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Auch in der Geschichts­di­dak­tik gibt es For­meln, die immer wie­der­holt wer­den — Topoi des didak­ti­schen Den­kens. Sie fin­den sich in Auf­sät­zen aka­de­mi­scher Didak­ti­ker und in Lehr­plä­nen der Bil­dungs­ver­wal­tun­gen eben­so wie in Arbei­ten von Stu­die­ren­den und in Unterrichtsentwürfen.
Zumeist haben sie die Funk­ti­on, in knap­per For­mu­lie­rung auf all­ge­mein aner­kann­te Sach­ver­hal­te bzw. Über­zeu­gun­gen zu ver­wei­sen, die nicht wei­ter aus­ge­führt oder gar belegt wer­den sol­len. Eine Zusam­men­stel­lung sol­cher Topoi in einem Zusam­men­hang gäbe also wohl prä­gnant Aus­kunft über die von den betrof­fe­nen Autoren geteil­ten und als aner­kannt ange­se­he­nen Grundsätze.

Ein Bei­spiel für einen sol­chen Topos ist z.B. der Ver­weis auf den “Kon­strukt­cha­rak­ter der Geschich­te”. Er ver­weist auf eine Über­zeu­gung hin­sicht­lich des Gegen­stan­des von Geschichts­wis­sen­schaft, ‑didak­tik und ‑unter­richt, die in dia­chro­ner Hin­sicht kei­nes­wegs selbst­ver­ständ­lich aner­kannt war, son­dern viel­mehr in län­ge­ren geschichts­theo­re­ti­schen Dis­kus­sio­nen her­aus­ge­ar­bei­tet wur­de. Mit die­sem Ver­weis ist es also heut­zu­ta­ge mög­lich, das eige­ne Ver­ständ­nis von Geschich­te sowie eines dazu pas­sen­den Geschichts­un­ter­richts als “modern”  zu kenn­zeich­nen. Ob aber in jedem ein­zel­nen Fall die kon­kre­te Bedeu­tung die­ser geschichts­theo­re­ti­schen Über­zeu­gung (an-)erkannt ist und die dar­auf auf­bau­en­den didak­ti­schen Schluss­fol­ge­run­gen hin­sicht­lich der Zie­le, Metho­den und Medi­en his­to­ri­schen Ler­nens sowie der Kri­te­ri­en für die Dia­gnos­tik von Lern­fort­schrit­ten, steht auf einem ande­ren Blatt.

Hin­zu kommt, dass der­ar­ti­ge for­mel­haf­te Ver­wei­se den Anschein erwe­cken, dass nicht auch zwi­schen den Anhän­gern bzw. Ver­fech­tern die­ser Posi­tio­nen wei­ter­hin Unter­schie­de und gar Streit­punk­te im Kon­kre­ten bestehen kön­nen. Topoi haben also auch die Eigen­schaft, Ein­sich­ten zu ver­ding­li­chen und zu glätten.

An einem ande­ren Bei­spiel sei dies in aller Kür­ze ausgeführt:

Der aktu­ell gül­ti­ge Ham­bur­ger Bil­dungs­plan Grund­schu­le, Rah­men­plan sach­un­ter­richt (http.//www.hamburger-bildungsserver.de/bildungspläne/Grundschule/SU_Grd.pdf) for­mu­liert an einer Stelle:

“Die Kin­der erfah­ren, dass mensch­li­ches Den­ken und Han­deln in der Ver­gan­gen­heit nur vor dem Hin­ter­grund der dama­li­gen Lebens­be­din­gun­gen zu ver­ste­hen und zu erklä­ren sind.”

Was aber ist genau mit die­ser For­mu­lie­rung bezeich­net: Kon­kret: Was meint das Wört­chen “nur” in die­ser For­mu­lie­rung? Min­des­tens zwei Les­ar­ten sind denkbar:

  • “nur” = “aus­schließ­lich”
  • “nur” = “nicht ohne”

Grund­sätz­lich ver­weist die­se Fas­sung auf die durch­aus kom­ple­xe Ein­sicht in die His­to­ri­zi­tät von Lebens­be­din­gun­gen, Norm­vor­stel­lun­gen, Hand­lungs­nor­men. Sie for­dert gegen­über einem unre­flek­tier­ter Prä­sen­tis­mus ein, das Han­deln von Men­schen ande­rer Epo­chen vor dem Hin­ter­grund ihrer Lebens­um­stän­de, Denk­wei­sen usw. zu ver­ste­hen. Sie ist eine spä­te Fas­sung des­sen, was Leo­pold von Ran­ke mein­te, als er for­mu­lier­te, jede Epo­che sei “gleich nah zu Gott”.

Im ers­ten Ver­ständ­nis wirkt sie aber gleich­zeitg als Boll­werk gegen jeg­li­chen Ver­such, die Ver­gan­gen­heit von heu­te aus zu “ver­ste­hen” und zu beur­tei­len. Sie for­dert vom His­to­risch Den­ken­den ein Abse­hen von den Nor­men und Denk­wei­sen sei­ner eige­nen Zeit. Somit wäre sie ein Relikt aus der ide­al­ty­pi­schen Ver­ste­hens­leh­re des His­to­ris­mus, der His­to­ri­ker habe von sich selbst zu abs­tra­hie­ren.  Die­ses Ver­ständ­nis zeigt sich auch in häu­fig zu hören­den Äuße­run­gen (zumeist aus inter­es­sier­ten Krei­sen), über bestimm­te Ver­gan­gen­hei­ten dür­fe nur urtei­len, wer dabei gewe­sen sei. Wir ken­nen die­ses Argu­ment z.B. aus den Aus­ein­an­der­set­zun­gen um die Hand­lungs­wei­sen von Men­schen in über­wun­de­nen Dik­ta­tu­ren, aber auch z.B. in Bezug auf “1968”.

Letz­te­re Maxi­mal­form die­ses Denk­mo­dells ist nur denk­bar in Bezug auf Aspek­te der Zeit­ge­schich­te. Bei allen ande­ren his­to­ri­schen Gegen­stän­den muss es schei­tern. Gera­de dort, bei gro­ßen zeit­li­chem Abstand, wird es aber beson­ders inter­es­sant, sofern man zuge­steht, dass Denk­wei­sen und Nor­men, Welt­sich­ten und Über­zeu­gun­gen sich in der Zeit (und somit bei lan­gen Zeit­ab­stän­den um so stär­ker) wan­deln: Sind die Denk- und Hand­lung­wei­sen der Men­schen des Mit­tel­al­ters unse­ren nicht nur zeit­lich, son­dern auch logisch fer­ner als die­je­ni­gen etwa der Men­schen des 18. Jh.?

Das Denk­mo­dell über­sieht oder ver­deckt, dass die gefor­der­te Berück­sich­ti­gung des “Hin­ter­grun­des der dama­li­gen Lebens­be­din­gun­gen” selbst nicht ohne eine spe­zi­fisch retro­spek­ti­ve Re-Kon­struk­ti­on von der Gegen­wart her mög­lich ist.  Weder die Erschlie­ßung die­ser noch das Den­ken über das Han­deln der Men­schen damals sind also ohne gegen­wär­ti­ges Den­ken und das heißt mit gegen­wär­ti­gen Begrif­fen etc., mög­lich. Die Les­art “nur” = “aus­schließ­lich” fällt also aus: Sie ist eine geschichts­theo­re­ti­sche Chimäre.

Bleibt also die zwei­te Les­art: “nur” = “nicht ohne”. In die­sem Sin­ne bedeu­tet der zitier­te Satz, dass ein aus­schließ­lich gegen­warts­ba­sier­tes Urtei­len und Wer­ten nicht sinn­voll (aber denk­bar) ist: Es ist die Forderung´danach, neben dem eige­nen Hori­zont auch den­je­ni­gen der Zeit her­an­zu­zie­hen und bei­de in ein Ver­hält­nis zuein­an­der zu set­zen. So for­mu­liert der Rah­men­plan auch wei­ter: “Sie wer­den dazu ange­regt, sich in die Lebens­wel­ten und Denk­for­men der Men­schen ver­gan­ge­ner Zei­ten hin­ein zu ver­set­zen und die­se mit heu­ti­gen zu ver­glei­chen.” Sofern man unter “hin­ein­ver­set­zen” nicht das pro­ble­ma­ti­sche Kon­zept eines völ­li­gen Ein­tau­chens ver­ste­hen will, wird hier der Ver­such ernst­haf­ter Re-Kon­struk­ti­on, also Droy­sens “for­schend zu ver­ste­hen” ein­ge­for­dert — aber eben nicht allein, son­dern immer in Bezie­hung zum Den­ken aus der eige­nen und für die eige­ne Gegen­wart. “Fremd­ver­ste­hen” ist also — wie Bri­git­te Deh­ne 2008 auch gezeigt hat — kein Selbst­zweck. Es kann nicht dar­um gehen (bzw. damit been­det sein), dass Schü­le­rin­nen und Schü­ler ler­nen, “mit ande­ren Augen zu sehen”, son­dern sie sol­len ein Sehen mit eige­nen Augen ler­nen, das sich aber der ande­ren Per­spek­ti­ve (in zeit­li­cher wie kul­tu­rel­ler, indi­vi­du­el­ler etc. Hin­sicht) bewusst ist.

Etwas “nur” vor dem Hin­ter­grund der Ver­gan­gen­heit ver­ste­hen zu kön­nen, bedeu­tet also — anders als es die For­mu­lie­rung sug­ge­riert — gera­de kein Abse­hen von der Gegen­wart. Viel­leicht soll­te man das auch immer wie­der kla­rer formulieren.

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