Inzwischen sind — nach zahlreichen kritischen Stellungnahmen zu den Referentenentwürfen (vgl. auch meine eigene zum Studienstufenplan Geschichte) — nicht nur die neuen Hamburger Bildungspläne 2022 seitens der BSB veröffentlicht und zum 1.8.2023 in Kraft gesetzt worden, sondern auch ein Leitfaden für ihre Implementation – konkreter: für die Überarbeitung der schulinternen Curricula — erschienen.((Arnold, Burkhard; Haupt, Stephan; Jasper, Ilka; Lampert, Yvonne (2023): Das schulinterne Curriculum. Leitfaden zur Implementation der neuen Bildungspläne. Unter Mitarbeit von Lydia Lach, Christine Roggatz, Hendrik Stammermann und Juliane Troje. Hamburg: Behörde für Schule und Berufsbildung.))

Das Dokument hat unter anderem auch die Aufgabe, „die neuen Strukturelemente“ der (ja nur überarbeiteten, nicht wirklich neuen) Bildungspläne ausführlicher, „als dies in einer Präambel möglich ist“ zu erläutern (S. 4).

Obwohl zu Beginn des Texts festgestellt wird, dass sich die Kompetenzorientierung (an der auch expressis verbis festgehalten wird) „durchgesetzt“ habe und „keiner Erläuterung“ mehr bedürfe (S. 3), wird auch sie doch noch einmal erläutert, nämlich dahingehend, dass Kompetenzen „Kenntnisse und Haltungen“ einschlössen, und „durch die Auseinandersetzung mit Inhalten und den handelnden Umgang mit Wissen und Werten erworben“ werden. Diese Formulierungen sind bemerkenswert:

Sie begründen die Einführung von „Kerncurricula“ als „verbindlich zu erarbeitender Inhalte“, welche die „kompetenzbezogenen Anforderungen ergänz[t]en und bereits bestehende inhaltliche Vorgaben präzisieren und konkretisieren (S. 3).

Dass Kompetenzen in der Auseinandersetzung mit Inhalten und den handelnden Umgang mit Wissen erworben würden, wie dargestellt, ist nicht zu beanstanden. Kompetenzerwerb ist weder „Trockenschwimmen“, findet nicht in abstrakter, inhaltsfreier oder auch nur -armer Form und ohne Bezug zu Wissen statt. Auch ist es nicht falsch, dass Kompetenzen Kenntnisse und in gewisser Weise auch „Haltungen“ umfassen. Dass die letzteren beiden aber inhaltsbezogen wären, wie die Formlierung durch ihren grammatisch etwas schiefen Satzbau (alleinstehender Nebensatz: „Denn Kompetenzen schließen …“) verdeutlicht, ist problematisch und entspricht gerade nicht der gängingen Kompetenzdefinition, an die gerade auch die neuen Hamburger Bildungspläne ja explizit anschließen, indem der Absatz, in dem diese Festlegungen stehen, mit einem Belegverweis auf die „Klieme-Expertise“ in der unveränderten Neuauflage 2009 der Online-Fassung von 2007 (die gedruckte erste Auflage stammt von 2003) abgeschlossen wird. Es ist also die Kompetenzdefinition nach Weinert (2001), die dort Verwendung findet, und an die auch hier angeschlossen wird. Diese aber definiert geradezu, dass Kompetenzen jene Facetten von Wissen, Können und Haltungen („Fähigkeiten, Fertigkeiten“ sowie „motivationale[n], volitionale[n] und soziale[n] Bereitschaften und Fähigkeiten“) umfasst, die gerade nicht an einen bestimmten „inhaltlichen“ Kontext (besser: Gegenstand) gebunden sind, sondern die das Individuum in die Lage versetzen, in variablen Situationen Probleme zu lösen. Kompetenzen sind also gerade die transferablen Facetten, die zwar durchaus an einem Gegenstand, in einem konkreten Kontext und im Umgang mit konkretem Wissen erworben werden, sich aber gerade an anderen Problemen in neuen Kontexten, im (ggf. diese auch erst erschließenden) Umgang mit anderen (ggf. unbekannten) Wissensbeständen bewähren müssen. Dass Kompetenzen „Kenntnisse und Haltungen“ einschließen, stimmt also nur in Bezug auf transferables, neue Kontexte erschließen helfendes, etwa kategorisierendes, methodisches Wissen und die „Haltung“, die darin besteht, über dieses Wissen nicht nur theoretisch und abstalt zu verfügen, sondern es dann auch anzuwenden – gerade nicht aber in jenem Wissen, das an einzelne Kontexte gebunden ist. Konzeptuelles und prozedurales Wissen also ist Bestandteil von Kompetenz(en), nicht substantives. Um ein sehr einfaches (beinahe zum trivialen hin zugespitztes) Beispiel aus meinem Fach zu nehmen: Die Fähigkeit, die Emser Depesche zu interpretieren, ist keine Kompetenz – insbesondere nicht, wenn man Quelleninterpretation an ihr oder auch nur einem sehr eng verwandten Beispiel gelernt hat. Die Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft, andere Quellen bzw. Quellen insgesamt zu interpretieren, nachdem man u.a. die Emser Depesche untersucht und interpretiert hat, beweist Kompetenz – insbesondere, wenn man in der Lage ist, das auch mit Quellen anderen Typs zu tun und dabei vom Konkreten zu abstrahieren, also die Fähigkeit flexibel in neuen Situationen einzusetzen.

Vor diesem Hintergrund erweist sich aber zudem der in Fußnote 1 auf S. 4 gegebene Verweis auf die Klieme-Expertise als mindestens unscharf. Verwiesen wird nämlich auf die dortige Seite 12. Dort ist in der Tat etwas zu finden, das auch hier Verwendung findet, nämlich die Aufzählung von „Kompetenzen, Qualifikationen, Wissensstrukturen, Einstellungen, Überzeugungen, Werthaltungen“. Im Hamburger Leitfaden lautet sie etwas anders, insofern (ohne Kennzeichnung der wörtlichen Übernahmen) von „Kompetenzentwicklung wie auch der Aneignung von Fachmethoden und dem Aufbau von Qualifikationen, Wissensstrukturen, Einstellungen, Überzeugungen und Werthaltungen“ die Rede ist – hier jedoch als Zweck der „Kerninhalte, mit denen sich Schülerinnen und Schüler auseinandersetzen sollen“. Von Inhalten und inhaltsbezogenen Kenntnissen aber ist in der referenzierten Klieme-Expertise an der angegebenen Stelle gerade nicht die Rede. Es handelt sich also geradezu um ein Fehlzitat, insofern der Beleg die Hauptaussage des Absatzes, hinter dem er steht, – Kompetenzen umfassten auch Kenntnisse – gerade nicht deckt.

Die Klieme-Expertise spricht aber auch sonst kaum von Kenntnissen, In einem historischen Rückgriff auf „klassische Bildungstheorie“ werden zwar vier Modi der Welterfahrung als Bestandteile von Bildung und „Kenntnissen“ (in Anführungszeichen!) erwähnt, im gleichen Absatz aber nicht Kenntnisse, sondern „Wissen und Können“ als zwei Komponenten von Kompetenzen aufgezählt.((Klieme, Eckhard; Avenarius, Hermann; Hermann, Werner a.o (2007): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards: Eine Expertise. unveränd. Neuauflage 2009. Hg. v. BMBF. Bonn. Online verfügbar unter http:­/­/www.bmbf.de­/pub­/zur_entwicklung_nationaler_bildungsstandards.pdf, zuletzt geprüft am 10.02.2023; S. 67)) Gerade im weiteren Argumentationsgang wird dort aber ein Wissensbegriff genutzt, der dieses explizit nicht auf Kenntnisse reduziert. Im Kapitel der Expertise zum Verhältnis von Wissen und Können (S. 87f) wird vielmehr geradezu verworfen, Kompetenzrelevantes Wissen mit „den Fakten“ gleichzusetzen, “ die in Lehrplänen niedergeschrieben sind. Selbst wenn es Schülerinnen und Schülern“ gelinge, „dieses Wissen aufzunehmen“  bliebe es „doch oft träge“, insofern es „außerhalb der Lernsituation nicht angewandt“ werden können, weshalb es keine hinreichende Basis für kompetentes Handeln“ darstellt. Gerade auch wo die Klieme-Expertise fordert, die Verknüpfung von Wissen und Können nicht in den Bereich jenseits der Schule zu verlagern (also in das Bewährungsfeld der Lebenswelt), sondern auch innerhalb der Schule solche Leistungssituationen zur Bewährung zu gestalten, wird gerade nicht von konkret inhaltbezogenem Wissen gesprochen, sondern von Situationen, welche die Fähigkeit zur Anwendung fachlich spezifischen Schemata in der „Behandlung von Fällen“ erfordern.

Auch in Bezug auf „Inhalte“ findet sich an der angegebenen Stelle gerade kein Beleg dafür, dass Kompetenzen Inhalte „umfassten“. Vielmehr empfiehlt die Klieme-Expertise 2003/2007/2009 zwar explizit, Bildungsstandards „Hand in Hnd“ (S. 17) mit „zentralen Kerncurricula“ zu entwickeln, die Hinweise zur Sequenzierung von Themen und Inhalten geben — aber das bedeutet gerade keine Integration der Inhalte oder Kenntnisse in die Kompetenzen. Vielmehr wird explizit dargelegt, der Begriff der Kompetenzen drücke aus, „dass die Bildungsstandards – anders als Lehrpläne und Rahmenrichtlinien – nicht auf Listen von Lehrstoffen und Lerninhalten zurückgreifen, um Bildungsziele zu konkretisieren.“ Es gehe „vielmehr darum, Grunddimensionen der Lernentwicklung in einem Gegenstandsbereich (einer ‚Domäne‘, wie Wissenspsychologen sagen, einem Lernbereich oder einem Fach) zu identifizieren“, die „vielfältig[e], flexib[el] und variab[el]“ genutzt werden können müssen (S. 21f).

Mit dieser Kritik an der (zudem falsch zitierenden) Verschleifung des Kompetenzbegriffs soll somit gerade nicht gesagt werden, dass „inhaltliche“ Curricula im Sinne der Vorgabe und Festschreibung von Gegenständen (und partiell auch der Thematisiereungen derselben) keinen Platz in Bildungsplänen hätten. Sie sind legitim, gerade in der Form von „Kern“-Curricula, die einige verbindliche Vorgaben machen, daneben aber wesentliche Freiräume belassen — aber sie sind etwas anderes als Kompetenzmodellierungen. Kompetenzdefinitionen und -modelle einerseits und (Kern-)Curricula andererseits sind vielmehr zwei nebeneinander mögliche und wohl auch nötige Formen der Konzeptualisierung zweier unterschiedlicher Dimensionen. Sie ergänzen einander (wie im vorliegenden Text an anderer Stelle ja uch durchaus richtig gesagt wird), gehen aber nicht ineinander auf. Man kann sie sich vorstellen wie Spalten und Zeilen einer Matrix oder einer Tabelle. Weder Kompetenzen (also Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bereitschaften sowie die Verfügung über fall- und gegenstandsübergreifendes, konzeptuelles bzw. prozedurales Wissen) noch Gegenstandbezogenes („substantives“) Wissen können getrennt von einander erworben werden. Aber sie müssen auch wieder voneinander getrennt werden. Die erworbenen Fähigkeiten müssen an anderen „Inhalten“ (besser: Gegenständen) weiter elaboriert, erweitert, verfeinert, abstrahiert und konkretisiert werden, damit sie zu Kompetenzen im vollen Sinne werden, und die Kenntnisse und Wissensbestände müssen ihrerseits mittels anderer Kompetenzen miteinander zu einem zugleich in der Breite umfassenden wie hinsichtlich Konkretisierung und Abstraktion aufgespannten Weltbild vernetzt werden. Nur gemeinsam garantieren diese beiden (getrennten!) Dimensionen von Bildung, dass die Weltbilder, die Kenntnisse, Einsichten ebenso wie die Haltungen und die Fähigkeiten nicht verfestigen, sondern in in variablen Situationen und unter sich verändernden Bedingungen operabel bleiben.

Den Ausführungen zur Aufgabe der Kerncurricula selbst im zweiten Absatz kann demgegenüber deutlich besser zugestimmt werden, ja es ist positiv herauszustellen, dass zwar von durch sie vorgegebenem „Wissen“ die Rede ist, aber doch in Form von Wissens“elementen“, also Bestandteilen von durch die Lernenden im Prozess der Auseinandersetzung damit mit dem, was wiederum nicht als „Fakten“ oder ähnlichem einfach zur Übernahme vorgegeben wird, sondern als „Gegenstand“ einer solchen eigenständigen und zumindest partiell ergebnisoffenen und pluralen „Untersuchung“ entwickelt und elaboriert werden soll.  Hier also ist ein deutlicher Anschluss an Konzepte eigenständigen und aktiven Lernens zu erkennen, die auch mit den gleich darauf formulierten Zielen der Selbstständigkeit und Verantwortlichkeit kompatibel ist.

Von als zu erwerben vorgegebenen Kenntnissen wird dann gleichwohl am Ende des folgenden Absatzes die Rede, in welchem die Bedeutung der Befähigung zu selbst- und nicht fremdbestimmtem Denken, Urteilen und Handeln in der gegenwärtigen (Medien-)Welt — etwa angesichts von FakeNews etc. — die Rede ist, gesprochen. Auch dieser Formulierung kann als solche gut unterschrieben werden, insofern diese Kenntnissen aufgrund des angesprochenen Zusammenhangs gerade solche meinen müssen, die Lernende in die Lage versetzen, jeweils neue Herausforderungen zu bewältigen. Das ist etwa dann der Fall, wenn es sich um prozedurale und konzeptuale Kenntnisse handelt, wie um fallübergreifende Einsichten. Auch substantives Wissen (also etwa „Einzelfallwissen“) gehört dazu, insofern es dazu beiträgt, dass Lernende mit seiner Hilfe ihnen neue Behauptungen usw. einordnen können. Auch dieses Wissen gewinnt somit eine über es selbst hinaus greifende Funktion. Es ist dann aber eben auch nicht (wie hier durchaus korrekt aufgezählt) Bestandteil der zu erwerbenden Kompetenzen, sondern gewissermaßen neben seinem Eigenwert zum Einen Substrat des Erwerbs der Kompetenzen, ebenso aber muss es auch Gegenstand ihrer Anwendung werden können. Es ruht also nicht in sich, sondern muss in der Perspektive und unter der Voraussetzung erworben (und dazu vermittelt) werden, dass es mit Hilfe der Kompetenzen durch die Lernenden geprüft, differenziert und — etwa angesichts neuer Informationen — auch zugunsten neuerer Einsichten und Kenntnisse überwunden werden können muss.