererzählungen” betitelt war — und damit eben auf die Meisterhaftigkeit der Erzählkunst abhob. Die master narratives werden zwar oft als wirksam (s. Dülffer) und oft auch als mit Autorität ausgestattet angesehen, ihnen “Meisterhaftigkeit” zuzuschreiben, hilft aber der für ihre Reflexion nötigen Distanz nicht gerade.
Vgl. dazu auch Krijn Thijs (2008), dem zufolge die deutsche Forschung der Begriffsverwirrung — er sei “zur Zeit des Begriffstransfers bereits als individuelle Glanzleistung literarischer Virtuosen” besetzt gewesen — “nie ganz entkommen” sei. Erst deswegen haben man die Zusätze “historisch”, “national” usw. finden müssen (S. 20 m. Anm. 31).
Literatur:
- Dülffer, Jost (2005): “Zeitgeschichte in Europa — oder europäische Zeitgeschichte?”. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B1‑2/2005: http://www.bpb.de/apuz/29303/zeitgeschichte-in-europa-oder-europaeische-zeitgeschichte?p=all
- Jarausch, Konrad / Sabrow, Martin (Hgg.; 2002): Die historische Meistererzählung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 2002.
- Thijs, Krijn (2008): Drei Geschichten, eine Stadt: die Berliner Stadtjubiläen von 1937 und 1987: Böhlau.
- http://www.kulturglossar.de/html/m‑begriffe.html#meistererzaehlung
26. August 2015 um 12:20 pm Uhr
Musternarrativ, das finde ich eine schöne Übersetzung mit ironischem Wink mit dem Zaunpfahl.
Grundsätzlich denke ich kommt es auf die Verwendung an. master narrative kann meiner Einschätzung nach auch im Englischen ebenso als (ästhetische) Meistererzählung, als “ruling narrative” oder eben als Muster verstanden werden. Im Prinzip erscheint es mir nicht so relevant was das Wort bedeuten soll, eher mit was wir es in Verbindung bringen.
Meine Assoziation zu Meistererzählung steht nicht in Verbindung zu Qualität, wohl aber zur Autorität. Ich denke auch, dass das aus praxeologischer Sicht gar nicht so falsch ist, denn dominante Muster werden gerne kopiert und sind gerade deswegen so ausgeleiert 😉
29. April 2015 um 4:26 pm Uhr
Heute hörte ich im Südwestfunk, wie Rainer Volk die Geschichte(n) um Clara Immerwahr als “Meistererzählung” bezeichnete. Es erinnerte mich unmittelbar an Hannah Arendt und ihr weitgehend phantasiertes Bild von Rahel Varnhagen. Ich sage ohnehin “Narrativ” dazu, es ist neutraler. Wenn es schon polemisch sein soll, ein “Musternarrativ”, das wäre eine Begrifflichkeit, mit der ich mich anfreunden könnte.