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Wenn in der Geschichts­di­dak­tik von “Sinn” gespro­chen wird, dann zumeist in dem Sin­ne (!), dass damit das Spe­zi­fi­sche einer his­to­ri­schen Ori­en­tie­rung bezeich­net wer­den soll, gegen­über ande­ren Orientierungen.

“His­to­ri­scher Sinn” bezeich­net somit die­je­ni­ge Kate­go­rie, mit der Infor­ma­tio­nen über meh­re­re zeit­lich ver­or­te­te Ereig­nis­se, Hand­lun­gen, Struk­tu­ren zu einem Zusam­men­hang ver­bun­den wer­den kön­nen, der sie nicht nur als zufäl­li­ge Ansamm­lung unver­bun­de­ner Infor­ma­tio­nen, son­dern als Teil eines “geord­ne­ten” Gan­zen erschei­nen lässt, mit des­sen Hil­fe auch die eige­ne Ver­or­tung “in Zeit” als Teil einer sol­chen Ord­nung begrif­fen wer­den kann.

Von “Sinn­bil­dung über Zeit­er­fah­rung” bzw. von der “Arbeit des Geschichts­be­wusst­seins, sich in der Zeit zurecht­zu­fin­den” spre­chen denn auch zwei popu­lä­re For­mu­lie­run­gen des­sen, wobei es beim Geschichts­be­wusst­sein geht.

“Sinn” kann dabei durch­aus meh­re­re Kon­no­ta­tio­nen ent­wi­ckeln, wie auch die Vor­stel­lung des Ursprungs sol­chen Sinns variiert:

  1. Sinn als Absicht und Richtung: 
    1. Der Begriff “Sinn” unter­stellt einen Zusam­men­hang zwi­schen den empi­risch auf­ge­fun­de­nen Ein­zel­hei­ten, der über das Fak­ti­sche hin­aus­geht. Er kon­no­tiert “Absicht”, die gewis­ser­ma­ßen “hin­ter” den Ereig­nis­sen, Inten­tio­nen, Hand­lun­gen, Struk­tu­ren steht.1
    2. Der Begriff kann auch (und ent­hält im His­to­ri­schen Den­ken ggf. expli­zit) die Vor­stel­lung einer Gerich­tet­heit (vgl. engl. “sen­se”2), d.h. einer Ver­laufs­rich­tung der Ereig­nis­se bzw. der durch sie mar­kier­ten Ver­än­de­run­gen, wobei nicht unbe­dingt an eine linea­re Gerich­tet­heit der Gesamt­ge­schich­te gedacht wer­den muss, son­dern auch Kreis­lauf­mo­del­le Rich­tun­gen ken­nen können.
  2. Inhä­ren­ter vs. zu bil­den­der Sinn: Unter­schied­lich ist auch die Vor­stel­lung, ob sol­cher Sinn 
    1. in der Gesamt­heit der Ereig­nis­se, Fak­ten etc. “auf­ge­sucht” wer­den muss, ob er als (von einer höhe­ren Macht, der Geschich­te selbst, der Natur) vor­ge­ge­ben gedacht wird und der His­to­ri­ker bzw. der His­to­risch Den­ken­de die­sen Sinn suchen muss, oder
    2. ob er durch den jeweils his­to­risch Den­ken­den in der Aus­ein­an­der­set­zung mit sol­chen Infor­ma­tio­nen über Ver­gan­ge­nes und in Anwen­dung sei­ner ander­wei­tig bzw. aus frü­he­ren Beschäf­ti­gun­gen mit Geschich­te gewon­ne­nen Kon­zep­ten “gebil­det” wird.

    Bei­de Posi­tio­nen sind dabei auf­ein­an­der verwiesen:

    1. Die kon­struk­ti­vis­ti­sche letz­te­re Vor­stel­lung kommt nicht ohne ein Min­dest­maß einer Vor­stel­lung aus, dass sol­cher zu bil­den­der Sinn nicht belie­big sein darf, son­dern zumin­dest ein Qua­li­täts­maß in der Empi­rie selbst findet;
    2. die fak­ti­zis­ti­sche Posi­ti­on muss aner­ken­nen, dass zumin­dest wegen der Lücken­haf­tig­keit der Über­lie­fe­rung (Par­tia­li­tät) und der Unmög­lich­keit, alles zu betrach­ten (Selek­ti­vi­tät) sowie in Aner­ken­nung unter­schied­li­cher Per­spek­ti­ven, der jeweils “gefun­de­ne” Sinn immer auch “gebil­det” wor­den ist.

    Der Unter­schied bei­der Posi­tio­nen besteht somit vor­nehm­lich in den Vor­stel­lun­gen von Wahr­heit: Wäh­rend die fak­ti­zis­ti­sche Posi­ti­on letzt­lich davon aus­geht, dass Sinn­bil­dung (wenn sie denn so bezeich­net wird) ihr ulti­ma­ti­ves Maß im Ver­gleich mit dem tat­säch­li­chen Sinn der Geschich­te fin­det, geht die kon­struk­ti­vis­ti­sche Posi­ti­on zumin­dest davon aus, dass alle For­mu­lie­run­gen von Sinn (also auch die Ver­su­che der Fak­ti­zis­ten, die unab­hän­gi­ge Instanz zu for­mu­lie­ren), glei­cher­ma­ßen kon­stru­iert sind. Ihr zufol­ge löst sich die Vor­stel­lung einer Qua­li­tät von Sinn­bil­dun­gen in ein mehr­di­men­sio­na­les Kri­te­ri­um der “Trif­tig­keit” auf, bei dem Über­le­gun­gen der empi­ri­schen Stim­mig­keit (“empi­ri­sche Trif­tig­keit” nach Rüsen bzw. “Begrün­dungs­ob­jek­ti­vi­tät” nach Her­mann Lüb­be), der nor­ma­ti­ven Pas­sung (“nor­ma­ti­ve Trif­tig­keit” bzw. “Kon­sens­ob­jek­ti­vi­tät”)3 und der “nar­ra­ti­ven Trif­tig­keit” bzw. “Kon­struk­ti­ons­ob­jek­ti­vi­tät” zusam­men­ge­hen müssen.

Gemäß der in der Geschichts­di­dak­tik (wenn auch nicht in der Pra­xis) weit ver­brei­te­ten (gemä­ßigt) kon­struk­ti­vis­ti­schen Vor­stel­lung ent­steht (in der Ver­si­on nach RÜSEN) Sinn dadurch, dass zwei dif­fe­ren­te Zeit­vor­stel­lun­gen mit­ein­an­der in Bezie­hung gebracht wer­den müs­sen, um leben zu können.

  1. Der Mensch ist als Wesen mit einem “Inten­tio­na­li­täts­über­schuss” aus­ge­stat­tet, der es ihm ermög­licht, inten­tio­nal (auch: hof­fend, erwar­tend, befürch­tend) die empi­risch erfah­re­ne Gegen­wart zu über­stei­gen und sich die Welt anders vor­zu­stel­len als sie ist.
  2. In Bezug auf Zeit zeigt sich die­ser Über­schuss dar­in, dass die Zukunft als von der Gegen­wart dif­fe­rent erwar­tet (erhofft/​geplant …) wird.
  3. In Kon­trast zu die­ser “Human­zeit” des eige­nen Pla­nens, Hof­fens, Befürch­tens und Wol­lens steht die von Rüsen so genann­te “Natur­zeit” der vom den­ken­den Indi­vi­du­um als von ihm selbst als nicht beein­fluss­bar wahr­ge­nom­me­nen Ver­än­de­run­gen in Zeit. Die­se umfasst nicht nur “natür­li­che” (im Sin­ne von Nicht-mensch­li­che), son­dern auch sol­che Pro­zes­se, die von ande­ren Men­schen ver­ur­sacht werden.
  4. Zwi­schen Human- und Natur­zeit besteht ein stän­di­ger Wider­spruch, ein Span­nungs­feld, weil nie­mals die eige­nen Hoff­nun­gen, Pla­nun­gen etc. 100% ein­tref­fen und die Zukunft nur der eige­nen Human­zeit­pro­jek­ti­on ent­spricht. Die Dif­fe­ren­zen sind unter­schied­lich stark, aber immer gegeben.
  5. Ohne ein Kon­zept, mit dem Human- und Natur­zeit in einen gemein­sa­men Zusam­men­hang gedacht (nicht: ange­gli­chen wer­den) kön­nen, müss­te der Mensch pla­nungs­un­fä­hig werden.
  6. Die­ses Kon­zept bedarf muss drei Bedin­gun­gen erfüllen: 
    1. Es muss die Grund­vor­stel­lung ent­hal­ten, die Lösung der Dif­fe­renz zwi­schen Human- und Natur­zeit weder mit dem Modell einer völ­li­gen Deter­mi­na­ti­on der rea­len Zukunft durch irgend­ein Ver­gan­ge­nes oder Gegen­wär­ti­ges mög­lich ist (weil dies bedeu­ten wür­de, dass man selbst eben­so deter­mi­niert wäre und kei­ner­lei Pla­nun­gen, Hoff­nun­gen, Hand­lun­gen mehr mög­lich wären);
    2. eben­so muss es die Mög­lich­keit aus­schlie­ßen, dass Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart völ­lig unver­bun­den wären, dass also die jeweils neue gegen­wär­ti­ge Welt “from scratch” neu erschaf­fen wor­den wäre ohne dass auch nur irgend­ein Teil aus der Ver­gan­gen­heit über­nom­men, fort­ge­schrie­ben, ver­än­dert wor­den wäre. Eine der­art voll­stän­dig unbe­stimm­te Zukunft müss­te die Apo­rie unver­än­dert gül­tig lassen;
    3. es muss also davon aus­ge­hen, dass es einen Zusam­men­hang zwi­schen Ver­gan­gen­heit und Zukunft gibt, der gege­ben ist, der aber Raum für eige­ne Hand­lun­gen belässt. Die Auf­ga­be des his­to­ri­schen Den­kens besteht also in der “Bewäl­ti­gung” der Kon­tin­genz zwi­schen den aus­ge­schlos­se­nen Extre­men der völ­li­gen Deter­mi­na­ti­on und der völ­li­gen Unver­bun­den­heit, die bei­de ein eige­nes Han­deln unmög­lich und eine Ori­en­tie­rungs­leis­tung auch unnö­tig machen würden.
  7. Das Kon­zept “his­to­ri­scher Sinn­bil­dung” besagt nun, dass mit Hil­fe einer Wen­dung zur Ver­gan­gen­heit und der empi­ri­schen wie den­ken­den Ver­ar­bei­tung ver­gan­ge­ner Dif­fe­renz­er­fah­run­gen zwi­schen Human- und Natur­zeit und der (kon­trol­lier­ten) Extra­po­la­ti­on der Ergeb­nis­se in die Zukunft eine “Bän­di­gung” der Dif­fe­renz­er­fah­rung mög­lich wird.
  8. “His­to­ri­scher Sinn” ist also die empi­risch und kate­go­ri­al den­kend her­ge­stell­te Vor­stel­lung eines Zusam­men­han­ges zwi­schen Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart, der in die Zukunft wei­ter reicht und der des­halb sowohl zur Iden­ti­fi­ka­ti­on des eige­nen Stand­orts im “Strom der Zeit” wie auch zur Ori­en­tie­rung eige­nen, in die Zukunft gerich­te­ten Han­delns befähigt.

1Hier­zu passt, dass der Begriff des “Fak­tums”, der oft­mals für die nack­te Tat­säch­lich­keit eines Gesche­hens genom­men wird, in der Geschichts­theo­rie des His­to­ris­mus, etwa bei Leo­pold von Ran­ke gedacht ist als das Ergeb­nis einer “Tat Gottes”.

3Rüsen, Jörn (1997): “Objek­ti­vi­tät.” In: Berg­mann, Klaus u.a. (1997): Hand­buch der Geschichts­di­dak­tik. Seel­ze-Vel­ber: Kallmeyer.[custom_field limit=“1” between=”, ” /]

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