Vor etwa vier Wochen habe ich anlässlich des damals gerade begonnenen russischen militärischen Überfalls auf die Ukraine einige Bemerkungen zur Rolle und Bedeutung des Beutelsbacher Konsenses in der Historischen und Politischen Bildung formuliert und in diesem Zusammenhang auch an einer Sendung der Reihe „Campus und Karriere“ des Deutschlandfunk1 teilgenommen. Es ging mir dabei zentral darum, den Stellenwert des Beutelsbacher Konsenses zu klären und zu bekräftigen – gerade auch durch Reflexion auf mögliche missverständliche Anwendung.
Die intensiven öffentlichen Diskussionen der letzten Wochen und Tage um die Frage, wie Deutschland in dieser Lage politisch Handeln kann und soll haben m.E. gezeigt, dass solche Klärungen weiterhin, ja wohl nie abgeschlossen, nötig sind, und dass der Beutelsbacher Konsens – richtig verstanden und angewandt – darin durchaus als Leitlinie unverzichtbar bleibt, aber eben falsch verstanden und angewandt auch problematisch sein, ja, missbraucht werden kann.

Im Fokus steht dabei vor allem das zweite Prinzip des „Beutelsbacher Konsenses“, das Kontroversitätsgebot. Was in Wissenschaft und (ich würde ergänzen: oder) Gesellschaft strittig ist, müsse auch im Unterricht als strittig, als kontrovers erscheinen. Ich habe vor vier Wochen argumentiert, dass dieses Gebot gerade keines einer Neutralität, einer Wertfreiheit ist. Ich möchte das nun etwas weiter ausführen.

Zunächst: Dass jeglicher Konflikt, jeder Interessensunterschied, jeglicher Gegenstand politischer Auseinandersetzung und Willensbildung, der irgendwie Thema ist, in dem Sinne „ausgewogen“, „ausbalanciert“ dargestellt, ggf. durch Aufgaben strukturiert und mit Material so unterfüttert werden muss, dass bei der gemeinsamen Analyse der Materialien, der Bearbeitung der Aufgaben, der Erwägung der Probleme, also beim Sach- und Werturteilen immer eine Balance in dem Sinne resultiert, die „beiden“ (oder allen) Seiten gleiches Gewicht, gleiche Chance auf Zustimmung etc. einräumt, lässt sich aus dem Kontroversitätsgebot des Beutelsbacher Konsenses nicht ableiten.
Wäre es so, bliebe historisch-politische Bildung eine Art wert- und konzeptbefreiter Übung in Techniken, beförderte aber nicht den Erwerb und die Entwicklung von Kompetenzen und Einsichten. Kontroversität erfordert durchaus die Möglichkeit einer Pluralität von Sach- und Werturteilen, von durchaus unterschiedlichen Einsichten, aber weder eine mechanische, formale „Balance“ und „Ausgewogenheit“, bei der jegliche Position gleiche „Chancen“ und gleiches Gewicht hat, noch Einheitlichkeit. Worum es vielmehr geht, ist die Erinsicht in die Tatsache und die Strukturen, dass solche Fragen (vom kleinen, alltäglichen bis zum Großen) nie nur aus einer Perspektive betrachtet werden können, dass unterschiedliche Interessen natürlich, ja notwendig gegeben sind in heterogenen, diversen und pluralen Gesellschaften, dass es deshalb normal ist, dass Fragen unterschiedlich beurteilt werden – dass es aber keineswegs egal ist, aus welchen Perspektiven, mit welchen Kategorien, unter Zugrundelegung welcher Konzepte und Werte diese Fragen analysiert, diskutiert, beurteilt werden, sondern dass gerade die Auseinandersetzung über solche Fragen der Beurteilung, der Klärung von Perspektiven, Positionalitäten (etwa des Betroffen-Seins) und Positionen, Begriffen und Konzepten geeignet und nötig ist, um zu Klärungen beizutragen, die weder einige auf Kosten anderer überwältigen, ausgrenzen, diskriminieren, noch jegliche Klärung verhindern.
Kontroverse Thematisierungen sollten somit weder auf gemeinsame, einheitliche und für alle verbindliche Einsichten, Entscheidungen, Urteile etc. abzielen – sei es per Mehrheitsbeschluss, sei es durch das Material, durch die Aufgabenstellung etc. vorgegeben, durch erwartete Notengebung nahegelegt oder anderes. Ebensowenig aber erscheint es sinnvoll aufgrund des Kontroversitätsgebotes und einer Orientierung auf Pluralität den Eindruck zu befördern, Einigungen – etwa in Form von Kompromissen oder auch mittels Abstimmungen – seien grundsätzlich nicht möglich und auch nicht anzustreben. Beides erscheint in Kontexten kontroversitätsorientierter politischer Bildung nicht angemessen: weder die Vorstellung, eine Frage abschließend geklärt zu haben (immerhin sind die Rahmenbedingungen und die zur Verfügung stehenden Perspektiven etc. innerhalb eines Unterrichts begrenzt) noch die Vorstellung, es gäbe keine weiteren Möglichkeiten von Annäherung, Kompromissfindung, Verschiebung der Perspektiven auf das Problem etc., wird der Bedeutung von Kontroversität in der Gesellschaft gerecht. Somit eignen sich weder direktives „Ausdiskutieren“ noch völlige Ergebnisoffenheit als Modi der Thematisierung.

Diese Frage des Ausmaßes der Ergebnisoffenheit dominiert aber soweit ich sehe die Debatte um das Kontroversitätsgebot – allerdings weniger mit einem konsensorientierten „Ausdiskutieren“ als Gegenpol als vielmehr der Frage, inwiefern bestimmte Kontroversen nicht per se „direktiv“, also mit feststehendem Ergebnis zu thematisieren sind.

Aus dem Kontroversitätsgebot (nicht nur) des Beutelsbacher Konsenses wird oft abgeleitet dass „alles, was gesellschaftlich umstritten ist, im Unterricht zur Diskussion gestellt und dem individuellen Urteil der einzelnen Schülerin, des einzelnen Schülers unterworfen werden“ sollte.((So die Formulierung zum Beitrag des Geschichtsunterrichts zur Leitperspektive „Wertebildung / Wertorientierung“ im aktuellen Entwurf des Hamburger Bildungsplans Studienstufe. Vgl. Freie und Hansestadt Hamburg; Behörde für Bildung und Sport: Bildungsplan Studienstufe Geschichte. Online: https://www.hamburg.de/bildungsplaene/15944904/geschichte-gyo-entwurf-2022/, S. 7)) Diese Formulierung entspricht der breiten Auffassung, das Kontroversitätsgebot gebe vor, „Sachverhalte, die in politischen und wissenschaftlichen Debatten kontrovers diskutiert werden, auch im Unterricht kontrovers zu diskutieren“, wobei durchaus strittig diskutiert wird, inwiefern (bzw. bei welchen Gegenständen und Fragen) solche Diskussionen „mit offenem Ausgang“ erfolgen sollten, oder aber „direktiv“.2
Zur Entscheidung über Offenheit und/oder „Direktivität“ solcher Diskussionen werden in der internationalen Debatte drei Perspektiven herangezogen, die – in einer Antwort auf Johannes Drerup – Johannes Giesinger sehr prägnant wie folgt charakterisiert:

„Nach dem ’sozialen‘ Kriterium ist all das kontrovers zu präsentieren, was in der Gesellschaft tatsächlich kontrovers ist. Gemäß dem ‚politischen‘ Kriterium sollen die Grundprinzipien der liberalen Demokratie direktiv unterrichtet werden, während kontroverse religiös-weltanschauliche Fragen mit offenem Ausgang zu präsentieren sind. Das ‚epistemische‘ Kriterium wiederum geht von Standards der Wahrheit und moralischen Richtigkeit aus und besagt, dass offensichtlich Unwahres und Unrichtiges nicht kontrovers dargestellt werden soll.“((Giesinger, Johannes (o.D.): Zur Kontroverse um das Kontroversitätsgebot: Ein politisch-liberales Kriterium. In: Praefaktisch (Blog), o.D. Online: https://www.praefaktisch.de/bildung/zur-kontroverse-um-das-kontroversitaetsgebot-ein-politisch-liberales-kriterium/.))

Die Originalformulierung des Beutelsbacher Konsenses((Wehling, Hans-Georg (1977): Konsens à la Beutelsbach? Nachlese zu einem Expertengespräch. In: Siegfried Schiele, Herbert Schneider und Kurt Gerhard Fischer (Hg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung. Stuttgart: E. Klett (Anmerkungen und Argumente zur historischen und politischen Bildung, 17), S. 173–184, hier S. 178; wieder in Jochen Schmidt und Steffen Schoon (Hg.): Politische Bildung auf schwierigem Terrain. Rechtsextremismus, Gedenkstättenarbeit, DDR-Aufarbeitung und der Beutelsbacher Konsens. Schwerin: Landeszentrale für Politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern, S. 67–77, hier S. 73; vgl. auch Wehling, Hans-Georg (o.J.): Der Beutelsbacher Konsens: Entstehung und Wirkung. Online: https://www.lpb-bw.de/wiebeutelbacherkonsensentstand, letzter Zugriff: 06.08.2021; m.Herv.)) entspricht offenkundig dem „sozialen“ Kriterium, wogegen Drerup – Giesinger zufolge – die beiden anderen verbinde, um dem Problem zu begegnen, letztlich auf objektiv (dem epistemischen Kriterium zufolge) unsinnige und/oder (dem politischen Kriterium zufolge) den freiheitlich-demokratischen Grundwerten widersprechende Positionen in solchen Diskussion zulassen zu müssen. Gerade der letztere Aspekt stellt eine enge Verbindung auch Herausforderung des Umgangs mit Werturteilen im Unterricht und unterrichtlichen Urteilens her, für die eine Bindung an die freiheitlichen Normen gelte – und sie betrifft damit auch ganz explizit die aktuelle Frage der Thematisierung des Überfalls auf die Ukraine.((Vgl. Drerup, Johannes (o.D.): Nicht werten? Demokratieerziehung in Zeiten des Krieges. In: Praefaktisch (Blog), o.D. Online: https://www.praefaktisch.de/krieg-und-frieden/nicht-werten-demokratieerziehung-in-zeiten-des-krieges/.))
Inwiefern die sich in der Praxis stellenden Fragen sowohl zum konkreten Gegenstand „Ukraine-Überfall“ als auch allgemein zur Frage der Bedeutung von Kontroversität mit Hilfe dieser Überlegungen bereits geklärt werden können, ist doch fraglich. Nicht nur erweist sich das epistemologische Kriterium insofern selbst als problematisch, als Kontroversen nicht nur (aber auch) im Sinne des Beutelsbacher Konsenses nicht nur Werturteilsfragen betreffen, wogegen alle sachlich zu klärenden und auf Fragen korrekter Anwendung von Erkenntnisprinzipien zu reduzierende Probleme ihnen letztlich entzogen werden könnten und somit „direktiv“ zu thematisieren wäre, denn immerhin ist die Kontroverse auch ein grundlegendes Strukturelement von Wissenschaften – und gerade auch von Naturwissenschaften. Will man die Formulierung des Beutelsbacher Konsenses, was „in Wissenschaft und Politik“ kontrovers ist, nicht von vornherein auf den im engeren Sinne politischen Bereich einschränken, muss anerkannt werden, dass nicht nur über normative Fragen und Werturteile, sondern auch über Sachurteile, d.h. über die korrekte Anwendung von Konzepten, Begriffe, Methoden etc., über deren Verständnis und Reichweite etc. kontrovers verhandelt werden kann – und dass auch solche Kontroversität in Schule ihren Platz haben muss, will und soll sie die Lernenden auf die Teilhabe an einer Gesellschaft vorbereiten, in der auch Ergebnisse, Prinzipien und Verfahren von Wissenschaft letztlich öffentlicher Reflexion und Debatte zugänglich sind. Drerups Anwendung des epistemologischen Kriteriums auf Sachfragen((Giesinger weist darauf hin, dass das epistemologische Kriterium zuvor von Michael Hand gerade für moralische Fragen formuliert wurde. Vgl. Giesinger, ebda.)) ist sachlich zuzustimmen, es taugt aber m.E. weder in Bezug auf moralische (wie bei Hand) noch in Bezug auf sachliche Fragen als Begründung für eine direktiv-vermittelnde Thematisierung: Schüler*innen müssen auch erfahren, dass und wie selbst Fragen, die einer rationalen Klärung zugänglich sind, nicht einfach als geklärt gesetzt gelten können – zumal auch erreichte Erkenntnis- und Forschungsstände immer wieder neu in Frage gestellt werden.

Weder allgemein noch in Bezug auf das hier behandelte Problem sind die drei Kriterien also hinreichend, um die Art und Weise kontroverser Thematisierung hinreichend zu klären. Vielleicht hilft es in dieser Situation, noch einmal einen Blick darauf zu werfen, was das Kontroversitätsgebot eigentlich fordert. Ist es tatsächlich so, dass Kontroversität bedeutet, dass immer diskutiert werden muss – egal ob ergebnisoffen oder zielorientiert?

Gerade dies erscheint mir keineswegs zwingend. Sicher gehört das Diskutieren, das Erfahren politischer Streitkultur und Diskursivität, auch das Erfahren der Bedeutung einer agency im Argumentieren, im Widersprechen und Widerspruch erhalten, zu denjenigen Grunderfahrungen von Demokratie als Lebensform, die in Schule immer wieder ihren Platz haben müssen. Es geht mir hier also nicht darum, sach- und wertbezogene Diskussionen aus dem Unterricht hinauszudrängen – im Gegenteil. Gleichwohl erscheint es mir als durchaus fraglich, dass das direkte Diskutieren kontroverser Fragen im Unterricht die einzige und für alle Fragen geeignete Form ist, dem Kontroversitätsgebot des Beutelsbacher Konsenses gerecht zu werden. Es ist zu fragen, ob es nicht weitere Facetten und Formen der Thematisierung von Kontroversität als gesellschaftlichem Grundprinzip sowie von tatsächlichen, konkreten Kontroversen gibt, welche ergänzend (etwa im Vorfeld, zwischen mehreren Instanzen solcher Diskussionen) oder an ihrer Stelle wichtige Funktionen übernehmen können – je nach Struktur des Gegenstandes, der Involviertheit von Lernenden, ihrer Familien und peer groups in diese Kontroversen sowie aus pädagogischen Gründen auch bevorzugt gewählt werden können.

Die folgenden Überlegungen sollen direkte Diskussion in unterrichtliche Zusammenhängen in keiner Weise ausgeschlossen oder von ihr abgeraten werden: Debatten über gesellschaftliche Kontroversen sind auch im Unterricht immer wieder sinnvoll. Gleichzeitig soll aber durchaus die zitierte Selbstverständlichkeit insofern einer Reflexion unterzogen werden, inwiefern die Art und Weise kontroverser Thematisierung nicht nur von der Qualität und Struktur der Themen und Fragestellungen her, sondern auch von möglichen Anforderungen an und Auswirkungen auf die Lernenden her und von der Struktur der gesellschaftlichen Kontroversität her bedacht werden muss.
Wie bereits erwähnt, besagt das Kontroversitätsgebot in seiner Beutelsbacher „Urfassung“ zunächst nicht, dass die kontroversen Fragen zwingend von den Schüler*innen strittig diskutiert werden sollen.
Die Formulierung stellt vielmehr darauf ab, dass was „in Wissenschaft und Politik kontrovers ist“, „auch im Unterricht kontrovers erscheinen“ müsse3. Das meint also zunächst einmal, die Kontroversität solcher Fragen weder zu leugnen noch zu verschweigen, sondern die Tatsache, dass über sie in der Gesellschaft diskutiert wird, deutlich werden zu lassen, und das (in den allermeisten Fällen) diese Kontroversität zur Normalität in pluralen und diversen Gesellschaften gehört und in Demokratien ausgehalten und ausgetragen werden muss. Von einem Auftrag, solche Fragen im Unterricht zur Diskussion zu stellen, kontroverse Fragen im Unterricht, d.h. in einem gerade nicht freiwilligen und auch nicht hierarchiefreien Kontext „diskutieren zu lassen“ oder gar „ausdiskutieren“ zu lassen und dabei vielleicht Lernende noch zu nötigen, ganz persönliche Betroffenheiten und /oder Meinungen kund tun zu müssen, ist dort aber gerade nicht die Rede.

Auch die folgende – fragend gehaltene – Formulierung, ob die Lehrkraft „nicht sogar eine Korrekturfunktion“ insofern „haben sollte […] solche Standpunkte und Alternativen besonders herausarbeiten“ zu sollen, „die den Schülern (und anderen Teilnehmern politischer Bildungsveranstaltungen) von ihrer jeweiligen politischen und sozialen Herkunft her fremd sind“, widerspricht dem nicht – im Gegenteil: sie bekräftigt, dass es nicht um die Austragung in der Lerngruppe sowieso vorhandener Positionen und Argumentationen geht, sonder um die Einsicht in die gesellschaftliche Kontroversität und das Spektrum der Perspektiven, Positionen, Argumente, Logiken und Werte.

Das bedeutet natürlich nicht, dass im Unterricht nicht diskutiert und abgewogen werden soll – im Gegenteil. Es muss Schüler*innen und Schülern erlaubt sein, im Unterricht ihre eigenen, durchaus unterschiedlichen Auffassungen zu kontroversen Fragen zu äußern – und das gerade auch dort, wo diese Meinungen noch nicht gefestigte Überzeugungen sind, sondern wo Lernende nach Sicherheiten und Positionen suchen, um sie ringen, Sicherheit in der Verfügung über Kenntnisse, Begriffe und Konzepte und Kriterien suchen. Schule muss in dieser Hinsicht gerade in Fächern, in denen Überzeugungen und Orientierungen im Spiel sind, einen gewissen Schon- und Schutzraum bieten. Bekenntnisse und abschließende Urteile dürfen dabei aber gerade nicht abgefordert werden. Oft ist es sinnvoll und möglich, dass Lernende bestimmte Urteile und die ihnen zugrunde liegenden Überlegungen, Werte, Hypothesen nicht als sie selbst, sondern in Übernahme einer mehr oder weniger fremden Perspektive (auch Rolle) ausprobieren, so dass sie in die Lage versetzt werden, ihre eigenen persönlichen Schlussfolgerungen ggf. individuell und für sich zu ziehen. In vielen Fällen werden es im Sinne des Kontroversitätsgebots auch nicht die großen Konflikte selbst sein, die unterrichtlich fruchtbar thematisiert werden können, sondern zu ihnen in der Gesellschaft vorfindliche Diskussionen um Haltungen, Begriffe, Konzepte, Positionen. Das ist gerade für den Geschichtsunterricht bedeutsam. So sinnvoll es etwa ist, auch im Rahmen von Rollen- und Planspielen vergangene Konflikte und die Handlungsoptionen der Akteure „rollen-spielerisch“ zu erschließen, so wenig darf der Eindruck entstehen, dass die Überlegungen und Hypothesen im Unterricht die reale Lage auch nun annähernd abbilden und dass somit im Unterricht in bestimmte Weise valide Lösungen erarbeitet werden könnten. Entsprechend kann es auch nicht darum gehen, eigene Haltungen zum Konflikt „auszudiskutieren“, sondern vielmehr anhand solcher Rollenspiele die Viel- und Mehrdimensionalität der Konfliktlagen wie (das ist für diesen Absatz einschlägig) die Wertbezogenheit des Handelns der Akteure erschließbar zu machen.

Vielleicht hilft ein erster Versuch einer Typologie von Diskussionen weiter:

  1. Problemorientierte Diskussionen: Ausgehend von einer Problemstellung werden – ggf. vorbereitet durch problemorientierte Erschließung von Grundlagen hinsichtlich des Gegenstands- und Konzeptwissens, der Erschließung von Positionen und Argumenten – damit verbundene Sach- und Werturteilsfragen mit dem Ziel einer gemeinsamen Lösungsfindung zur Diskussion gestellt und sowohl Positionen, Argumente und Begründungen ausgetauscht, so dass am Ende entweder eine (offene) Abstimmung zu einer gemeinsamen Beurteilung/Haltung oder ein (geheimes) „Meinungsbild“ erkennbar wird.
  2. Offene Disputation: Ähnlich der Problemorientierten Diskussion werden Positionen und Argumente sowie Begründungen und Belege ausgetauscht, durchaus mit dem Ziel der Überzeugung anderer, aber absichtlich ohne (Probe-)Abstimmung oder Meinungsbild, sondern mit der Maßgabe, dass die Urteilsfindung jede*r Einzelnen nicht abgeschlossen sein kann.
  3. Analytische Diskussion: Ausgehend von einer (offenen und/oder anonymen) Eingangserhebung unterschiedlicher Positionen und Argumentationen zu einer Problem- und Wertungsfrage, bei der Lernenden sowohl ihre eigenen Positionen als auch solche einbringen können, die sie ihnen begegnet sind, werden deren Unterschiede hinsichtlich Prämissen, Werten, Normen etc. unterrichtlich identifiziert und analysiert – durchaus auch hinsichtlich ihrer Plausibilität und Kohärenz, ohne dass zum Schluss die Lernenden noch einmal selbst ihre eigene Position zur Frage selbst ausdrücken müssen. Statt dessen können Einsichten und Fragen zu einzelnen Positionen, Argumenten etc. formuliert und vergleichen werden.

Es ging mir vor vier Wochen vor diesem Hintergrund aber gerade auch darum, dass nicht jeder Konflikt, jegliche Auseinandersetzung in gleicher Art und Weise als „Kontroverse“ im Sinne des Beutelsbacher Konsenses interpretiert werden kann, sondern dass vielmehr auch die Natur unterschiedlicher Formen von Auseinandersetzung, Streit etc. eingeschätzt werden und einzuschätzen gelernt werden muss. Allein aus der Existenz unterschiedlicher Positionen, Parteien etc. kann nicht auf eine gemeinsame Struktur „Konflikt“ bzw. „Kontroverse“ geschlossen werden: Nicht jeder Konflikt ist eine Kontroverse, nicht jede Gewalttat ist ein „Konflikt“ usw. Vielmehr sind es gerade die zur Charakterisierung, Beurteilung und Bewertung unterschiedlicher Problem- und Fragestellungen nötigen und herangezogenen Konzepte, Positionen, Kriterien und Werte, also gewissermaßen solche des „Vor-“ und „Umfelds“ politischer Auseinandersetzungen, die in viel zentraler sind für politisches Lernen, insofern sie in der Gesellschaft und Wissenschaft kontrovers sind und ihre (zunehmende) Klärung für die Teilhabe der Mitglieder der Gesellschaft nötig und für die Lernenden somit eine zentrale Dimension des Lernens ist. Oft sind es also nicht die großen Konflikte und Fragen, welche die eigentlichen Kontroversen ausmachen, sondern die ihnen vor-, an- und umgelagerten Kontroversen um Begriffe, Werte usw.

Hier nur kommen (aktuell) die derzeitigen (und jüngsten, aber auch frühere) Geschehnisse in der Ukraine (samt Umfeld) in den Blick. Hier tun sich wesentliche und sowohl für unser Handeln und Debattieren als Mitglieder der Gesellschaft wie auch für historisches und politisches Lernen wesentliche Kontroversen auf. Es macht einen Unterschied aus, ob bzw. inwiefern das dortige militärische Handeln aller oder einiger Akteure als „Krieg“, „Militärische Spezialoperation“, „Bewaffneter Überfall“, oder anders bezeichnet und beurteilt wird, und ob und in welcher Weise, diese Konzepte einander ausschließen, miteinander vereinbar sind – und was jeweils daraus für die Einschätzung und Beurteilung folgt. Keine der Charakterisierungen und Einschätzungen ist dabei einfach entweder „richtig“ oder „falsch“, keine trifft „die Natur“ der Ereignisse in Formen, die einfach an ihnen ablesbar wären. Oft sind sogar ihre Anwendungen kontingent und ambivalent.

Das ist alles andere als trivial:

    • Schon die Frage, „ob“ es sich um einen „Krieg“ oder eine militärische Spezialoperation, einen „bewaffneten Überfall“, Völkermord/Genozid, Kriegsverbrechen oder etwas anderes handelt, ist in ihrer binären ob/ob-nicht-Form problematisch. Gibt es (nur) einen über alle Zeiten und für alle Zusammenhänge geklärten Begriff von Krieg? Wohl kaum. Schließen sich „Genozid“ und „Vernichtungskrieg“ gegenseitig aus? Sind es Alternativen?
    • Obwohl mit ihrer Hilfe Kombinationen und Unsicherheiten markiert werden können, wird m.E. aber auch die Frage- bzw. Problemstellungsformulierung, „inwiefern“ diese Charakterisierungen auf das gegenwärtige Geschehen zutreffen, der Sache nicht völlig gerecht, denn auch sie setzt gewissermaßen geklärte Konzepte voraus, die dannn lediglich auf „Passung“ geprüft werden müssen und können. Mindestens zwei weitere Differenzierungen sind somit erforderlich:
      • Beurteilen bzw. meinen wir jeweils wir „das Geschehen“ als Ganzes, oder muss zwischen Akteur*innen mit unterschiedlichen Positionen darin unterschieden werden? Sind also die Verteidigungshandlungen der ukrainischen Armee im selben Sinne „Krieg“ wie diejenigen der das Land überfallen habenden russischen Militärs? Was also bedeutet es, wenn wir über „Krieg“ sprechen. Kann (darf? muss?) man gleichzeitig „Krieg“ als Mittel der Politik ächten und für falsch halten und die Verteidigung der Ukraine unterstützen?
      • Was implizieren die Konzepte und Begriffe, die wir jeweils anwenden? Die russische Regierung bezeichnet ihr Agieren in der Ukraine gerade nicht als „Krieg“, sondern als „militärische Spezialoperation“, wogegen die internationale (westliche) Politik und Berichterstattung überwiegend sofort den Begriff „Krieg“ verwendet hat. Was impliziert das? Versteht man die Frage so, welcher Begriff (allein) zutreffend ist, und versucht, sie anhand von Merkmalen zu beantworten, kommt man nur ein Stück weit. Es ist nur die Frage, ob „es“ „ein Krieg“ ist, oder nicht, sondern auch, was die Verwendung der Begriffe impliziert. Bedeutet die Verwendung des Begriffes „Krieg“ gegenüber dem vom offiziellen Russland verwendeten Begriff einerseits die deutliche Markierung, dass es hier um einen internationalen „Konflikt“ ( dazu s.u.) geht, und nicht um eine irgendwie geartete „innerrussische“, quasi innenpolitische Aktion (etwa im Sinne der Durchsetzung höheren staatlichen Rechts gegen Separatisten), so impliziert sie doch zugleich auch, dass es sich um eine mehr oder weniger anerkannte, ja geregelte Form politischen Handelns handelt. Wo Krieg ist, herrscht Kriegsrecht, und ist zumindest das Töten feindlicher Kombattanten kein „Mord“ im strafrechtlichen Sinne. Will/darf/soll man das hier implizieren? Immerhin ist der Krieg nicht im formellen Sinne erklärt worden. Man kann (muss?) auch erwägen, inwiefern das Geschehen nicht für die russische Seite nicht erst durch die Angriffe auf zivile Ziele und die brutale Tötung von Zivilisten als (staatlicher) zu bezeichnen ist, weil es gerade nicht ein Handeln in einem „normalen“ zwischenstaatlichen Konflikt ist? Inwiefern ist es also sinnvoll, und welche Konsequenzen hat es, zu unterscheiden zwischen den Abwehrmaßnahmen der Ukraine als im Sinne der internationalen Beziehungen und des Kriegsrechts (Recht zum Krieg) legitime Handlungen, die Handlungen der russischen Seite aber nicht? Inwiefern muss man nicht andererseits auch für letztere die Einhaltung der Bestimmungen des Rechts im Krieg einfordern (etwa hinsichtlich der Behandlung Gefangener, des Verbots ihrer öffentlichen Zurschaustellung, etc.)?
      • „Konflikt“: Ähnlich steht es mit der Kategorie und dem Begriff „Konflikt“. Appelle zur (Rückkehr zur) friedlichen Konfliktbeilegung sind und bleiben notwendig. Inwiefern ist das, was in der Ukraine geschieht, aber ein „Konflikt“? Inwiefern impliziert oder zumindest konnotiert die Verwendung dieses Begriffs eine zumindest formal gleiche agency der Parteien, der Beteiligten? Forderungen etwa danach, die „Logik des Krieges“ zu überwinden, wie sie etwa der Linken-Politiker Bernd Riexinger etwa auf Twitter formuliert hat, sind dringend nötig, implizieren aber, dass es eine auch nur ansatzweise gleichartigen Konfliktgegenstand gibt. Gegenpositionen formulieren, dass dies angesichts vorangegangener und zwischenzeitlicher „Deutungen“, die Ukraine sei kein eigener Staat, es gäbe kein ukrainisches Volk, angesichts von Zielen der Vernichtung der staatlichen Struktur oder gar der ukrainischen Identität zumindest hoch problematisch sind.

Auch diese Fragen können nicht abschließend beantwortet werden – wie auch die sich daran anschließende ganze Reihe weiterer:  etwa dazu, ob bzw. inwiefern das Konzept des „Genozids“ zur Charakterisierung des Handelns russischer Militärs und der russischen Regierung zugleich passend und hilfreich ist (etwa sofern es auf Konzepte von Volk abstellt und ggf. nicht in irgendeinem „ethnischen“ Sinne ukrainische Teile der Bevölkerung ausschließt), inwiefern Kritiken von Nations-Konzepten und nationaler Kulturkonzepte in Bezug auf die Ukraine angebracht sind angesichts der Tatsache, dass der Ukraine die Qualität, ein eigener Staat, eine eigene Nation, ein Volk zu sein (oder zu haben) zum Zwecke der Überfalls oder als Begründung desselben abgesprochen wurde, darf doch die Anerkennung der zur und bei der Verteidigung stattfindenden Identitätsbildung wiederum nicht dazu führen, die Grenzen und Problematiken solcher Nationskonzepte auszublenden. Wiederum kann es also nicht nur um Sach- und Werturteile darüber gehen, „ob“ oder „inwiefern“ die Ukraine eine „Nation“ darstellt, und ob sie sich so verstehen oder so verstanden werden darf, sondern was die Verwendung dieser Konzepte jeweils impliziert, was sie leisten, inwiefern sie auch problematisch bleiben und differenziert bzw. mit anderen verbunden werden müssen.

Bei den meisten der angesprochenen Fragen handelt sich auf einer ersten Ebene um Sachurteilsfragen, um solche der Einschätzung von Phänomenen, Bedingungen, Strukturen, Handlungen anhand von Konzepten, die ihrerseits hinsichtlich ihrer Definition, Reichweite, Implikationen einzuschätzen sind – und das differenziert. Die Fragen implizieren – nicht zuletzt wegen letzterer Implikationen und Reichweiten – aber immer auch Wert-Urteile, die in ähnlicher Weise kontrovers sind und von den Sach-Urteilen oft nur analytisch zu trennen (wobei die Unterscheidung selbst konzeptuell und didaktisch notwendig, selbst keineswegs trivial und ihrerseits zuweilen kontrovers ist, aber eben auch kognitiv bearbeitbar)4

Und in diesem Sinne sind es eben auch Werturteile und Handlungsdispositionen in unserer Gesellschaft, die in derart relevanter Form kontrovers sind – und auch sie enthalten (fast möchte man sagen: natürlich) unterschiedliche Bezüge zu Sachurteilen – sei es, dass sie u.a. auf solche aufbauen, sei es, dass sie wiederum andere Sachurteile unterfüttern.

Dazu gehören unter anderem Haltungen zu Krieg und Frieden sowohl abstrakt als auch im konkreten Fall. Für viele Angehörige der politischen Linken (nicht nur der Partei, sondern dem Spektrum von Haltungen und Positionen) etwa basieren sie nicht zuletzt auf einer antifaschistischen Grundhaltung, die oft in der Formel „Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg“ zusammengefasst wird und im Bestandteil „nie wieder“ zumindest wesentliche Übereinstimmungen mit anderen normativen Verpflichtungen aus der Erfahrung mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und seinem Überfall auf andere Länder sowie der Verfolgung unterschiedlicher „Minderheiten“ (einschließlich ihrer Ausgrenzung als solche) aufweist. Was dieses „nie wieder“ aber konkret beinhaltet, worauf es sich bezieht, das ist keineswegs so eindeutig und klar, wie es die zitierte Formel scheinen lässt. Unter anderem Natan Sznaider hat in seinem jüngsten Buch „Fluchtpunkte der Erinnerung“5 die Pluralität dieser äußerlich gleich lautenden Imperative analysiert. Es sind nämlich unterschiedliche möglich – von einem „Nie wieder (an) uns“ aus einer partikularen jüdischen Opfer-Erinnerung, über ein „Nie wieder durch uns“, einer ebenso partikularen, sich ihrer Geschichte stellenden und somit keineswegs selbstverständlichen Täter-Nachfolge-Erinnerungs-Perspektive sowie deutliche abstraktere bzw. unversalisierte Forderungen, „so etwas“ dürfe „überhaupt nie wieder“ stattfinden, also durch niemanden. In diesem Spektrum sortiert sich auch die zitierte antifaschistische Formel „Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg“ ein.6 Je nach Lesart lassen sich unterschiedliche Positionierungen und Handlungen, also Historische Orientierungen ableiten bzw. damit begründen. Ist jeglicher Krieg zu vermeiden und somit auch jegliche Unterstützung von Krieg führenden Parteien – auch wenn es sich um etwa antikoloniale, antiimperialistische oder antifaschistische Verteidigung handelt? Oder folgt daraus vielmehr, dass solche Unterstützung von Verteidigungskriegen – etwa mittels Waffenlieferungen oder auch Intervention – geradezu geboten ist?

Auch die Auseinandersetzung über Schlussfolgerungen und Positionen dazu, welche konkrete Konsequenz also gerade auch aus der besonderen deutschen Verantwortung zu ziehen ist, ist somit abstrakt als auch im konkreten Fall eine valide Kontroverse im Zusammenhang des Ukraine-Krieges, zumal sie sich gerade nicht nur als eine binäre Opposition von konservativ-national(istisch) bis militaristischen Positionierungen einer- und geschichtsbewussten, verantwortungsorientierten bis linken Positionierungen darstellt, sondern auch „innerhalb“ wesentlicher politischer Grundorientierungen unterschiedliche Argumentationen und Schussfolgerungen zu finden sind.

Alle diese Fragen sind somit in jenem Sinne kontrovers, den der Beutelsbacher Konsens adressiert: Es geht um Sach- und Werturteile, die in unserer Gesellschaft weder beliebig noch einfach bereits beantwortet wären, und deren mehr oder weniger unterschiedliche Beantwortungen auch nicht folgenlos sind. Weder kann es darum gehen, allein eine Lösung zu erreichen in der gesellschaftlichen Kontroverse und sie dann mit allen möglichen Konsequenzen für verbindlich zu erklären, noch darum, in Lernprozessen eine solche den Lernenden verbindlich vorzugeben. Vielmehr müssen sowohl die gesellschaftliche Diskussion und Debatte wie auch Lernprozesse die Leistungen und Grenzen, die Bedingungen und Konsequenzen jeweils unterschiedlicher Positionen, Verständnisse, Deutungen etc. erhellen und klären, ohne letztlich dem Einzelnen die Möglichkeit eines eigenen Verständnisses und einer eigenen Haltung zu nehmen – aber auch die Verantwortung dafür, denn (auch das gehört zur Diskussion wie zum Lernen) das jeweils eigene Denken, Urteilen und Handeln findet weder isoliert von allen anderen statt noch bleibt es für das gemeinsame Handeln in der Gesellschaft folgenlos. Mehr noch: Für solches gemeinsames Handeln ist es zwar keineswegs nötig, sondern eher noch schädlich, dass alle das Gleiche denken und tun, und dass alle davon ausgehen, eine solche Einheitlichkeit würde herrschen – wohl aber ist es eine Voraussetzung für solches Handeln, sich über das Spektrum der unterschiedlichen Positionen und Urteile sowie Handlungsmaximen und in der so strukturierten Gesellschaft zu orientieren – einschließlich der wiederum diskursiven (und somit kontroversen) Klärung der Grenzen dessen, was an Positionen, Werten, Konzepten und Kriterien anerkannt werden kann und soll.

Schüler*innen, die Fragen wie die oben skizzierten erwägen, diskutieren, zu klären versuchen, lernen – wohl gerade auch wenn sie nicht zu einem einheitlichen, memorierbaren und abfragbaren Ergebnis kommen – mehr als wenn sie vorgegebene, vermeintlich zeit-, raum-, kultur- und fallübergreifende Merkmale und Eigenschaften bestimmter Konzepte und Strukturen einfach anzuwenden lernen. (Welche Kriterien werden dadurch nicht wertlos, müssen aber immer mehr und anderes sein als ein Instrument des Urteilens, nämlich immer wieder auch Gegenstand desselben).

Unterrichtlich, d.h. didaktisch, müssen dazu natürlich entweder die Fragen etwas anders formuliert werden – so, dass sie nicht vornehmlich Entscheidungsalternativen darstellen, sondern auf Erschließung der ihnen jeweils zugrunde liegenden Konzepte, Einsichten, Werte etc. zielen – oder aber die Antworten auf als Entscheidungsalternativen formulierten Fragen in solche Differenzierungen überführt werden. Das Kontroversitätsgebot des Beutelsbacher Konsenses fordert gerade nicht, die Kontroversen, denen die Schüler*innen auch in ihrer Lebenswelt im Alltag (etwa in den Medien, im Elternhaus ) begegnen, und die sie natürlich beschäftigen (bis hin zu Diskussionen untereinander auf dem Schulweg, in Pausen, in der eigenen Peer-Group), im Unterricht auszutragen, sondern in Anerkennung und Offenlegung ihrer Existenz dazu beizutragen, den Lernenden ihren Grundlagen und Strukturen, die die einzelnen Positionen und Parteien mit ihren Interessen, Denkweisen und Rationalitäten sowohl zu erschließen, so dass sie sie jeweils für sich als auch in ihrem Zusammenspiel erkennen, einschätzen und beurteilen können.

Das wiederum verbietet keineswegs, die gesellschaftlich virulenten Urteils- und Entscheidungsfragen auch im Unterricht so zu formulieren, wohl aber zum Einen, die Diskussion auf eine für alle verbindliche oder auch nur gegenüber der Gruppe und der Lehrkraft zu begründende je individuelle Lösung zu gelangen. Diese je persönliche Entscheidungsfindung, das eigene Urteil, liegt außerhalb des Bereichs, in dem die Schule eine konkrete Leistung abfordern darf. Was hingegen sehr wohl in diesen Bereich fällt, und wo Schule sowohl Angebote machen, Herausforderungen setzen und auch Leistungen abfordern darf, sind Grundlagen für diese letztlich persönlichen Entscheidungen und Haltungen. Das kann unter anderem so gestaltet werden, dass Schüler*innen gerade nicht abverlangt wird, ihre höchst persönlichen Gedanken und Urteile offenzulegen und zu begründen – wohl aber hypothetisch aus einer fremden Position in einer Diskussion zu denken, zu sprechen und zu urteilen. Gerade wenn es allseits anerkannte Bedingung ist, dass nicht von der unterrichtlichen Performanz auf das „realweltliche“ eigene Urteil geschlossen werden darf, können Urteile, Begründungen, Konzepte und Normen auf ihre innere Konsistenz und Qualität sowie die ihrer Kombination thematisiert werden. Auch hier ist jedoch darauf zu achten, dass nicht (etwa durch die Art der Gesprächsführung) Schüler*innen letztlich für von ihnen etwa stellvertretend ausprobierte Argumentationen „in Haftung“ genommen werden, oder aber durch von anderen Mitgliedern der Lerngruppe formulierte Positionierungen, die der eigenen oder auch nur einer klischeehaften Zuschreibung einer solchen zu nahe kommen, in Bedrängnis geraten. Inwiefern es daher Schüler*innen gestattet sein sollte, in solchen „als ob“-Diskussionen im Rahmen eines gewissen Schon- und Freiraums ihre tatsächliche Auffassung zu bekunden, muss wohl im Einzelfall entschieden werden. Prinzipiell verbieten sollte man es wohl nicht. Die Leitlinie müsste wohl lauten, dass überall dort, wo es um perspektivische, durch Normen und Werte sowie politische Positionen geprägte Denk- und Urteilsleistungen geht, eine hypothetische Performanz aus einer nicht-eigenen Perspektive abgefordert werden darf, eigene, reale Positionierungen und Urteile aber möglich bleiben sollten (zumal es um Klärung tatsächlicher Unsicherheiten, Verunsicherungen und Irritationen gehen kann), sofern dadurch nicht Konflikte im Lernraum befördert und Individuen markiert oder gar stigmatisiert werden. Ohne differenzierte und taktvolle Wahrnehmung sind solche Lernprozesse somit kaum zu strukturieren und zu leiten.

Auch dort, wo das Zentrum eines Lernprozesses also in einer (nicht-realen, sondern hypothetisch-stellvertretenden) Austragung von Kontroversen liegt, muss der Schwerpunkt des Lernprozesses nicht in der Entscheidung liegen, sondern in der Klärung der Voraussetzungen, Verständnisse, Implikationen usw. von Positionen.

Wie also können solche Thematiserungen von „Kontroversen“ zum aktuellen Geschehen in der Ukraine aussehen? Ein paar Beispiele:

  1. Dass in unserer Gesellschaft derzeit darum gerungen wird, ob Deutschland die Ukraine mit (schweren, angriffstauglichen oder nur „defensiven“) Waffen beliefern soll, darf, ja sollte, also als eine Kontroverse im Unterrichts nicht nur erwähnt (und dann doch wieder in die privaten Diskussionen vertagt) werden, sondern sollte durchaus Gegenstand unterrichtlicher Behandlung sein. Die Kontroverse muss als solche erscheinen, ohne dass nur gesagt würde, man könne es „halt“ so oder so sehen. Ja, man kann unterschiedliche Positionen vertreten, aber nicht „halt“, sondern unter gegenseitiger Wahrnehmung, auch (grundsätzlicher) Anerkennung, aber gleichzeitig diskursiver und auch selbst kontroverser Klärung unterschiedlicher jeweils gemachter Prämissen und Werte. Es müssen also nicht alle Lernenden alle Positionen und Argumentationsweisen als gleich gültig, gleich wertvoll anerkennen, dürfen aber auch nicht einfach den Eindruck gewinnen, dass einzelne grundsätzlich (also vor solcher Klärung, oder ohne sie) richtig(er) sind als andere. Die skizzierte Kontroverse gliedert sich dann recht schnell in eine ganze Reihe unterschiedlicher, aber miteinander zusammenhängender Fragen auf, die wiederum kontrovers und voraussetzungsvoll sind; etwa
    1. Was hat es mit der Deutschen Verantwortung aus seiner Geschichte auf sich – genauer: welche unterschiedlichen Auffassungen dieser Verantwortung gibt es, wie begründen sie sich, welche Normen und Werte liegen ihnen zu Grunde (soehe oben)?
    2. Was hat es mit den Befürchtungen eines NATO oder EU-Bündnisfalls auf sich, der bei solchen Waffenlieferungen eintreten könnte?
    3. In welche Verhältnisse werden von Beteiligten der Debatte die Werte und Optionen „Hilfestellung für die überfallene Ukraine“ und „Vermeidung einer Eskalation“ gestellt?
    4. Welche möglichen Positionen und Optionen ergeben sich veilleicht je nachdem, ob Deutschland als Einzelstaat, als Mitglied der EU und NATO, also einer Organisation kollektiver Verteidigung, und als Mitglied der Vereinten Nationen als Organisation kollektiver Sicherheit angesprochen ist? Welchen Einfluss haben diese gleichzeitigen Rollen und Positionen auf die Handlungsoptionen – und wie sind letztere aufgrund der jeweils unterschiedlichen Handlungslogiken zu beurteilen?
  2. Gleiches passt zur Frage ob bzw. inwiefern man einem NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands aktuell zustimmt, usw.
  3. In vergleichbarer Weise ist es mit Sicherheit sehr lernförderlich, Positionen und Haltungen zu Frieden und Krieg nicht nur abstrakt und allgemein zu thematisieren, sondern unterschiedliche Konstellationen und Verständnisse abzuwägen. Das betrifft Klärungen unterschiedlicher Kriegsbegriffe (siehe oben) ebenso wie Fragen danach, ob in jeglicher Situation sofortiger Frieden um jeden Preis immer vorzuziehen ist, bzw. inwiefern auch bestimmte Formen von Frieden als Nicht-Krieg für Akteure alles andere als friedliche Bedingungen bedeuten und Bedingungen für spätere Wiederaufnahmen des Krieges oder weiterer Aggressionen sogar noch befördern können.
  4. In der oben angeführten Sendung des Deutschlandfunks mit dem Titel „Friedenserziehung“7 wurde neben einer dezidiert christlich-religionspädagogischen Perspektive auch von Seiten der Servicestelle Friedenserziehung der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg das aus den 1980er Jahren stammende Planspielprojekt „POL&IS“ der Bundeswehr vorgestellt, in dem Schüler*innen in einem Planspiel unter Leitung von Bundeswehroffizieren Grundlagen der Sicherheitspolitik und Strategien und Handlungsmöglichkeiten in entsprechenden Konflikten erarbeiten. Das steht in einem deutlichen Kontrast zu einer kategorischen Ablehnung jeglicher Einladung von Jugendoffizieren (und anderen Vertreter*innen) der Bundeswehr in Schulen, etwas in weiten Bereichen der Linken. Vom Kontroversitätsgebot des Beutelsbacher Konsenses her wird man sagen müssen, dass beide Ansätze jeweils für sich problematisch sind – die Vergabe der Thematisierung dieses Themenfeldes an die Bundeswehr wie ihr Ausschluss daraus. Vielmehr ist dringend zu fordern, dass Schule und Unterricht die sich im Hintergrund solcher Positionierungen zeigenden Kontroversen explizit und somit reflektierbar machen. Dazu muss es dann gerade gehören, weder einer reinen Identifikation von Frieden mit militärisch garantierter oder herbeigeführter Abwesenheit „heißer“ Kriege Vorschub zu leisten noch diese Dimension und Handlungsoptionen aus dem auch unterrichtlichen Diskurs von vornherein auszuschließen. Sowohl Planspiele als auch ethische und religiöse Erwägungen sind somit sinnvoll- aber weder jeweils alleine noch getrennt voneinander, sondern erst dann, wenn die Lernenden nicht nur die Möglichkeit haben, sich zu allem eine eigene Auffassung zu bilden, sondern wenn ihnen unterrichtlich Gelegenheit und Unterstützung dazu gegeben wird, die jeweiligen Prämissen, Wert- und Handlungskonzepte wie auch die in ihnen und zwischen ihnen sich ergebenden Spannungsfelder zu erwägen. Auch dabei gilt wieder, dass diese Fragen unterrichtlich angesprochen und erwogen, nicht aber (notwendigerweise) „aus“diskutiert werden dürfen. Das Ziel ist Befähigung zu eigener Auffassungs- und Meinungsbildung und zum (durchaus friedvollen) Umgang mit anderen Auffassungen und Meinungen, nicht aber diese Meinungsbildung selbst.

Viele weitere Beispiele lassen sich finden. Und es wäre wohl gerade keine Begrenzung des Lernwertes, wenn am Ende solcher unterrichtlicher Behandlungen keine absolut geklärten Positionen stehen würden (selbst wenn es mehrere sind), sondern nur eine deutlichere Wahrnehmung weiterer möglicher Verständnisse von Konzepten, Normen, Werten, von jeweils anderen Positionen und Denkweisen, zusammen mit konkreter formulierten Fragen, ist es doch nicht die Aufgabe von Schule und Unterricht, die Schüler*innen ein für alle Mal (d.h. für ihr weiteres Leben) mit absolut gefestigten Überzeugungen und Orientierungen auszustatten, sondern mit der Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft, bei sich ändernden Herausforderungen und unter sich wandelnden Bedingungen selbstständig (und das heißt auch ständig selbst, wenn auch nicht isoliert) sich neu zu orientieren und an den dazugehörigen Debatten teilzuhaben.

  1. Hübert, Henning (2022): Friedenserziehung (Campus & Karriere). Deutschlandfunk, 12.03.2022. Online: https://www.deutschlandfunk.de/campus-und-karriere-12-03-2022-komplette-sendung-friedenserziehung-dlf-f194b5ce-100.html. []
  2. Drerup, Johannes (o.D.): Politische Bildung und die Kontroverse über Kontroversitätsgebote. In: Praefaktisch (Blog), o.D. Online verfügbar unter https://www.praefaktisch.de/bildung/%ef%bb%bfpolitische-bildung-und-die-kontroverse-ueber-kontroversitaetsgebote/#, S. 1f; vgl. auch Hilbrich, Ole (o.D.): Kontroversität, Dissens und Streitkultur – Zu Zielen und Formen demokratischer politischer Bildung. Eine Replik auf Johannes Drerup und Johannes Giesinger. In: Praefaktisch (Blog), o.D. Online verfügbar unter https://www.praefaktisch.de/bildung/kontroversitaet-dissens-und-streitkultur-zu-zielen-und-formen-demokratischer-politischer-bildung-eine-replik-auf-johannes-drerup-und-johannes-giesinger/. []
  3. Wehling, Hans-Georg (1977): Konsens, S. 178. []
  4. Zur Problematik und Uneinheitlichkeit der Unterscheidung auch unter Theoretiker*innen und Praktiker*innen siehe zB. Fauth, Lisa; Kahlcke, Inga (2020): „Perspektiven oder Kategorien? Die Unterscheidung von Sach- und Werturteil in der Forschung, in Unterrichtsmaterialien und bei Geschichtslehrkräften.“ In: GWU 71 (2), 35-47, deren eigene Lösung aber wenig überzeugend ist. Eine deutlich tragfähigere, aber eben auch differenziertere Konzeptualisierung findet sich bei Buchsteiner, Martin; Düwel, Jan (2021): „Urteile im Geschichtsunterricht.“ In: Geschichte für heute 14 (2), S. 49–64. []
  5. Sznaider, Natan (2022): Fluchtpunkte der Erinnerung. Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus. 1. Auflage. München: Hanser. []
  6. Diese Formel wird zuweilen als „Schwur von Buchenwald“ zitiert, so etwa in ‚Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg‘ (2017). In: Junge Welt, 09.05.2017, S. 8. Online: https://www.jungewelt.de?ref=/artikel/310345.nie-wieder-faschismus-nie-wieder-krieg.html. Im Original des am 13.4.1945 von überlebenden Häftlingen des KZ Buchenwald in mehreren Sprachen (darunter auf Russisch vom am 18. März 2022  als 92jähriger Zivilist von russischen Truppen getöteten Boris Romantschenko) gesprochenen Schwur ist diese Formulierung jedoch gerade nicht zu finden. Dort lautet der Schwur vielmehr auf die Fortsetzung des Kampfes, „bis der letzte Schuldige vom Gericht aller Nationen verurteilt ist“, nachdem ausdrücklich den „verbündeten Armeen der Amerikaner, Engländer, Sowjets und  allen Freiheitsarmeen, die uns und der ganzen Welt das Leben erkämpf(t)en“ gedankt wurde, wie auch namentlich F.D. Roosevelts gedankt wurde. (Die Textfassungen des wohl als Vortragsskript genutzten Blattes – Buchenwaldarchiv NZ488 – und des Zitats in den Buchenwalder Nachrichten Nr. 5 vom folgenden 20.4.1945, S.1., unterscheiden sich leicht. Das die Vergangenheit und somit einen Abschluss des bedankten Kampfes anzeigende „t“ in „erkämpf(t)en“ ist nur in letzterer Fassung zu finden, dort aber durchgestrichen. Vgl. https://www.buchenwald.de/fileadmin/buchenwald/download/der_ort/Buchenwaldschwur.pdf.) Die Formel „Nie wieder Militarismus, Faschismus und Krieg“ findet sich dann spätestens 9 Jahre später (13.4.1954) im Titel eines Berichts des Neuen Deutschland über eine Feierstunde in Buchenwald, unter welchem als „Schwur von Buchenwald“ ein ganz anderer Text präsentiert wurde (Vgl.: „Das wahre Europa schwört: Nie wieder Militarismus, Faschismus und Krieg! Die Völker Europas erkennen die Deutsche Demokratische Republik als Repräsentant des neuen, friedliebenden Deutschland an Feierlicher Abschluß des Internationalen Befreiungstages in Buchenwald (1954)“. In: Neues Deutschland, 13.04.1954. Online: https://www.nd-archiv.de/artikel/42497.das-wahre-europa-schwoert-nie-wieder-militarismus-faschismus-und-krieg.html), und in der Form „Nie wieder Faschismus und Krieg“ in der Ansprache von Otto Grotewohl bei der Einweihung des Mahnmals in Buchenwald am 14.9.1958 (zit. n. Menzel, Claus (2008): „Nie wieder Faschismus und Krieg“. In: Deutschlandfunk Kultur, 14.09.2008. Online: https://www.deutschlandfunkkultur.de/nie-wieder-faschismus-und-krieg-102.html). In der Folge hat es u.a. durch Kombinationen von Abbildungen der Figurengruppe des Mahnmals mit anderen antifaschistisches Eidestexten gewissermaßen eine Häufung von „Schwüren von Buchenwald“ gegeben. Vgl. etwa die DDR-Briefmarke  von 1970 unter https://de.wikipedia.org/wiki/Briefmarken-Jahrgang_1970_der_Deutschen_Post_der_DDR#/media/Datei:Stamps_of_Germany_(DDR)_1970,_MiNr_Block_032.jpg. []
  7. Hübert, Henning (2022): Friedenserziehung (Campus & Karriere). Deutschlandfunk, 12.03.2022. Online: https://www.deutschlandfunk.de/campus-und-karriere-12-03-2022-komplette-sendung-friedenserziehung-dlf-f194b5ce-100.html. []