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Andreas Körber: „Professionalität und Geist“

Beitrag zur Veranstaltung „Mehr Geist“ an der Universität Hamburg am 6.7.2011

Ich bin gebeten worden, ein paar Gedanken beizutragen zur Frage, welche Rolle die universitäre Bildung und darin die Geisteswissenschaften haben. Das will ich gerne tun.

Ich werde dabei nicht nur Perspektive des Historikers einnehmen, sondern die eines für Lehrerbildung mit-verantwortlichen Hochschullehrers, denn das bin ich als Fachdidaktiker im Hauptberuf. Diese Perspektive schützt vielleicht auch ein wenig davor, Geisteswissenschaften nur aus derjenigen Perspektive heraus zu betrachten, die sie selbst einnehmen: Geisteswissenschaftliche Studien(anteile) sind natürlich bedeutsam, wenn es um die Weiterentwicklung der Geisteswissenschaften geht, um deren eigenen Nachwuchs. Das ist so selbstverständlich, dass es hier kaum weiterhilft.

Dagegen kann und muss man natürlich die Bedeutung der Geisteswissenschaften für die Gesellschaft herausstellen, ihre Funktion bestimmen – etwa darin dass sie es sind, die über die nicht nur messbaren und quantifizierbaren Bedingungen unser aller Denken und Handeln Auskunft geben, über die logischen, sprachlichen, normativen Dimensionen, in denen Menschen sich über ihre Welt verständigen müssen usw., für die Klärung der nicht einfach in Form von Daten verfügbaren Grundlagen gerade auch der anderen Wissenschaften. Das haben andere vor mir getan und können andere besser. Viele Berufenere sind darunter.

Ich möchte vielmehr etwas dazu sagen, welchen Stellenwert Geisteswissenschaften dazu beitragen können und müssen, wenn es nicht um sie selbst geht, um ihren eigenen Nachwuchs, sondern wo es um ihren Beitrag zu einer Professionalisierung geht, die keineswegs zwingend universitär und unter ihrer deutlichen Beteiligung erfolgen muss. Andere Organisationsformen sind nicht nur denkbar, sondern werden – in anderen Ländern durchaus praktiziert: es geht um die Lehrerbildung.

Wer Lehrer werden will, so könnte man meinen, soll sein Fach beherrschen (was immer das ist), und zwar auf dem neuesten Stand der Kenntnisse, und ein guter Pädagoge sein. In den letzten Jahren haben bestimmte Auffassungen vom Lernen, von den Strukturen des Lehrerberufs, seinen Belastungen und den Kriterien der Eignung von Lehrern durchaus diesem Verständnis Vorschub geleistet. Zuweilen gewinnt man den Eindruck, dass fachliches und pädagogisches Wissen und Können (um nicht von Kompetenz zu sprechen) nebeneinanderstehende Dimensionen sind, die nicht einer spezifischen Verschränkung bedürfen, wenn Lehrer mehr sein wollen als gute Pädagogen und Unterrichtsbeamte. Auch die Verknüpfung beider Dimensionen im Konzept des „fachdidaktischen Wissens“ (pedagocical content knowledge, nach SHULMAN) hilft allein nicht weiter – vor allem dann nicht, wenn darunter ein wiederum von den anderen Bereichen abgetrennter Bereich von Wissen verstanden wird, der einfach gelernt und verstanden und dann geprüft werden kann, und über den man dann wenn nicht lebenslang, so doch einige Zeit verfügt.

Ich möchte dem ein Konzept gegenüberstellen, das auch mit dem Begriff der Professionalisierung arbeitet, diesen aber anders verwendet. Genauer gesagt, ist es ein Bündel von Konzepten, in denen die Professionalität von Lehrern konzeptionalisiert erforscht und strukturiert wird.

Am nächsten steht mit selbst das Verständnis von Professionalität, das der Frankfurt Kollege Frank-Olaf Radke vor nunmehr 12 Jahren entworfen hat, und das er im Rahmen einer ganz ähnlichen Veranstaltung erstmalig vorstellte.

Ich zitiere:

In der Begriffstrias Arbeit, Beruf, Profession wird letztere durch drei entscheidende Merkmale, die gleichzeitig erfüllt sein müssen, gegen die beiden anderen Tätigkeitsformen abgegrenzt: (a) Wissenschaftliche Fundierung der Tätigkeit in (b) gesellschaftlich relevanten, ethisch normierten Bereichen der Gesellschaft wie Gesundheit, Recht, auch Erziehung und (c) ein besonders lizenziertes Interventions- und Eingriffsrecht in die Lebenspraxis von Individuen (2). In diesem Verständnis fallen also Betriebswirte oder Ingenieure, deren Bezugsfeld die Wirtschaft der Gesellschaft ist und deren Erfolgskriterium am Markt orientierte Effizienz ist, nicht in diese Kategorie, auch Wissenschaftler/Forscher übrigens nicht, wohl aber Ärzte und Juristen, die als die klassischen Professionen gelten, neuerdings auch Psychotherapeuten oder Sozialpädagogen u. a. m. Auch Lehrer und Lehrerinnen gehören zu dieser Gruppe der people processing professions (3).“

 

Es geht dabei also um die Befähigung einer Gruppe von Menschen, denen besondere Eingriffsrechte in die Lebenschancen von Mitmenschen eingeräumt ist, diese ihnen gegebene Macht auf eine Art und Weise zu nutzen, die sowohl individuell wie auch strukturell zu verantworten ist. Diese „Macht“ nicht haben zu wollen, hilft nicht: Inhaber dieser Berufe haben nolens volens diese Eingriffsfunktionen zu erfüllen.

 

Erneut Radtke:

Professionelle in dem angedeuteten Verständnis nehmen ihre Aufgaben in einer besonderen, doppelt verankerten Handlungslogik vor: Sie müssen (a) situativ (und intuitiv) in der Lage sein zu individuellem Fallverstehen und können dies (b) in hermeneutischer Haltung auf der Basis universellen Regelwissens, also wissenschaftlicher Theorien. Sie applizieren ihr theoretisches, situationsunabhängiges Wissen bei der Interpretation von Situationen, bei der stellvertretenden Deutung von Problemen ihrer Klienten und bei der Formulierung des Angebots von Therapie/Lösungsstrategien in einer „klinisch“ zu nennenden Weise (5).

Aus diesem Zitat möchte ich vor allem einen Gedanken ableiten, nämlich dass, wer immer in einer Profession tätig ist, die Verantwortung für sein Handeln nicht einem abstrakten Regelwerk oder den Vorsetzten überantworten kann. Anwälte, Ärzte, Psychotherapeuten und eben auch Lehrer arbeiten somit in einem mehrfachen Verantwortungsverhältnis. Einerseits sind sie nicht nur den allgemeinen Gesetzen unterworfen wie auch betriebsspezifischen Anordnungen (wie etwa einer Hausordnung, einer Dienstanweisung), sondern auch besonderen Vorgaben für ihre Tätigkeit. Bei Lehrern sind das unter anderem Lehr- und Bildungspläne, Rahmenvorgaben, in den letzten Jahren vor allem aber auch „Bildungsstandards“. Gleichzeitig können diese Inhaber dieser Berufe sich aber nicht auf die Funktion eines Sachbearbeiters zurückziehen, in dem Sinne, dass ihre „Fälle“ bei eigener Abwesenheit ohne Weiteres von einem Kollegen einfach übernommen und ohne wesentliche Änderung weiter „bearbeitet“ werden könnten.

Die Struktur der Eingriffe in die Lebenschancen der Klientel ist so geartet, dass der professionell Handelnde nicht nur als Vertreter seiner Institution, des Staates oder seiner Zunft aktiv und erkennbar wird, sondern in eigentümlicher Weise als eine Person – nicht in seiner Privatheit, wohl aber als ganzer Mensch, sondern als „Profi“. Das markiert letztlich nur die besondere Verantwortung, die mit diesem Berufen gegeben ist.

Wenn Radtke nun davon (m.E. überzeugend) herausarbeitet, man mit immer wiederkehrenden individuellen „Einzelfällen“ nur verantwortlich in ihrer jeweiligen Individualität umgehen kann vor dem Hintergrund eines umfassenden Theoriewissens, das zugleich abstrakt ist und variabel applizierbar, dann ist damit genau derjenige Teil der universitären Bildung gemeint, in dem – neben Pädagogik, Psychologie, Recht usw. – auch die Geisteswissenschaften ihren Stellenwert erhalten.

Wer als Lehrer gerade nicht nur rezeptiv-passiv den sich verändernden Interpretationen und Konnotationen dieser Begriffe folgen will, wer nicht, sich selbst ent-mächtigend, immer nur in der Lage sein will, andere zu fragen, was denn jeweils gerade unter den allseits zu findenden Leitbegriffen zu verstehen ist, wie er „Geschichtsbewusstsein“ oder „Kompetenz“ zu begreifen hat, was denn unter „Lernen“ zu verstehen sei usw., aber auch, was es denn mit den den Gegenstand strukturierenden Konzepten auf sich hat, etwa mit der Periodisierung „Antike – Mittelalter – Frühe Neuzeit – Moderne“ oder mit der Differenzierung „Politische Geschichte, Sozialgeschichte, Gesellschaftsgeschichte, Alltags- und Mikrohistorie, Mentalitätsgeschichte“ usw., mit den Begriffen „Geschichte, Erinnerung, Gedächtnis, Gedenken“, wer (hoffentlich) ein Problem damit hat, einfach eine solche Geschichte oder gar eine Epoche, ein Thema im Unterricht zu „machen“ oder „durchzunehmen“, der muss selbst in der Lage sein, an der gesellschaftlichen Debatte um die Grundlagen seines beruflichen Tuns mindestens rezeptiv-reflektierend, besser gestaltend teilzuhaben – muss sich einbringen können in die Frage, ob bzw. in welchem Umfang „Erinnerungskultur“ und Gedächtnis im Geschichtsunterricht einen Platz haben sollen, und zu welchem Zweck sie dort zu thematisieren seien, muss wohl eine Position dazu entwickeln, (um ein Beispiel aus einer anderen Domäne zu nehmen, welchen Stellenwert und welche Bedeutung Schreib- und Druckschrift haben und haben sollen. Positionen zu dieser Frage lassen sich m.E. nur zum Teil mit empirischen pädagogisch-psychologischen Ergebnissen dazu untermauern, ob Schülerinnen und Schüler mit oder ohne Schreibschrift-Ausprägung später erfolgreicher sind: man muss sich auch zum Argument des Verlusts eines „Kulturgutes“ bei der Abschaffung auseinandersetzen. Ebenso, wie man auf der Basis all dieser hoffentlich fundierten Auffassungen die Einzelfälle beurteilt und behandelt (hilft es der Schülerin Jennifer, wenn ich ihr mehr Schreibschrift-Training zumute, weil sie flüssiger wird? Oder hemmt die Konzentration auf das Schreibformat den Zusammenhang zwischen Denken und Schreiben? Kann der Fall Frank mit den gleichen Überlegungen beurteilt werden?), wird man mit ihnen befähigt zur Teilhabe an der gesellschaftlichen Auseinandersetzung.

 

„Professionalität“ bedeutet also nicht nur, geklärte und erprobte Haltungen und Routinen zu besitzen, die es ermöglichen komplexe und unübersichtliche Handlungssituationen und Alltage zu meistern, bedeutet nicht nur, nach allseits anerkannten Standards der Profession handeln zu können, sondern bedeutet, die je individuellen Fälle, Situationen, Menschen nicht einfach unter allgemeine Regeln und Strukturen subsumieren zu können, um dann nach deren Logiken zu handeln, sondern vielmehr mit Hilfe der allgemeinen, als Abstrakta erkannten Regeln und Strukturen die immer neuen Situationen einer eigenen, neuen „Lösung“ zuzuführen.

Das ist – diese Nebenbemerkung ist wohl nötig – übrigens kein Widerspruch zur „Praxisorientierung“. Ich habe im letzten Semester mehrfach deutlich gemacht, dass ich – im Gegensatz zu manchen Studierenden – unter „Praxisbezug“ und dessen Steigerung keineswegs verstehe, dass Studierende möglichst viel Zeit in der Praxis verbringen, von den erfahrenen „alten Hasen“ lernen, wie „man es macht“, sondern dass Praxisbezug im Studium einen reflektierenden Zugriff haben sollte, dass an den Problemen, die man in Praxis beobachtet und erlebt, an den eigenen Erfahrungen beim praktischen Üben Gesichtspunkte entwickelt, die einer weiteren theoretischen Klärung zugeführt werden können. Praxis und Theorie sind also nicht in Form eines Nullsummenspiels miteinander verbunden, derart, dass ein Mehr des Einen ein Weniger des Anderen bedeuten müsste und bei dem derzeit die „Praxis“ mehr Gewicht bekommt – im Gegenteil: Mehr Praxiserfahrung verlangt nach mehr Theorie. Werner Helsper hat von ebenfalls zehn Jahren in einem kleinen, ebenfalls auf Oevermann basierenden Aufsatz herausgestellt, dass und wie Lehrerinnen einen „doppelten Habitus“ entwickeln müssen – sowohl den des praktischen pädagogischen Handelns, der pädagogischen Kommunikation mit Geistesgegenwart, Witz und Konsequenz, der nicht durch theoretische Reflexion zu erwerben ist (Helsper 2011, 10), wie auch den wissenschaftlich-reflexiven, der die eben in die Lage versetzt, die Fälle und das eigene Handeln zu reflektieren. Letzterer benötigt aber sowohl in der Ausbildung wie auch im späteren Berufsalltag den vom unmittelbaren pädagogischen Handlungsdruck befreiten eigenen Raum als „Brutstätte“ (Helsper 2001, 10f). Vor genau diesem Hintergrund hat fast gleichzeitig Radtke auch dafür plädiert, bei aller Integration von Theorie und Praxis am Eigenwert theoretisch fokussierter Anteile im Studium festzuhalten (Radtke ). Lehrerbildung an der Universität darf nicht einfach „Ausbildung“ in der Praxis sein, sondern muss immer wieder die „universitäre“ Reflexion umfassen. Hier ist schon ein Ansatzpunkt für unsere Frage nach der Notwendigkeit geisteswissenschaftlicher Bildung.

Gleichzeitig aber – und hier ist die Nebenbemerkung zur Praxis beendet – bedeutet Professionalität – und hier gehe ich über die Argumentation von Frank-Olaf Radtke und Werner Helsper hinaus – auch, sich gegenüber den allgemeinen Regeln und Strukturen, den anerkannten Verfahrensweisen und Prinzipien nicht nur rezeptiv zu verhalten, sondern sie selbst auch in den Horizont eigenen Handelns zu bringen. Wer als Lehrer professionell sein will (und soll), dem darf es eben nicht egal sein, ob bzw. inwieweit die ihm von Gesellschaft und übergeordneten Institutionen vorgegebenen Regeln und Prinzipien gültig sind, der darf sich ihnen gegenüber weder indifferent, noch affirmierend verhalten. Es reicht nicht aus, das Lehren einmal gelernt zu haben, in dem Glauben, dass man es dann könne. Sowohl mit Blick auf die eigene Praxis als auch mit Blick auf die Gesellschaft muss der Professionalisierte in der Lage sein, auch die Regeln und Prinzipien immer wieder selbstständig zu hinterfragen und an ihrer Veränderung mitzuwirken. Lehrer, die die Lehrpläne immer nur hinnehmen, auch solche, die bestrebt sind, immer die aktuellsten Varianten zu kennen und zu befolgen, nehmen nur eine Hälfte ihrer Professionalität wahr, selbst dann, wenn sie die professionelle Nutzung dieser Abstrakta bei der Suche je eigener Lösungen beherrschen. Hinzu kommen muss die Anerkennung der Mit-Zuständigkeit für die Veränderung der jeweils anerkannten Regeln und Prinzipien. Wer professionell sein will und soll, muss in der Lage und bereit sein (d.h. „kompetent“), die gesellschaftlichen und erkenntnistheoretischen Bedingungen seines Tuns zu reflektieren, ihre Veränderungen wahrzunehmen, über die Geltung, über „Wahrheit und Gewissheit“, wie unser Präsident immer formuliert, selbstständig nachzudenken und sich mit den anderen auseinanderzusetzen. Es mag ja sein (und es ist ein Problem), dass die meisten Lehrer ob der Gestaltungen des Arbeitsplatzes, der Arbeitszeitmodelle usw. kaum Zeit haben, an der Entwicklung und Diskussion von Lehrplänen und Curricula etc. aktiv teilzuhaben, es mag ja sein, dass deswegen die Rückmelde-Aufforderungen bei vielen Innovationen nur geringen Rücklauf erbringen, es mag sein – die prinzipielle Mit-Zuständigkeit hierfür muss von einem Lehrer gefordert werden.

Um es mit einem Schema zu illustrieren:

Wer als Lehrer professionell sein will, der braucht nicht nur fachliches, pädagogisches und fachdidaktisches Wissen, er braucht auch nicht nur Routinen, er braucht die Kompetenz, d.h. die Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft, sich mit den Grundlagen all dieser selbst und selbstständig auseinanderzusetzen und eine professionelle Auffassung davon sowohl aufzubauen als auch immer wieder umzubauen.

Benötigt wird somit Theoriewissen, dass in Praxis immer neu aktualisiert werden kann, benötigt wird

    • eine Theorie des Menschen, eine Theorie davon, was menschliches Denken, Handeln und Lernen denn ist und sein kann
    • eine Theorie der Gesellschaft, in der Lehren und Lernen von Statten geht, und theorieförmige Kenntnisse und Kategorien, in denen die jeweils konkrete Gesellschaft beschrieben und auf ihre Implikationen hin beschrieben werden kann. Wer nicht in der Lage ist zu analysieren und zu reflektieren, inwiefern sich unsere heutige Gesellschaft (und die zu erwartende der nahen Zukunft) von anderen Gesellschaften früherer Zeiten und anderer Kulturen unterscheidet, und was das für die Konzeptionen von Lernen grundsätzlich und von intentionalen Lernprozessen bedeutet, der wird als Lehrer allenfalls stillgestellte, nicht aber geklärte Prinzipien nutzen können, um die ihm im Alltag begegnenden individuellen Menschen und die jeweilige Situation zu reflektieren und Lösungen zu finden. Wer nicht darüber Auskunft geben kann (sich und anderen), inwiefern sich die Gesellschaft der heutigen Zeit von derjenigen der 1950er Jahre unterscheidet, und welche Änderungen in den Wissensbeständen, den pädagogischen Prinzipien, den didaktischen Makro- und Mikro-Methoden als Anpassungen an die veränderte Situation zu verstehen und wie sinnvoll sie sind, der wird notwendig vor den weiteren zu erwartenden Veränderungen scheitern.
    • Es bedarf einer Theorie der Institution(en), in denen die Gesellschaft das eigenen Handeln rahmt, organisiert, kontrolliert.
    • Es bedarf einer Theorie des jeweiligen Faches – nicht nur in dem Sinne, dass man ja auch Fachwissenschaftler wird (das kann man durchaus in Frage stellen, ob Lehrer das werden sollen), nicht im Sinne einer „Kunde“ der jeweils gültigen Forschungserkenntnisse, sondern hinsichtlich der Bedeutung des „Faches“ – und hier spreche ich es bewusst in Anführungszeichen – für die Gesellschaft, die Individuen in ihr und für das Lernen. „Geisteswissenschaft“ kommt dabei nicht nur bei denjenigen Fächern ins Spiel, die selbst unter diese Rubrik fallen, sondern als fundamentaler Reflexionshorizont auf die Grundlagen des eigenen Faches. Es geht um die Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft, die Natur des eigenen Faches – ich ziehe der Terminus der „Domäne“ vor – selbst zu reflektieren und sich gerade dabei nicht auf die jeweils „gültige“ Konzeption zu verlassen.
    • Ich möchte das am Beispiel des eigenen Faches kurz skizzieren – auch wenn das doch eines derjenigen ist, die unter die Geisteswissenschaften fallen:
      • Kann man Geschichte unterrichten, kann man verantwortlich von jungen Menschen, deren „Erziehung“ und/oder „Bildung“ einem überantwortet ist, verlangen, sich mit Dingen zu beschäftigen, die gerade nicht lebensweltlich nah sind, sondern vergangen, fort, passé, wenn man nicht selbst ein geklärtes Verständnis davon hat, wozu dieses „Geschichte“ eigentlich gut ist? Gerade unter der Herausforderung eines nicht im engeren Sinne fachlichen „Handlungsdrucks“ braucht es ein besonders klares Verständnis dafür, was denn dieses „fach“ und das in ihm produzierte Wissen für die konkreten Lernenden bedeuten kann und soll.
      • Es bedarf zudem einer durchaus ausgefeilten eigenen Auffassung davon, welche Möglichkeiten valider Erkenntnis die Domäne eigentlich bietet. Es mach durchaus einen großen Unterschied, ob man – etwa mit Richard Evans – davon ausgeht, dass es (wenn auch mit Abstrichen) möglich ist, valide Aussagen über vergangene Wirklichkeiten zu treffen, und dass diese Erkenntnis der vergangenen Wirklichkeit durch Objektivierungsbestrebungen beobachterunabhängig geleistet werden können, oder ob man mit den Relativisten und Konstruktivisten davon ausgeht, dass historisches Wissen immer und notwendig relationales Wissen ist, das gerade nicht „die Vergangenheit“ in ihrer komplexen Realität, sondern den gedanklichen, sprachlichen und wertenden Bezug der Gegenwart zu dieser vergangenen Realität zum eigentlichen Kern hat. Aufgabe und Zweck historischen Denkens und Lernens sind in beiden Konzepten durchaus unterschiedlich – schon das Verhältnis von „Wissen“ und „Können“ gestaltet sich anders.Sich auf die Position zu stellen, dass man das ja einmal lernen könne, dass es zur Befähigung der Lehrerinnen und Lehrer in dieser Hinsicht vornehmlich eines guten Lehrbuches brauche, ist durchaus irrig. Es geht nämlich keineswegs darum – und hier nähere ich mich an Hand meines Beispiels langsam einem Kernargument, warum ein vollgültiges geisteswissenschaftliche Studium nötig ist – nur selbst für sich die erkenntnistheoretische Frage, die nach den jeweiligen epistemologischen Überzeugungen und ihren Konsequenzen geklärt zu haben – der Lehrer, die Lehrerin steht vielmehr vor der Aufgabe, immer wieder mit Menschen produktiv umzugehen, die ganz andere Vorstellungen zu diesem Komplex aufweisen. Sei, es, dass sie sie aus anderen Ländern und Kulturen mitbringen, sei es, dass Eltern ganz andere Vorstellungen davon in die Elternarbeit einbringen, was denn Geschichte und Geschichtsunterricht sei – sei es, dass Schülerinnen und Schüler selbst mit spezifischen Vorstellungen kommen – und zwar immer im Plural gedacht.Wie organisiere ich einen Lernprozess in einer Gruppe, in der ich wahrnehme, spüre, dass mehrere Schülerinnen und Schüler durchaus unterschiedliche Ansprüche an das Lernen haben? Wie erkenne ich überhaupt, welche Vorstellungen, welche Alltagstheorien etc. Schülerinnen und/oder Eltern mitbringen, welche Konzepte vom Zweck und den Möglichkeiten des Faches sie haben?
      • Das Beispiel mit den Kulturen ist übrigens eines, das besonders geeignet ist, die Notwendigkeit gerade auch geisteswissenschaftlicher Studien zu verdeutlichen. Lässt sich die Frage nach den Besonderheiten unserer heutigen „heterogenen“ Gesellschaft und der aus diesen Besonderheiten zu ziehenden Konsequenzen für Schule und Lernen einfach mit Hilfe sozialwissenschaftlicher Methoden und Kategorien reflektieren? Es ist zwar mit Sicherheit nötig, die Identitäten, die Wert-, Norm- und Zugehörigkeitsvorstellungen der Mitglieder dieser Gesellschaften mit Hilfe sozialwissenschaftlicher Methoden zu erforschen – ohne eine auch geisteswissenschaftlich fundierte Reflexion dessen, welche Konzepte in solchen Befragungen und Untersuchungen von den Befragten artikuliert werden, welche Begriffe von „Kultur“ etwa jeweils benutzt werden, ohne eine gerade auch geisteswissenschaftliche Erkenntnis dessen, was eigentlich „Kultur“ ist und sein kann, wird es nicht gehen. Gerade für den Geschichtsunterricht ist es etwa meines Erachtens geradezu nötig, dass man ein Verständnis davon besitzt, welche Leistungen eine sich als Sozialwissenschaft begreifende Geschichtswissenschaft erbringen kann und welche Grenzen sie aufweist, welche Stärken und Schwächen, und welche Leistungen eine kulturwissenschaftliche Orientierung zu erbringen vermag. Gerade in „kulturell“ heterogenen Gesellschaften wird man nicht umhin kommen, sich ein eigenes geklärtes Verständnis und eine Reflexionsfähigkeit zu der Frage zu erarbeiten, inwiefern „Kultur“ und „Kulturen“ im plural reale Gebilde oder soziale Konstruktionen sind, welche Bedeutung kulturelle Zugehörigkeiten, Kulturstandards und kulturelle Phänomene für unterschiedliche Menschen der Gesellschaft aufweisen. Wer heutzutage über Lehren und Lernen mitreden will, muss selbst drei bis vier verschiedene Kulturbegriffe differenzieren und anwenden können.
    • Als letztes Beispiel schließlich: Wer immer sich in der heutigen Gesellschaft professionell, d.h. beruflich oder aus anderem Engagement, mit Bildung und Erziehung, Lehren und Lernen und ihrem Feld auseinandersetzt, tut gut daran, die in den jeweiligen Begriffen enthalten (jeweils mehreren) Konzepte in ihrer historischen Aufgeladenheit nicht nur zu kennen, sondern ihr Verhältnis für sich geklärt zu haben. Sind „Bildung“ und „Erziehung“ Gegensätze? Ist „Erziehung“ das negative Gegenbild zu „Bildung“ (in verweise auf die Berliner „Kinderrechtszänker“1)? Lässt sich diese Frage überhaupt im Sinne eines dichotomen ja/nein behandeln? Welche Traditionen bringen diese Begriffe und wirksamen Konzepte mit, die vielleicht weniger einen Gegensatz als ein komplementäres oder anders gearteten Verhältnis implizieren? Ist es für unsere heutigen Probleme sinnvoll und weiterführend, ein aufklärerisches und humanes Konzept von Bildung des Menschengeschlechts einem Erziehungsverständnis mit jüdischen und pietistischen Vorstellungen von Zucht und Brechung des bösen Willens gegenüberzustellen? Oder trägt – wie es etwa Renate Girmes getan hat2 – für die posttraditionale Gesellschaft, in der wir leben, der doppelte Rückgriff auf Hannah Arendt und Herbart weiter, aus dem heraus kein aufklärerisch-emphatisches, sondern ein durchaus pragmatisch zu wendendes Verständnis von Bildung entwickelt werden kann?

Um zum Schluss zu kommen:

    • Geisteswissenschaften sind gerade aus einer „Anwendungsperspektive“ her gesehen, der es nicht um möglichst bruchlose Verwertbarkeit geht, sondern um die Professionalität unverzichtbar. Man muss nicht (darf aber) darauf zurückgreifen, dass Geisteswissenschaften eine besondere Dignität besäßen, dass sie in einem spezifischen Sinne die auf den Menschen bezogenen und gattungsbezogen selbstreflexiven Disziplinen seien, nämlich Humanities im Unterschied zu den Natur- und diesen partiell nachgebildeten Sozialwissenschaften, die sich in anderer Weise auf die Erforschung der dem Menschen gegenüber stehenden Natur oder Gesellschaft widmen, man muss auch nicht in besonders emphatischem Zugriff die kritische Aufklärung gesellschaftlicher Praxis für diese Disziplinen reklamieren. Es tut nicht Not, den Disziplinen als solchen die Wächterfunktion gegenüber den anderen, marktkonformer ausgerichteten Disziplinen und ihren Wirkungen zuzuweisen – so richtig und wichtig alles dieses ist, mindestens ebenso deutlich lässt sich die Notwendigkeit geisteswissenschaftlicher Bildung aus der Gesellschaftsanalyse her begründen, dass in pluralen, heterogenen und gleichzeitig sich als demokratisch verstehenden Gesellschaften den im Alltag mit wesentlichem Einfluss auf andere Handelnden es nicht abgenommen werden kann, dieses eigene Handeln immer selbst und immer neu zu er- und begründen mit Hilfe von Kenntnissen und Erkenntnissen, die wiederum gesellschaftlich diskutiert und beurteilt werden können. Das aber setzt eine Professionalisierung voraus, die ohne geisteswissenschaftliche Bildung schlicht nicht zu denken ist.

 

1www.kraetzae.de

2Girmes, Renate (1997): Sich zeigen und die Welt zeigen. Opladen.