In Diskussionen um die „Aufgabenkultur“ von Unterricht spielt die unter anderem von Josef Leisen getroffen Unterscheidung von „Lern-“ und „Leistungsaufgaben“ bzw. „Lern-“ und „Leistungsräumen“ eine wichtige Rolle.

Leistungsräume sind demnach alle jene Situationen (etwa Unterrichtsphasen), in denen Schüler*innen „wähnen“ (so Leisen), dass es darauf ankomme, Fehler zu vermeiden und nur möglichst richtige Antworten zu geben. Große Teile von Unterricht gehören sind demnach solche Leistungsräume, auch wenn Lehrkräfte es gar nicht beansichtigen, kommt es doch auf die Wahrnehmung der Schüler*innen an, ob sie der Vermeidung von ‚Fehlern‘ eine hohe Priorität einräumen – etwa gegenüber der Bearbeitung von Problemfragen. Das liegt auch daran, dass nach meiner Wahrnehmung in vielen Stunden Hospitation (und auch meiner eigenen Unterrichtserfahrunge) Schüler*innen selbst eine Haltung in den Unterricht mitbringen, die darauf abstellt, möglichst viele ihrer Äußerungen (um nicht „alle“ zu sagen) wiederum möglichst direkt von der Lehrkraft bestätigt zu erhalten. Das ist eine unterrichtliche Kommunikationsstruktur, die in den 1970er Jahren in den USA High Mehan als „I-R-E“ herausarbeitet und benannt hat, nämlich die Abfolge von „Impuls“ (oder auch „Initiierung“) durchz die Lehrkraft, „Response“ durch Lernende und möglichst unmittelbarer „Evaluation“ derselben wiederum durch die Lehrkraft.

Diese Kommunikationsstruktur, die von Mehan gar nicht unbedingt bereits als schlecht oder schädlich beurteilt und später (ebenso nicht unbedingt kritisch) von Courtney Cazden weiter beschrieben und analysiert wurde, ist aber insofern durchaus problematisch, als sie eine wesentliche mentale (und soziale) Lernbewegung zumindest dämpft, nämlich das Formulierungen von Vermutungen und Hypothesen nicht als Fragen an eine als (all-)wissend geltende Instanz, sondern an das eigene (im Unterricht: gemeinsame) er- und abwägen. Solches Denken ins Unfertige hinein, die Bereitschaft, nicht nur solche Beiträge in den Unterricht einzubringen, die selbst schon fertig für ein Absegnen gedacht sind, kennzeichnet aber gedau das, was Leisen den „Lernraum“ nennt. Die für sein funktionierende Gestaltung des Unterrichts als eine offene, nicht durch einseitige Zuständigkeit und Autorität zu Bewertung durch eine*n Beteiligte*n unterworfene Situation erfordert offenkundig, die oben geschilderte Erwartungshaltung vieler Schüler*innen auch aktiv zu unterlaufen — etwa durch eine Gesprächsführung, die eher moderierend Beiträge von SchülerInnen an die Gruppe zu, die an die Stelle von unmittelbarer Bewertung Formen der differentielle Erwägung setzt usw.

Auch die Form der Aufgabenstellungen spielt dabei eine Rolle.

  • Inwiefern fordert die jeweilige Aufgabe von den Lernenden bereits ab, was diese doch an ihrer Bearbeitung (erst) lernen sollen?
  • Inwiefern suggeriert sie den Schüler*innen die Existenz und prinzipielle Bekanntheit einer einzigen oder einer genau definierten Menge richtiger, anerkennenswerter „Lösungen“?
  • Inwiefern  Inwiefern suggeriert sie, dass es bereits bei der Bearbeitung der Aufgabe auf ihr Gelingen ankommt, so dass es ein „richtig“ bzw. „besser“ und ein „schlechter“ oder gar „falsch“ gibt?

Dies alles sind Kriterien dafür, dass es sich um Leistungsaufgaben handelt.

Lernaufgaben im Sinne Leisens haben aber ganz andere Aufgaben. Sie sollen Schüler*innen in eine Denkbewegung versetzen, die einen Schritt ins (zumindest ihnen) und unterstellt auch allen Unbekannte bedeutet, die nicht konvergent auf eine (die „richtige“) Lösung gerichtet ist, sondern die unterschiedliche Lösungskandidaten, Vermutungen, Hypothesen, Gesichtspunkte einer Lösung hervor- und in den Horizont der unterrichtlichen Kommunikation bringt.

Lernaufgaben erfordern im Grunde eine zweischrittige Bearbeitung: Die Erstbearbeitung der Aufgaben durch die Schüler*innen bringt nicht wirklich bereits Lösungen hervor, sondern recht verstanden erst das Material, an dem der eigentliche Lernprozess stattfindet — nämlich die Hypothesen, Vermutungen, Gesichtspunkte, deren weitere Erwägung dann gerade nicht nur auf die nennung und Bestätigung einer richtigen Lösung hinausläuft, sondern durch welche sowohl unterschiedliche wichtige und richtige Aspekte, Bestandteile des Problems bzw. der Aufgabe, Kriterien der Validität einer Lösung etc. zur Sprache kommen.

Auch solche Lernaufgaben verlangen von Schüler*innen Leistung ab — aber eine ganz andere (und wohl auch wertvollere) Art von Leistung als Leistungsaufgaben es tun — nämlich die leistung, „kreativ“ und hypothetisch, zugleich aber zielgerichtet und mit der Bereitschaft der Prüfung der eigenen Vermutungen und Lösungsvorschläge sich an der gemeinsamen Bearbeitung zu beteiligen. Man kann das als eigentliche Lernleistung bezeichnen.

Als Überprüfungsfrage für Lernaufgaben könnte demnach u.a. folgende Formulierung herangezogen werden, inwiefern ist die jeweilige Aufgabe so gestellt, dass an mehreren und unterschiedlichen Resultaten ihrer Bearbeitung — gerade dann, wenn sie NICHT bereits die richtige Lösung darstellen — wahrscheinlich deutlich mehr gelernt werden kann als an einer einfachen Bestätigung einer richtigen Lösung (so es denn wirklich nur eine gibt) — nämlich über ihre Nennung und Bestätigung hinaus, ein Kennenlernen und Erwägen von Kriterien für Richtigeres und Falsches, für möglicherweise unterschiedliche valide Aspekte oder auch nur unterschiedliche Formen seiner Formulierung, usw.

Eine Differenzierung zur Charakterisierung von Lern- und Leistungsaufgaben bei Leisen sei aus der Sicht speziell des Geschichtsunterrichts noch angebracht, die aber wohl auch für andere Unterrichte zumindest kulturwissenschaftlicher Fächer gilt: Während es bei vielen Fächern sicher richtig ist, davon zu sprechen — wie Leisen es tut – dass in Lernräumen bei der Bearbeitung von lernaufgaben Fehler geradezu erwünscht seien, weil und insofern an ihnen (d.h. ihrer Erwägung) gelernt werden kann (etwa: wwas an ihnen falsch ist), in Leistungsräumen und bei der Bearbeitung von Leistungsaufgaben dann aber Fehler zu vermeiden sind, stellt sich die Sache in den gegannten Fächern wohl insofern etwas anders dar, als eine einfache Unterscheidung in Richtiges und „Fehler“ dort nicht immer möglich ist. Auch dort gibt es zwar immer auch manifest Falsches, aber selten nur eineindeutig eine richtige Lösung. Um so bedeutender und wertvolle aber sind die Lernräume und die Art und Weise der Moderation der Auseinandersetzung mit Lösungsvorschlägen, anteilen, Argumenten etc., die von Lernenden in der Erstbearbeitung der Aufgabe geäußert werden — gilt es doch nicht nur Richtiges von Falschem zu trennen, sondern manifest Falsches als solches zu benennen, ebenso aber unterschiedliche valide Ergebnisse (etwa Interpretationen aus unterschiedlicher Perspektive etc.) zugleich anzuerkennen und in ihrer Differenz zu würdigen.

 

Literatur:

  • Cazden, Courtney B. (2001): Classroom discourse. The language of teaching and learning. 2. edition. Portsmouth, NH: Heinemann.
  • Cazden, Courtney B.; Beck, Sarah W. (2003): Classroom Discourse. In: Arthur C. Graesser, Morton Ann Gernsbacher und Susan R. Goldman (Hg.): Handbook of discourse processes. Mahwah N.J.: L. Erlbaum, S. 165–197.
  • Cazden, Courtney B. (2017): Communicative Competence, Classroom Interaction, and Educational Equity. The Selected Works of Courtney B. Cazden. 1st ed. London: Taylor and Francis. Online verfügbar unter https://ebookcentral.proquest.com/lib/gbv/detail.action?docID=5164230.
  • Leisen, Josef (2008): Neue Aufgabenkultur und Kompetenzentwicklung. Gymnasium in Wied. Online verfügbar unter http://www.aufgabenkultur.studienseminar-koblenz.de/seiten/2%20Vortr%E4ge%20zur%20Aufgabenkultur/1%20Neue%20Aufgabenkultur%20und%20Kompetenzentwicklung%20-%20Vortrag%20in%20Neustadt.pdf.
  • Leisen, Josef (2011): Aufgabenstellungen und Lernmaterialien machen’s. Unterschiede zwischen kompetenzorientiertem und traditionellem Unterricht. In: Unterricht Physik (123/124), 11 (107) – 17 (113). Online verfügbar unter http://www.josefleisen.de/downloads/aufgabenkultur/02%20Aufgabenstellungen%20und%20Lernmaterialien%20machens%20NiU%202011.pdf.
  • Leisen, Josef (2017): Aufgabenstellungen und Aufgabenkultur. Steuerung von Lernprozessen durch Aufgabenstellungen. Online verfügbar unter http://www.lehr-lern-modell.de/aufgabenstellungen.
  • Mehan, Hugh (1979): Learning Lessons: Harvard University Press.
  • Mehan, Hugh (2014): Learning Lessons. Social Organization in the Classroom. Harvard University Press, [Berlin]: Walter de Gruyter GmbH.