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In der aktu­el­len Debat­te um Inklu­si­on sind vie­le Kon­zep­te kei­nes­wegs ein­heit­lich geklärt. Abge­se­hen davon, dass dies in der Wis­sen­schaft ein Nor­mal­zu­stand ist, wäre es aber doch wün­schens­wert, dass nicht unbe­dingt ein ein­heit­li­cher Gebrauch, wohl aber Klar­heit über das jeweils gemein­te her­ge­stellt wer­den könn­te. Das betrifft nicht nur die (oft auch nor­ma­tiv oder gar ideo­lo­gisch auf­ge­la­de­ne) Fra­ge nach dem “engen” oder “wei­ten” Inklu­si­ons­be­griff, also danach, ob unter Inklu­si­on nur Orga­ni­sa­ti­ons­for­men und Maß­nah­men ver­stan­den wer­den sol­len, die dem Ein­be­zug von Men­schen in die gesell­schaft­li­che Teil­ha­be und Ler­nen­den in das all­ge­mei­ne Bil­dungs­we­sen bedeu­ten, die auf­grund von (zuvor so bezeich­ne­ter) “Behin­de­rung” aus­ge­schlos­sen oder betei­ligt waren, oder ob es um alle Men­schen unge­ach­tet des jewei­li­gen Aus­schluss­grun­des geht — oder ob jeweils für bestimm­te Zwe­cke eine spe­zi­fi­sche (und dabei der­zeit oft die “son­der­päd­ago­gi­sche”) Dimen­si­on beson­ders fokus­siert oder Berück­sich­tigt wird, ohne dass dies eine Ableh­nung der ande­ren bedeutet.

Ähn­lich ver­hält es sich mit den Kon­zep­ten von “Behin­de­rung” und “Beein­träch­ti­gung” und “För­der­be­darf”. Gera­de im Inter­es­se der Nut­zung son­der­päd­ago­gi­scher Exper­ti­se in “inklu­si­ven set­tings” wird oft von “I‑Kindern”, “inklu­siv beschul­ten” Kin­dern und För­der­schwer­punk­ten gespro­chen, obwohl die­se Begrif­fe und die in ihnen zum Aus­druck kom­men­den Kon­zep­te der Grund­idee der Inklu­si­on gera­de­zu zuwi­der lau­fen, inso­fern gera­de nicht mehr davon aus­ge­gan­gen wer­den soll, dass Kin­der als Merk­mal ihrer selbst bestimm­te Beein­träch­ti­gun­gen besit­zen, die sie gegen­über ande­ren Kin­dern als “beson­ders” mar­kie­ren — auch nicht als “beson­ders” för­der­be­dürf­tig. Das Kon­zept unter­stellt dabei kei­nes­wegs eine Gleich­heit, Homo­ge­ni­tät aller, son­dern geht davon aus, dass Hete­ro­ge­ni­tät, Unter­schied­lich­keit nicht die einen von den ande­ren “son­dert”, son­dern dass Diver­si­tät in Merk­ma­len und dar­un­ter auch Stär­ken und Schwä­chen, etwas nor­ma­les ist.
Die­ser Grund­ge­dan­ke wird oft in einer der vie­len Vari­an­ten der fol­gen­den Gra­fik visua­li­siert (Urhe­ber: Robert Aeh­nelt; CC-BY-SA 3.0):

Was die­ses Kon­zept und die­se Gra­fik noch nicht mit adres­siert, ist die Fra­ge, wie kon­kre­te (Leistungs-)Stärken und Schwä­chen bzw. Beein­träch­ti­gun­gen auf­ge­fasst wer­den. Sie zu leug­nen und schlicht jeg­li­che Form von Unter­schied­lich­keit als “Res­sour­ce” zu fei­ern, wird weder der Wahr­neh­mung vie­ler Lehr­kräf­te gerecht, dass spe­zi­fi­sche För­der­be­dar­fe gege­ben sind, noch bie­tet es Ansatz­punk­te zur In-Wert-Set­zung son­der­päd­ago­gi­scher Exper­ti­se, ins­be­son­de­re in dia­gnos­ti­scher Hinsicht.
Mit Hil­fe einer ande­ren (eben­falls) gra­fi­schen Dar­stel­lungs­wei­se möch­te ich daher illus­trie­ren, wie spe­zi­fi­sche Her­aus­for­de­run­gen unter inklu­si­ver Per­spek­ti­ve gedacht wer­den können.
Genutzt wird dafür eine Dar­stel­lung, wel­che Stär­ken und Schwä­chen von Schü­le­rin­nen und Schü­lern jeweils in einer Viel­zahl in Form eines pola­ren Dia­gramms erfasst. Idea­li­ter ent­steht somit für jedes Indi­vi­du­um ein pola­ren Pro­fil in Form einer “Spin­nen­netz­gra­fik”, so dass eine Über­la­ge­rung sol­cher Pro­fi­le sowohl die mehr­di­men­sio­na­le Diver­si­tät der Ler­nen­den sicht­bar machen kann.
Die­se Dar­stel­lungs­wei­se ist aber nicht dahin­ge­hend zu ver­ste­hen, dass alle Ler­nen­den in einem hoch auf­lö­sen­den Ver­fah­ren dif­fe­ren­ti­ell zu dia­gnos­ti­zie­ren wären, bevor Inklu­si­on gedacht und gelebt wer­den kann. Im Gegen­teil: Hier soll die­se Dar­stel­lungs­wei­se ledig­lich die Plu­ra­li­tät der Dimen­sio­nen von Diver­si­tät symbolisieren.

Die Gra­fik rechts visua­li­siert in die­ser Dar­stel­lungs­wei­se ein Ver­ständ­nis, in dem Schü­le­rin­nen und Schü­ler mit aus­ge­präg­ten Beein­träch­ti­gun­gen als “mit beson­de­rem För­der­be­darf” wahr­ge­nom­men wer­den, die jeweils ein­zel­ne oder meh­re­re Dimen­sio­nen von Fähig­kei­ten etc. betref­fen. Es sind aller­dings auch Schü­le­rin­nen und Schü­ler in der Gra­fik gar nicht sicht­bar (etwa L4), weil ihre Stär­ken und Schwä­chen offen­kun­dig als inner­halb des “grü­nen Berei­ches” lie­gend wahr­ge­nom­men wer­den, der als “nor­mal” bezeich­net wer­den kann. Nur die­je­ni­gen Schü­ler, deren Stär­ken und Schwä­chen als über den inne­ren Bereich hin­aus­ge­hend wahr­ge­nom­men wer­den, gel­ten also als “beson­ders” förderbedürftig.

Die zwei­te Gra­fik hin­ge­gen zeigt die Stär­ken und Schwä­chen auch der bis­lang als “nor­mal” aus dem indi­vi­du­al­dia­gnos­ti­schen Blick her­aus­fal­len­den Schü­le­rin­nen und Schü­ler — und zwar auf­ge­tra­gen anhand genau der­sel­ben Kate­go­rien. Aller­dings ist die Dar­stel­lung zwar noch deut­lich blass, womit her­aus­ge­stellt wer­den soll, das die spe­zi­fi­sche Zustän­dig­keit von Son­der­päd­ago­gen für die nun mehr nur dem Gra­de, nicht mehr den Kate­go­rien nach als “beson­ders” för­der­be­dürf­tig wahr­ge­nom­me­nen Schü­le­rin­nen und Schü­ler ange­deu­tet wird, aber auch, dass die Exper­ti­se auch der För­de­rung der ande­ren Schü­le­rin­nen und Schü­ler zu Gute kom­men kann und soll.

Wahr­neh­mung indi­vi­du­el­ler Beein­träch­ti­gun­gen in einem mode­rat inklu­si­ven Kon­zept; Andre­as Kör­ber CC-BY-SA 3.0

In einem voll­ends inklu­si­ven Sys­tem schließ­lich wür­den somit alle Schü­le­rin­nen und Schü­ler nach nicht nur der her­kömm­li­chen Schwer­punk­ten, son­dern auch ande­ren Stär­ken und Schwä­chen (ange­deu­tet durch die wei­te­ren Ach­sen der Gra­fik) dia­gnos­ti­ziert, wobei damit gera­de nicht mehr eine patho­lo­gi­sie­ren­de Ein­stu­fung gemeint sein kann, son­dern die Grund­la­ge für die Refle­xi­on auf die Ansprü­che, die die Tat­sa­che sol­cher Stär­ken und Schwä­chen — und vor allem der Unter­schie­de zwi­schen den Schü­le­rin­nen und Schü­lern — für die Pla­nung von Lern­pro­zes­sen und die Gestal­tung von Lern­auf­ga­ben haben kann und soll.

Wahr­neh­mung indi­vi­du­el­ler Beein­träch­ti­gun­gen in einem voll­ends inn­klu­si­ven Kon­zept; Andre­as Kör­ber CC-BY-SA 3.0

Es wird dann gera­de nicht mehr dar­um gehen, ein­zel­nen Schüler(inne)n jeweils auf sie zuge­schnit­te­ne Auf­ga­ben zu geben, wohl aber, sich bei der Gestal­tung von gemein­sa­men und kom­ple­xen Auf­ga­ben der Diver­si­tät in ver­schie­de­nen Dimen­sio­nen bewusst zu sein. Son­der­päd­ago­gi­sche Exper­ti­se wird zur Dia­gnos­tik wei­ter­hin eben­so benö­tigt wie für die Gestal­tung spe­zi­fi­scher Zugän­ge und diver­ser Unter­stüt­zungs­maß­nah­men. Sie soll­ten dann aber nicht den ein­zel­nen Kin­dern spe­zi­fisch gege­ben, son­dern allen ange­bo­ten wer­den, so dass sie zum einen eine nicht-stig­ma­ti­sie­ren­de Dif­fe­ren­zie­rung ermög­li­chen, zum ande­ren die Arbeit an einem gemein­sa­men Gegen­stand sichern.

Damit nun könn­te die ers­te Gra­fik so ver­än­dert werden:

Wäh­rend links nur sol­che Schü­le­rin­nen als “innen” ange­se­hen wer­den, die in den Gra­fi­ken oben im engen grü­nen Bereich ver­or­tet wären, alle die­je­ni­gen dage­gen, die auch nur in ein­zel­nen Dimen­sio­nen “beson­de­ren” För­der­be­darf haben, exklu­diert blei­ben, sind sie in der mitt­le­ren Gra­fik hin­ein­ge­nom­men. Aller­dings sind nur sie hin­sicht­lich ihrer spe­zi­fi­schen Aus­prä­gun­gen von Stär­ken, Schwä­chen, Beein­träch­ti­gun­gen, Per­spek­ti­ven etc. erkenn­bar gemacht. Das wäre eine inte­gra­ti­ve Logik in dem Sin­ne, als die­se Schü­ler “dabei” sind, aber als spe­zi­fisch förderbedürftig.

Rechts hin­ge­gen, bei “vol­ler Inklu­si­on” gibt es den “grü­nen Bereich” letzt­lich nicht mehr. Alle Schü­le­rin­nen und Schü­ler wer­den als mit unter­schied­li­chen Stär­ken, Schwä­chen, Per­spek­ti­ven, Inter­es­sen etc. wahr­ge­nom­men, ohne dass ein­zel­ne die­ser Spe­zi­fi­ka als “beson­ders” för­der­be­dürf­tig nor­miert werden. 

Die­ses Modell kon­zi­piert die inklu­si­ve Lern­grup­pe somit als eine Gemein­schaft, in wel­cher alle Indi­vi­du­en mit ihren Stär­ken und Schwä­chen erkenn­bar sind, also eine Gesell­schaft (an)erkannter Diver­si­tät. Das ist dann auch Vor­be­din­gung dafür, dass Inklu­si­on nicht nur als Her­stel­lung einer Bar­rie­re­frei­heit zu mehr oder weni­ger unver­än­der­ten Gegen­stän­den und Fra­ge­stel­lun­gen und einem nur räum­li­chen und zeit­li­chen “gemein­sa­men” Ler­nen kon­zi­piert wird, son­dern auch als ein Ler­nen, in wel­chem die Teil­ha­ben­den sich auch gegen­sei­tig in ihrer Diver­si­tät und den damit ver­bun­de­nen jewei­li­gen Per­spek­ti­ven auf den gemein­sa­men Gegenstand.
Im Fach Geschich­te ist das etwa dann der Fall, wenn nicht nur gemein­sam und hin­sicht­lich der unter­schied­li­chen Fähig­kei­ten und Schwie­rig­kei­ten adap­tiv über die Kolo­ni­al­ge­schich­te unter­rich­tet und gelernt wird, son­dern wenn dabei auch die Inter­es­sen der Ein­zel­nen am Gegen­stand, ihre Vor-Kennt­nis­se (und auch ihre Phan­ta­sien), ihre Fra­gen, Kon­zep­te und auch Deu­tun­gen sicht- und dis­ku­tier­bar wer­den. Die­se wer­den in einem inklu­si­ven set­ting eben­falls ein grö­ße­res Spek­trum auf­wei­sen als in den ande­ren set­tings. Damit aber hat inklu­si­ves Ler­nen auch eine ver­än­der­te gesell­schaft­li­che und fach­li­che Rele­vanz in dem Sin­ne, dass nicht nur eine ein­ge­schränk­te Per­spek­ti­ve auf den jewei­li­gen Gegen­stand the­ma­tisch wer­den kann, son­dern die Viel­falt der gesell­schaft­li­chen Reprä­sen­ta­tio­nen und Ver­ständ­nis­se selbst erscheinen. 

Über die oben ange­führ­te ledig­lich sym­bo­li­sche Funk­ti­on der zir­ku­lä­ren Pro­fil­dar­stel­lung hin­aus kann die­ses Ver­ständ­nis von Diver­si­tät und die­se Dar­stel­lungs­wei­se in eini­ger Ver­grö­be­rung auch zu einem didak­ti­schen Instru­ment wer­den, dann näm­lich, wenn nicht nur das Spek­trum der Stär­ken und Schwä­chen inner­halb einer Lern­grup­pe in einem sol­chen Dia­gramm (über­schlä­gig) abge­tra­gen wird, son­dern auch mit den glei­chen Kate­go­rien Eigen­schaf­ten von Lern­auf­ga­ben visua­li­siert, d.h. die von ihnen an die Ler­nen­den gestell­ten Her­aus­for­de­run­gen in ver­schie­de­nen Dimen­sio­nen — etwa hin­sicht­lich der Auf­ga­ben­ei­gen­schaf­ten nach Maier/​Bohl et al. (2013), aber auch fach­spe­zi­fi­sche Herausforderungen.
Eine Über­la­ge­rung der Auf­ga­ben­ana­ly­se und des Stär­ken-/Schwä­chen­spek­trums der Lern­grup­pe (oder auch ein­zel­ner Ler­nen­der) kann dann Auf­schluss geben für mög­li­che Dif­fe­ren­zie­rungs­be­dar­fe hin­sicht­lich Unter­stüt­zung und Her­aus­for­de­rung (Scaf­fol­ding).

Lite­ra­tur
Mai­er, U., Bohl, T., Klein­knecht, M., and Metz, K. (2013) ‘All­ge­mein­di­dak­tis­e­he Kri­te­ri­en für die Ana­ly­se von Auf­ga­ben’, in Klein­knecht, M., Bohl, T., Mai­er, U., and Metz, K. (eds.). Lern- und Leis­tungs­auf­ga­ben im Unter­richt. Fächer­über­grei­fen­de Kri­te­ri­en zur Aus­wahl und Ana­ly­se. Bad Heil­brunn: Ver­lag Juli­us Klink­hardt, pp. 9 – 46.