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Im Rah­men der Dis­kus­si­on um die Inklu­si­on wer­den der­zeit auch für das Fach Geschich­te didak­ti­sche und metho­di­sche Kon­zep­te ent­wi­ckelt, erprobt und eva­lu­iert – etwa die Ver­wen­dung “leich­ter Spra­che”, mit dem Ziel einer Ver­bes­se­rung der Zugäng­lich­keit his­to­ri­scher Sach­ver­hal­te für Schüler(innen), die der oft abs­trak­ten his­to­ri­schen Bil­dungs­spra­che nicht in dem als fach­lich nötig gel­ten­den Maße fol­gen und sich dar­in ver­stän­di­gen können.

Gleich­zei­tig wird befürch­tet, die spe­zi­fi­schen Cha­rak­te­ris­ti­ka der “Leich­ten Spra­che”, etwa der (weit­ge­hen­de) Ver­zicht auf das Prä­ter­itum und den Kon­junk­tiv, genüg­ten nicht fach­li­chen Anfor­de­run­gen des his­to­ri­schen Den­kens als eines auf die (proto-)sprachliche Kon­struk­ti­on der ver­gan­ge­nen Gegen­stän­de und die sprach­li­che Kom­mu­ni­ka­ti­on dar­über gerich­te­ten, wesent­lich nar­ra­ti­ven Vor­gangs. Der Vor­teil ver­bes­ser­ten “Zugangs” wer­de durch Tri­via­li­sie­rung gefähr­det — bis hin zum (unge­woll­ten) Rück­fall in eine sim­pli­fi­zier­te “Kun­de” über Vergangenes.

Die mir bekann­ten Bei­spie­le zei­gen bei­des – sowohl eine “Eröff­nung” des “his­to­ri­schen Uni­ver­sums” und der Dimen­si­on zeit­be­zo­ge­ner Refle­xi­on für Men­schen, denen die­ses zuvor viel­leicht nicht zuge­traut, zumin­dest nicht spe­zi­fisch ermög­licht wor­den war, wie auch eine Gefähr­dung des sprach­li­chen Aus­drucks his­to­ri­scher Sach­ver­hal­te in ihrer ori­en­tie­rungs- und iden­ti­täts­re­le­van­ten Dimensionen.

Es ist also die Fra­ge zu stel­len, was inklu­si­ves Geschichts­ler­nen aus­ma­chen soll: Geht es um die Erwei­te­rung des Krei­ses der­je­ni­gen, die sich an einem als struk­tu­rell unver­än­dert gedach­ten Geschichts­un­ter­richt und der unver­än­der­ten Geschichts­kul­tur betei­li­gen kön­nen, also vor­nehm­lich um die Besei­ti­gung der “Bar­rie­ren” zwi­schen dem eta­blier­ten Fach und Gegen­stand “Geschich­te” einer­seits und eini­gen bis­her exklu­dier­ten Grup­pen von Ler­nen­den ande­rer­seits – oder auch um eine Ände­rung der Kon­sti­tu­ti­on des Faches in Schu­le und Wissenschaft?

Ein Ansatz wäre, die Befä­hi­gung zum „his­to­ri­schen Den­ken“, zur eigen­stän­di­gen zeit­li­chen Ori­en­tie­rung, Erschlie­ßung der (plu­ra­len) Geschichts­kul­tur und zur Par­ti­zi­pa­ti­on stär­ker in den Vor­der­grund des Geschichts­un­ter­richts zu stel­len – inklu­si­ve des Auf­baus eines kom­ple­xen “his­to­ri­schen Uni­ver­sums” an ereig­nis- und zustands­be­zo­ge­nem Wis­sen und Einsichten.

Die­se Bestim­mung his­to­ri­schen Ler­nens hat den Vor­teil, ele­men­ta­ri­sier­bar zu sein. Mir ihr kann gefragt wer­den, inwie­fern neben einer aus­ge­prägt ela­bo­rier­ten Form his­to­ri­schen Den­kens auch sol­che mit gerin­ge­rer Ori­en­tie­rungs­tie­fe, Selbst­stän­dig­keit, Kom­ple­xi­tät geben soll. Sie ermög­licht zudem, nicht nur über Ver­rin­ge­run­gen (und Erhö­hun­gen) von Kom­ple­xi­tät nach­zu­den­ken, son­dern auch über den Ein­be­zug von wei­te­ren Per­spek­ti­ven auf die Geschich­te – etwa beson­de­rer Ori­en­tie­rungs­be­dürf­nis­se, Fra­ge­stel­lun­gen, Deu­tungs­tra­di­tio­nen ein­zel­ner “Min­der­hei­ten”, Iden­ti­tä­ten (etwa LGBTQ), die ggf. auch bestimm­te “För­der­be­dar­fe” defi­nie­ren, wie etwa bei Ange­hö­ri­gen der “Gehör­lo­sen­kul­tur”.1

Gera­de mit die­ser “hori­zon­ta­len” Dimen­si­on bedeu­tet inklu­si­ves his­to­ri­sches Den­ken und Ler­nen nicht nur den Zugang zu einem als gege­ben gedach­ten “his­to­ri­schen Uni­ver­sum” zu ermög­li­chen, son­dern gemein­sa­me den­ken­de Aus­ein­an­der­set­zung mit dem “gemein­sa­men Gegen­stand”.2

Nicht nur beim Ansatz der “Leich­ten Spra­che” stellt sich aber die Fra­ge, wann die Nut­zung kon­kre­ter Maß­nah­men zur Ermög­li­chung der Teil­ha­be “umschlägt” in eine Ver­let­zung des Kerns fach­li­chen Ler­nens als „Betei­li­gung am Ver­ste­hens­pro­zess“.3

Kon­kret wird die Gren­ze nicht zu bestim­men sein. Auch sind har­te Kri­te­ri­en schwie­rig. Viel­leicht aber hilft das Vor­bild des Art. 19 des deut­schen Grund­ge­set­zes. Ihm zufol­ge dür­fen die dort garan­tier­ten Grund­rech­te zwar durch bzw. auf Grund eines Geset­zes ein­ge­schränkt (Art 19 I GG), nicht aber in ihrem „Wesens­ge­halt ange­tas­tet wer­den” (Art 19 II GG). Ent­spre­chend könn­te etwa for­mu­liert wer­den, didak­ti­sche Maß­nah­men zum Abbau von Bar­rie­ren und zur Schaf­fung und Erleich­te­rung von Zugäng­lich­keit sowie zur Gestal­tung von Lehr- und Lern­pro­zes­sen dürf­ten die sach­lich bzw. fach­lich defi­nier­ten Lern- und/​oder Leis­tungs­an­for­de­run­gen zwar dif­fe­ren­zie­ren sowie dabei be- und ein­schrän­ken, ver­än­dern und fokus­sie­ren, nie­mals aber in ihrem didak­ti­schen Kern antasten.

Das bedeu­tet kon­kret, dass durch alle sol­chen alle didak­ti­schen und metho­di­schen Maß­nah­men den Ler­nen­den die den­ken­de, deu­ten­de und ler­nen­de Aus­ein­an­der­set­zung mit Ver­gan­ge­nem und sei­ner Bedeu­tung für die Gegen­wart den Schü­le­rin­nen und Schü­lern ent­we­der gänz­lich abge­nom­men (also das Ergeb­nis vor­ge­ge­ben) oder gar nicht erst ange­bo­ten wer­den darf.

Ein­zel­nen Schüler(innen) etwa nur noch das Aus­ma­len von Pyra­mi­den auf­zu­ge­ben, wäh­rend die ande­ren über deren Bedeu­tung für das dama­li­ge Ägyp­ten wie für unser heu­ti­ges Bild davon han­deln, ver­stie­ße gegen die­sen Grund­satz. Ein sol­cher Unter­richt wäre viel­leicht sozi­al inklu­siv, nicht aber fach­lich. Eine Mal­auf­ga­be als Kom­ple­xi­täts- und Abs­trak­ti­ons­re­duk­ti­on hin­ge­gen, die eini­gen Schüler(innen) über­haupt erst die Betei­li­gung am Deu­tungs­pro­zess ermög­licht, die­sen dann aber auch vor­sieht, ist auch fach­lich sinnvoll.

Ein ande­rer Ver­stoß wäre dann gege­ben, wenn dif­fe­ren­zie­ren­de Maß­nah­men zur Her­stel­lung von Zugäng­lich­keit ihre Adres­sa­ten gänz­lich von sol­cher Unter­stüt­zung abhän­gig mach­ten und somit unmün­dig hielten.

Die „didak­ti­sche Wesens­ge­halts­ga­ran­tie“ erzwingt nicht unbe­dingt ziel­glei­ches Ler­nen, son­dern ist ein Kri­te­ri­um, wann zwar von Inklu­si­on, nicht aber von inklu­si­vem Fach­ler­nen gespro­chen wer­den kann.

1vgl. http://​www​.tau​ben​schlag​.de; Flat­ken, Regi­na (2013): His­to­ri­sche Iden­ti­täts­ar­beit als Bei­trag zur Inklu­si­on. Erar­bei­tung von Kri­te­ri­en für Mate­ria­li­en zur Geschich­te und Kul­tur von Men­schen mit Hör­schä­di­gung zur Nut­zung im inklu­si­ven Geschichts­un­ter­richt. BA-Arbeit. Uni­ver­si­tät Ham­burg, Ham­burg. Fakul­tät für Erzie­hungs­wis­sen­schaft; AB Geschichts­di­dak­tik.; dies. (2016): Gehör­lo­se his­to­ri­sche Iden­ti­tät? Erkun­dun­gen zu his­to­ri­schen Lern­in­ter­es­sen und ‑erfah­run­gen gehör­lo­ser Schü­le­rin­nen und Schü­ler. M.Ed.-Schrift. Uni­ver­si­tät Ham­burg, Ham­burg. Fakul­tät für Erziehungswissenschaft.

2Feu­ser, Georg (2007): Ler­nen am Gemein­sa­men Gegen­stand. Vor­trag im Rah­men der Vor­trags­rei­he “Offe­ner Unter­richt — Ant­wort auf Hete­ro­ge­ni­tät” der Päd­ago­gi­schen Hoch­schu­le Zen­tral­schweiz. Luzern, 2/​11/​2007.

3Vgl. Lan­des­in­sti­tut für Leh­rer­bil­dung und Schul­ent­wick­lung Ham­burg (o. J.): Pro­fes­si­ons­pro­fil einer inklu­si­ve den­ken­den und han­deln­den Lehr­kraft im Vor­be­rei­tungs­dienst [Ent­wurf], S. 1f.