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Andre­as Kör­ber: “Pro­fes­sio­na­li­tät und Geist”

Bei­trag zur Ver­an­stal­tung “Mehr Geist” an der Uni­ver­si­tät Ham­burg am 6.7.2011

Ich bin gebe­ten wor­den, ein paar Gedan­ken bei­zu­tra­gen zur Fra­ge, wel­che Rol­le die uni­ver­si­tä­re Bil­dung und dar­in die Geis­tes­wis­sen­schaf­ten haben. Das will ich ger­ne tun.

Ich wer­de dabei nicht nur Per­spek­ti­ve des His­to­ri­kers ein­neh­men, son­dern die eines für Leh­rer­bil­dung mit-ver­ant­wort­li­chen Hoch­schul­leh­rers, denn das bin ich als Fach­di­dak­ti­ker im Haupt­be­ruf. Die­se Per­spek­ti­ve schützt viel­leicht auch ein wenig davor, Geis­tes­wis­sen­schaf­ten nur aus der­je­ni­gen Per­spek­ti­ve her­aus zu betrach­ten, die sie selbst ein­neh­men: Geis­tes­wis­sen­schaft­li­che Studien(anteile) sind natür­lich bedeut­sam, wenn es um die Wei­ter­ent­wick­lung der Geis­tes­wis­sen­schaf­ten geht, um deren eige­nen Nach­wuchs. Das ist so selbst­ver­ständ­lich, dass es hier kaum weiterhilft.

Dage­gen kann und muss man natür­lich die Bedeu­tung der Geis­tes­wis­sen­schaf­ten für die Gesell­schaft her­aus­stel­len, ihre Funk­ti­on bestim­men – etwa dar­in dass sie es sind, die über die nicht nur mess­ba­ren und quan­ti­fi­zier­ba­ren Bedin­gun­gen unser aller Den­ken und Han­deln Aus­kunft geben, über die logi­schen, sprach­li­chen, nor­ma­ti­ven Dimen­sio­nen, in denen Men­schen sich über ihre Welt ver­stän­di­gen müs­sen usw., für die Klä­rung der nicht ein­fach in Form von Daten ver­füg­ba­ren Grund­la­gen gera­de auch der ande­ren Wis­sen­schaf­ten. Das haben ande­re vor mir getan und kön­nen ande­re bes­ser. Vie­le Beru­fe­ne­re sind darunter.

Ich möch­te viel­mehr etwas dazu sagen, wel­chen Stel­len­wert Geis­tes­wis­sen­schaf­ten dazu bei­tra­gen kön­nen und müs­sen, wenn es nicht um sie selbst geht, um ihren eige­nen Nach­wuchs, son­dern wo es um ihren Bei­trag zu einer Pro­fes­sio­na­li­sie­rung geht, die kei­nes­wegs zwin­gend uni­ver­si­tär und unter ihrer deut­li­chen Betei­li­gung erfol­gen muss. Ande­re Orga­ni­sa­ti­ons­for­men sind nicht nur denk­bar, son­dern wer­den – in ande­ren Län­dern durch­aus prak­ti­ziert: es geht um die Lehrerbildung.

Wer Leh­rer wer­den will, so könn­te man mei­nen, soll sein Fach beherr­schen (was immer das ist), und zwar auf dem neu­es­ten Stand der Kennt­nis­se, und ein guter Päd­ago­ge sein. In den letz­ten Jah­ren haben bestimm­te Auf­fas­sun­gen vom Ler­nen, von den Struk­tu­ren des Leh­rer­be­rufs, sei­nen Belas­tun­gen und den Kri­te­ri­en der Eig­nung von Leh­rern durch­aus die­sem Ver­ständ­nis Vor­schub geleis­tet. Zuwei­len gewinnt man den Ein­druck, dass fach­li­ches und päd­ago­gi­sches Wis­sen und Kön­nen (um nicht von Kom­pe­tenz zu spre­chen) neben­ein­an­der­ste­hen­de Dimen­sio­nen sind, die nicht einer spe­zi­fi­schen Ver­schrän­kung bedür­fen, wenn Leh­rer mehr sein wol­len als gute Päd­ago­gen und Unter­richts­be­am­te. Auch die Ver­knüp­fung bei­der Dimen­sio­nen im Kon­zept des „fach­di­dak­ti­schen Wis­sens“ (peda­go­ci­cal con­tent know­ledge, nach SHULMAN) hilft allein nicht wei­ter – vor allem dann nicht, wenn dar­un­ter ein wie­der­um von den ande­ren Berei­chen abge­trenn­ter Bereich von Wis­sen ver­stan­den wird, der ein­fach gelernt und ver­stan­den und dann geprüft wer­den kann, und über den man dann wenn nicht lebens­lang, so doch eini­ge Zeit verfügt.

Ich möch­te dem ein Kon­zept gegen­über­stel­len, das auch mit dem Begriff der Pro­fes­sio­na­li­sie­rung arbei­tet, die­sen aber anders ver­wen­det. Genau­er gesagt, ist es ein Bün­del von Kon­zep­ten, in denen die Pro­fes­sio­na­li­tät von Leh­rern kon­zep­tio­na­li­siert erforscht und struk­tu­riert wird.

Am nächs­ten steht mit selbst das Ver­ständ­nis von Pro­fes­sio­na­li­tät, das der Frank­furt Kol­le­ge Frank-Olaf Rad­ke vor nun­mehr 12 Jah­ren ent­wor­fen hat, und das er im Rah­men einer ganz ähn­li­chen Ver­an­stal­tung erst­ma­lig vorstellte.

Ich zitie­re:

In der Begriffs­tri­as Arbeit, Beruf, Pro­fes­si­on wird letz­te­re durch drei ent­schei­den­de Merk­ma­le, die gleich­zei­tig erfüllt sein müs­sen, gegen die bei­den ande­ren Tätig­keits­for­men abge­grenzt: (a) Wis­sen­schaft­li­che Fun­die­rung der Tätig­keit in (b) gesell­schaft­lich rele­van­ten, ethisch nor­mier­ten Berei­chen der Gesell­schaft wie Gesund­heit, Recht, auch Erzie­hung und © ein beson­ders lizen­zier­tes Inter­ven­ti­ons- und Ein­griffs­recht in die Lebens­pra­xis von Indi­vi­du­en (2). In die­sem Ver­ständ­nis fal­len also Betriebs­wir­te oder Inge­nieu­re, deren Bezugs­feld die Wirt­schaft der Gesell­schaft ist und deren Erfolgs­kri­te­ri­um am Markt ori­en­tier­te Effi­zi­enz ist, nicht in die­se Kate­go­rie, auch Wissenschaftler/​Forscher übri­gens nicht, wohl aber Ärz­te und Juris­ten, die als die klas­si­schen Pro­fes­sio­nen gel­ten, neu­er­dings auch Psy­cho­the­ra­peu­ten oder Sozi­al­päd­ago­gen u. a. m. Auch Leh­rer und Leh­re­rin­nen gehö­ren zu die­ser Grup­pe der peo­p­le pro­ces­sing pro­fes­si­ons (3).“

 

Es geht dabei also um die Befä­hi­gung einer Grup­pe von Men­schen, denen beson­de­re Ein­griffs­rech­te in die Lebens­chan­cen von Mit­men­schen ein­ge­räumt ist, die­se ihnen gege­be­ne Macht auf eine Art und Wei­se zu nut­zen, die sowohl indi­vi­du­ell wie auch struk­tu­rell zu ver­ant­wor­ten ist. Die­se „Macht“ nicht haben zu wol­len, hilft nicht: Inha­ber die­ser Beru­fe haben nolens volens die­se Ein­griffs­funk­tio­nen zu erfüllen.

 

Erneut Rad­tke:

Pro­fes­sio­nel­le in dem ange­deu­te­ten Ver­ständ­nis neh­men ihre Auf­ga­ben in einer beson­de­ren, dop­pelt ver­an­ker­ten Hand­lungs­lo­gik vor: Sie müs­sen (a) situa­tiv (und intui­tiv) in der Lage sein zu indi­vi­du­el­lem Fall­ver­ste­hen und kön­nen dies (b) in her­me­neu­ti­scher Hal­tung auf der Basis uni­ver­sel­len Regel­wis­sens, also wis­sen­schaft­li­cher Theo­rien. Sie appli­zie­ren ihr theo­re­ti­sches, situa­ti­ons­un­ab­hän­gi­ges Wis­sen bei der Inter­pre­ta­ti­on von Situa­tio­nen, bei der stell­ver­tre­ten­den Deu­tung von Pro­ble­men ihrer Kli­en­ten und bei der For­mu­lie­rung des Ange­bots von Therapie/​Lösungsstrategien in einer “kli­nisch” zu nen­nen­den Wei­se (5).

Aus die­sem Zitat möch­te ich vor allem einen Gedan­ken ablei­ten, näm­lich dass, wer immer in einer Pro­fes­si­on tätig ist, die Ver­ant­wor­tung für sein Han­deln nicht einem abs­trak­ten Regel­werk oder den Vor­setz­ten über­ant­wor­ten kann. Anwäl­te, Ärz­te, Psy­cho­the­ra­peu­ten und eben auch Leh­rer arbei­ten somit in einem mehr­fa­chen Ver­ant­wor­tungs­ver­hält­nis. Einer­seits sind sie nicht nur den all­ge­mei­nen Geset­zen unter­wor­fen wie auch betriebs­spe­zi­fi­schen Anord­nun­gen (wie etwa einer Haus­ord­nung, einer Dienst­an­wei­sung), son­dern auch beson­de­ren Vor­ga­ben für ihre Tätig­keit. Bei Leh­rern sind das unter ande­rem Lehr- und Bil­dungs­plä­ne, Rah­men­vor­ga­ben, in den letz­ten Jah­ren vor allem aber auch „Bil­dungs­stan­dards“. Gleich­zei­tig kön­nen die­se Inha­ber die­ser Beru­fe sich aber nicht auf die Funk­ti­on eines Sach­be­ar­bei­ters zurück­zie­hen, in dem Sin­ne, dass ihre „Fäl­le“ bei eige­ner Abwe­sen­heit ohne Wei­te­res von einem Kol­le­gen ein­fach über­nom­men und ohne wesent­li­che Ände­rung wei­ter „bear­bei­tet“ wer­den könnten.

Die Struk­tur der Ein­grif­fe in die Lebens­chan­cen der Kli­en­tel ist so gear­tet, dass der pro­fes­sio­nell Han­deln­de nicht nur als Ver­tre­ter sei­ner Insti­tu­ti­on, des Staa­tes oder sei­ner Zunft aktiv und erkenn­bar wird, son­dern in eigen­tüm­li­cher Wei­se als eine Per­son – nicht in sei­ner Pri­vat­heit, wohl aber als gan­zer Mensch, son­dern als „Pro­fi“. Das mar­kiert letzt­lich nur die beson­de­re Ver­ant­wor­tung, die mit die­sem Beru­fen gege­ben ist.

Wenn Rad­tke nun davon (m.E. über­zeu­gend) her­aus­ar­bei­tet, man mit immer wie­der­keh­ren­den indi­vi­du­el­len „Ein­zel­fäl­len“ nur ver­ant­wort­lich in ihrer jewei­li­gen Indi­vi­dua­li­tät umge­hen kann vor dem Hin­ter­grund eines umfas­sen­den Theo­rie­wis­sens, das zugleich abs­trakt ist und varia­bel appli­zier­bar, dann ist damit genau der­je­ni­ge Teil der uni­ver­si­tä­ren Bil­dung gemeint, in dem – neben Päd­ago­gik, Psy­cho­lo­gie, Recht usw. – auch die Geis­tes­wis­sen­schaf­ten ihren Stel­len­wert erhalten.

Wer als Leh­rer gera­de nicht nur rezep­tiv-pas­siv den sich ver­än­dern­den Inter­pre­ta­tio­nen und Kon­no­ta­tio­nen die­ser Begrif­fe fol­gen will, wer nicht, sich selbst ent-mäch­ti­gend, immer nur in der Lage sein will, ande­re zu fra­gen, was denn jeweils gera­de unter den all­seits zu fin­den­den Leit­be­grif­fen zu ver­ste­hen ist, wie er „Geschichts­be­wusst­sein“ oder „Kom­pe­tenz“ zu begrei­fen hat, was denn unter „Ler­nen“ zu ver­ste­hen sei usw., aber auch, was es denn mit den den Gegen­stand struk­tu­rie­ren­den Kon­zep­ten auf sich hat, etwa mit der Peri­odi­sie­rung „Anti­ke – Mit­tel­al­ter – Frü­he Neu­zeit – Moder­ne“ oder mit der Dif­fe­ren­zie­rung „Poli­ti­sche Geschich­te, Sozi­al­ge­schich­te, Gesell­schafts­ge­schich­te, All­tags- und Mikro­his­to­rie, Men­ta­li­täts­ge­schich­te“ usw., mit den Begrif­fen „Geschich­te, Erin­ne­rung, Gedächt­nis, Geden­ken“, wer (hof­fent­lich) ein Pro­blem damit hat, ein­fach eine sol­che Geschich­te oder gar eine Epo­che, ein The­ma im Unter­richt zu „machen“ oder „durch­zu­neh­men“, der muss selbst in der Lage sein, an der gesell­schaft­li­chen Debat­te um die Grund­la­gen sei­nes beruf­li­chen Tuns min­des­tens rezep­tiv-reflek­tie­rend, bes­ser gestal­tend teil­zu­ha­ben – muss sich ein­brin­gen kön­nen in die Fra­ge, ob bzw. in wel­chem Umfang „Erin­ne­rungs­kul­tur“ und Gedächt­nis im Geschichts­un­ter­richt einen Platz haben sol­len, und zu wel­chem Zweck sie dort zu the­ma­ti­sie­ren sei­en, muss wohl eine Posi­ti­on dazu ent­wi­ckeln, (um ein Bei­spiel aus einer ande­ren Domä­ne zu neh­men, wel­chen Stel­len­wert und wel­che Bedeu­tung Schreib- und Druck­schrift haben und haben sol­len. Posi­tio­nen zu die­ser Fra­ge las­sen sich m.E. nur zum Teil mit empi­ri­schen päd­ago­gisch-psy­cho­lo­gi­schen Ergeb­nis­sen dazu unter­mau­ern, ob Schü­le­rin­nen und Schü­ler mit oder ohne Schreib­schrift-Aus­prä­gung spä­ter erfolg­rei­cher sind: man muss sich auch zum Argu­ment des Ver­lusts eines „Kul­tur­gu­tes“ bei der Abschaf­fung aus­ein­an­der­set­zen. Eben­so, wie man auf der Basis all die­ser hof­fent­lich fun­dier­ten Auf­fas­sun­gen die Ein­zel­fäl­le beur­teilt und behan­delt (hilft es der Schü­le­rin Jen­ni­fer, wenn ich ihr mehr Schreib­schrift-Trai­ning zumu­te, weil sie flüs­si­ger wird? Oder hemmt die Kon­zen­tra­ti­on auf das Schreib­for­mat den Zusam­men­hang zwi­schen Den­ken und Schrei­ben? Kann der Fall Frank mit den glei­chen Über­le­gun­gen beur­teilt wer­den?), wird man mit ihnen befä­higt zur Teil­ha­be an der gesell­schaft­li­chen Auseinandersetzung.

 

„Pro­fes­sio­na­li­tät“ bedeu­tet also nicht nur, geklär­te und erprob­te Hal­tun­gen und Rou­ti­nen zu besit­zen, die es ermög­li­chen kom­ple­xe und unüber­sicht­li­che Hand­lungs­si­tua­tio­nen und All­ta­ge zu meis­tern, bedeu­tet nicht nur, nach all­seits aner­kann­ten Stan­dards der Pro­fes­si­on han­deln zu kön­nen, son­dern bedeu­tet, die je indi­vi­du­el­len Fäl­le, Situa­tio­nen, Men­schen nicht ein­fach unter all­ge­mei­ne Regeln und Struk­tu­ren sub­su­mie­ren zu kön­nen, um dann nach deren Logi­ken zu han­deln, son­dern viel­mehr mit Hil­fe der all­ge­mei­nen, als Abs­trak­ta erkann­ten Regeln und Struk­tu­ren die immer neu­en Situa­tio­nen einer eige­nen, neu­en „Lösung“ zuzuführen.

Das ist – die­se Neben­be­mer­kung ist wohl nötig – übri­gens kein Wider­spruch zur „Pra­xis­ori­en­tie­rung“. Ich habe im letz­ten Semes­ter mehr­fach deut­lich gemacht, dass ich – im Gegen­satz zu man­chen Stu­die­ren­den – unter „Pra­xis­be­zug“ und des­sen Stei­ge­rung kei­nes­wegs ver­ste­he, dass Stu­die­ren­de mög­lichst viel Zeit in der Pra­xis ver­brin­gen, von den erfah­re­nen „alten Hasen“ ler­nen, wie „man es macht“, son­dern dass Pra­xis­be­zug im Stu­di­um einen reflek­tie­ren­den Zugriff haben soll­te, dass an den Pro­ble­men, die man in Pra­xis beob­ach­tet und erlebt, an den eige­nen Erfah­run­gen beim prak­ti­schen Üben Gesichts­punk­te ent­wi­ckelt, die einer wei­te­ren theo­re­ti­schen Klä­rung zuge­führt wer­den kön­nen. Pra­xis und Theo­rie sind also nicht in Form eines Null­sum­men­spiels mit­ein­an­der ver­bun­den, der­art, dass ein Mehr des Einen ein Weni­ger des Ande­ren bedeu­ten müss­te und bei dem der­zeit die „Pra­xis“ mehr Gewicht bekommt – im Gegen­teil: Mehr Pra­xis­er­fah­rung ver­langt nach mehr Theo­rie. Wer­ner Hel­sper hat von eben­falls zehn Jah­ren in einem klei­nen, eben­falls auf Oever­mann basie­ren­den Auf­satz her­aus­ge­stellt, dass und wie Leh­re­rin­nen einen „dop­pel­ten Habi­tus“ ent­wi­ckeln müs­sen – sowohl den des prak­ti­schen päd­ago­gi­schen Han­delns, der päd­ago­gi­schen Kom­mu­ni­ka­ti­on mit Geis­tes­ge­gen­wart, Witz und Kon­se­quenz, der nicht durch theo­re­ti­sche Refle­xi­on zu erwer­ben ist (Hel­sper 2011, 10), wie auch den wis­sen­schaft­lich-refle­xi­ven, der die eben in die Lage ver­setzt, die Fäl­le und das eige­ne Han­deln zu reflek­tie­ren. Letz­te­rer benö­tigt aber sowohl in der Aus­bil­dung wie auch im spä­te­ren Berufs­all­tag den vom unmit­tel­ba­ren päd­ago­gi­schen Hand­lungs­druck befrei­ten eige­nen Raum als „Brut­stät­te“ (Hel­sper 2001, 10f). Vor genau die­sem Hin­ter­grund hat fast gleich­zei­tig Rad­tke auch dafür plä­diert, bei aller Inte­gra­ti­on von Theo­rie und Pra­xis am Eigen­wert theo­re­tisch fokus­sier­ter Antei­le im Stu­di­um fest­zu­hal­ten (Rad­tke ). Leh­rer­bil­dung an der Uni­ver­si­tät darf nicht ein­fach „Aus­bil­dung“ in der Pra­xis sein, son­dern muss immer wie­der die „uni­ver­si­tä­re“ Refle­xi­on umfas­sen. Hier ist schon ein Ansatz­punkt für unse­re Fra­ge nach der Not­wen­dig­keit geis­tes­wis­sen­schaft­li­cher Bildung.

Gleich­zei­tig aber – und hier ist die Neben­be­mer­kung zur Pra­xis been­det – bedeu­tet Pro­fes­sio­na­li­tät – und hier gehe ich über die Argu­men­ta­ti­on von Frank-Olaf Rad­tke und Wer­ner Hel­sper hin­aus – auch, sich gegen­über den all­ge­mei­nen Regeln und Struk­tu­ren, den aner­kann­ten Ver­fah­rens­wei­sen und Prin­zi­pi­en nicht nur rezep­tiv zu ver­hal­ten, son­dern sie selbst auch in den Hori­zont eige­nen Han­delns zu brin­gen. Wer als Leh­rer pro­fes­sio­nell sein will (und soll), dem darf es eben nicht egal sein, ob bzw. inwie­weit die ihm von Gesell­schaft und über­ge­ord­ne­ten Insti­tu­tio­nen vor­ge­ge­be­nen Regeln und Prin­zi­pi­en gül­tig sind, der darf sich ihnen gegen­über weder indif­fe­rent, noch affir­mie­rend ver­hal­ten. Es reicht nicht aus, das Leh­ren ein­mal gelernt zu haben, in dem Glau­ben, dass man es dann kön­ne. Sowohl mit Blick auf die eige­ne Pra­xis als auch mit Blick auf die Gesell­schaft muss der Pro­fes­sio­na­li­sier­te in der Lage sein, auch die Regeln und Prin­zi­pi­en immer wie­der selbst­stän­dig zu hin­ter­fra­gen und an ihrer Ver­än­de­rung mit­zu­wir­ken. Leh­rer, die die Lehr­plä­ne immer nur hin­neh­men, auch sol­che, die bestrebt sind, immer die aktu­ells­ten Vari­an­ten zu ken­nen und zu befol­gen, neh­men nur eine Hälf­te ihrer Pro­fes­sio­na­li­tät wahr, selbst dann, wenn sie die pro­fes­sio­nel­le Nut­zung die­ser Abs­trak­ta bei der Suche je eige­ner Lösun­gen beherr­schen. Hin­zu kom­men muss die Aner­ken­nung der Mit-Zustän­dig­keit für die Ver­än­de­rung der jeweils aner­kann­ten Regeln und Prin­zi­pi­en. Wer pro­fes­sio­nell sein will und soll, muss in der Lage und bereit sein (d.h. „kom­pe­tent“), die gesell­schaft­li­chen und erkennt­nis­theo­re­ti­schen Bedin­gun­gen sei­nes Tuns zu reflek­tie­ren, ihre Ver­än­de­run­gen wahr­zu­neh­men, über die Gel­tung, über „Wahr­heit und Gewiss­heit“, wie unser Prä­si­dent immer for­mu­liert, selbst­stän­dig nach­zu­den­ken und sich mit den ande­ren aus­ein­an­der­zu­set­zen. Es mag ja sein (und es ist ein Pro­blem), dass die meis­ten Leh­rer ob der Gestal­tun­gen des Arbeits­plat­zes, der Arbeits­zeit­mo­del­le usw. kaum Zeit haben, an der Ent­wick­lung und Dis­kus­si­on von Lehr­plä­nen und Cur­ri­cu­la etc. aktiv teil­zu­ha­ben, es mag ja sein, dass des­we­gen die Rück­mel­de-Auf­for­de­run­gen bei vie­len Inno­va­tio­nen nur gerin­gen Rück­lauf erbrin­gen, es mag sein – die prin­zi­pi­el­le Mit-Zustän­dig­keit hier­für muss von einem Leh­rer gefor­dert werden.

Um es mit einem Sche­ma zu illustrieren:

Wer als Leh­rer pro­fes­sio­nell sein will, der braucht nicht nur fach­li­ches, päd­ago­gi­sches und fach­di­dak­ti­sches Wis­sen, er braucht auch nicht nur Rou­ti­nen, er braucht die Kom­pe­tenz, d.h. die Fähig­keit, Fer­tig­keit und Bereit­schaft, sich mit den Grund­la­gen all die­ser selbst und selbst­stän­dig aus­ein­an­der­zu­set­zen und eine pro­fes­sio­nel­le Auf­fas­sung davon sowohl auf­zu­bau­en als auch immer wie­der umzubauen.

Benö­tigt wird somit Theo­rie­wis­sen, dass in Pra­xis immer neu aktua­li­siert wer­den kann, benö­tigt wird

    • eine Theo­rie des Men­schen, eine Theo­rie davon, was mensch­li­ches Den­ken, Han­deln und Ler­nen denn ist und sein kann
    • eine Theo­rie der Gesell­schaft, in der Leh­ren und Ler­nen von Stat­ten geht, und theo­rie­för­mi­ge Kennt­nis­se und Kate­go­rien, in denen die jeweils kon­kre­te Gesell­schaft beschrie­ben und auf ihre Impli­ka­tio­nen hin beschrie­ben wer­den kann. Wer nicht in der Lage ist zu ana­ly­sie­ren und zu reflek­tie­ren, inwie­fern sich unse­re heu­ti­ge Gesell­schaft (und die zu erwar­ten­de der nahen Zukunft) von ande­ren Gesell­schaf­ten frü­he­rer Zei­ten und ande­rer Kul­tu­ren unter­schei­det, und was das für die Kon­zep­tio­nen von Ler­nen grund­sätz­lich und von inten­tio­na­len Lern­pro­zes­sen bedeu­tet, der wird als Leh­rer allen­falls still­ge­stell­te, nicht aber geklär­te Prin­zi­pi­en nut­zen kön­nen, um die ihm im All­tag begeg­nen­den indi­vi­du­el­len Men­schen und die jewei­li­ge Situa­ti­on zu reflek­tie­ren und Lösun­gen zu fin­den. Wer nicht dar­über Aus­kunft geben kann (sich und ande­ren), inwie­fern sich die Gesell­schaft der heu­ti­gen Zeit von der­je­ni­gen der 1950er Jah­re unter­schei­det, und wel­che Ände­run­gen in den Wis­sens­be­stän­den, den päd­ago­gi­schen Prin­zi­pi­en, den didak­ti­schen Makro- und Mikro-Metho­den als Anpas­sun­gen an die ver­än­der­te Situa­ti­on zu ver­ste­hen und wie sinn­voll sie sind, der wird not­wen­dig vor den wei­te­ren zu erwar­ten­den Ver­än­de­run­gen scheitern.
    • Es bedarf einer Theo­rie der Institution(en), in denen die Gesell­schaft das eige­nen Han­deln rahmt, orga­ni­siert, kontrolliert.
    • Es bedarf einer Theo­rie des jewei­li­gen Faches – nicht nur in dem Sin­ne, dass man ja auch Fach­wis­sen­schaft­ler wird (das kann man durch­aus in Fra­ge stel­len, ob Leh­rer das wer­den sol­len), nicht im Sin­ne einer „Kun­de“ der jeweils gül­ti­gen For­schungs­er­kennt­nis­se, son­dern hin­sicht­lich der Bedeu­tung des „Faches“ – und hier spre­che ich es bewusst in Anfüh­rungs­zei­chen – für die Gesell­schaft, die Indi­vi­du­en in ihr und für das Ler­nen. „Geis­tes­wis­sen­schaft“ kommt dabei nicht nur bei den­je­ni­gen Fächern ins Spiel, die selbst unter die­se Rubrik fal­len, son­dern als fun­da­men­ta­ler Refle­xi­ons­ho­ri­zont auf die Grund­la­gen des eige­nen Faches. Es geht um die Fähig­keit, Fer­tig­keit und Bereit­schaft, die Natur des eige­nen Faches – ich zie­he der Ter­mi­nus der „Domä­ne“ vor – selbst zu reflek­tie­ren und sich gera­de dabei nicht auf die jeweils „gül­ti­ge“ Kon­zep­ti­on zu verlassen.
    • Ich möch­te das am Bei­spiel des eige­nen Faches kurz skiz­zie­ren – auch wenn das doch eines der­je­ni­gen ist, die unter die Geis­tes­wis­sen­schaf­ten fallen: 
      • Kann man Geschich­te unter­rich­ten, kann man ver­ant­wort­lich von jun­gen Men­schen, deren „Erzie­hung“ und/​oder „Bil­dung“ einem über­ant­wor­tet ist, ver­lan­gen, sich mit Din­gen zu beschäf­ti­gen, die gera­de nicht lebens­welt­lich nah sind, son­dern ver­gan­gen, fort, pas­sé, wenn man nicht selbst ein geklär­tes Ver­ständ­nis davon hat, wozu die­ses „Geschich­te“ eigent­lich gut ist? Gera­de unter der Her­aus­for­de­rung eines nicht im enge­ren Sin­ne fach­li­chen „Hand­lungs­drucks“ braucht es ein beson­ders kla­res Ver­ständ­nis dafür, was denn die­ses „fach“ und das in ihm pro­du­zier­te Wis­sen für die kon­kre­ten Ler­nen­den bedeu­ten kann und soll.
      • Es bedarf zudem einer durch­aus aus­ge­feil­ten eige­nen Auf­fas­sung davon, wel­che Mög­lich­kei­ten vali­der Erkennt­nis die Domä­ne eigent­lich bie­tet. Es mach durch­aus einen gro­ßen Unter­schied, ob man – etwa mit Richard Evans – davon aus­geht, dass es (wenn auch mit Abstri­chen) mög­lich ist, vali­de Aus­sa­gen über ver­gan­ge­ne Wirk­lich­kei­ten zu tref­fen, und dass die­se Erkennt­nis der ver­gan­ge­nen Wirk­lich­keit durch Objek­ti­vie­rungs­be­stre­bun­gen beob­ach­ter­un­ab­hän­gig geleis­tet wer­den kön­nen, oder ob man mit den Rela­ti­vis­ten und Kon­struk­ti­vis­ten davon aus­geht, dass his­to­ri­sches Wis­sen immer und not­wen­dig rela­tio­na­les Wis­sen ist, das gera­de nicht „die Ver­gan­gen­heit“ in ihrer kom­ple­xen Rea­li­tät, son­dern den gedank­li­chen, sprach­li­chen und wer­ten­den Bezug der Gegen­wart zu die­ser ver­gan­ge­nen Rea­li­tät zum eigent­li­chen Kern hat. Auf­ga­be und Zweck his­to­ri­schen Den­kens und Ler­nens sind in bei­den Kon­zep­ten durch­aus unter­schied­lich – schon das Ver­hält­nis von „Wis­sen“ und „Kön­nen“ gestal­tet sich anders.Sich auf die Posi­ti­on zu stel­len, dass man das ja ein­mal ler­nen kön­ne, dass es zur Befä­hi­gung der Leh­re­rin­nen und Leh­rer in die­ser Hin­sicht vor­nehm­lich eines guten Lehr­bu­ches brau­che, ist durch­aus irrig. Es geht näm­lich kei­nes­wegs dar­um – und hier nähe­re ich mich an Hand mei­nes Bei­spiels lang­sam einem Kern­ar­gu­ment, war­um ein voll­gül­ti­ges geis­tes­wis­sen­schaft­li­che Stu­di­um nötig ist – nur selbst für sich die erkennt­nis­theo­re­ti­sche Fra­ge, die nach den jewei­li­gen epis­te­mo­lo­gi­schen Über­zeu­gun­gen und ihren Kon­se­quen­zen geklärt zu haben – der Leh­rer, die Leh­re­rin steht viel­mehr vor der Auf­ga­be, immer wie­der mit Men­schen pro­duk­tiv umzu­ge­hen, die ganz ande­re Vor­stel­lun­gen zu die­sem Kom­plex auf­wei­sen. Sei, es, dass sie sie aus ande­ren Län­dern und Kul­tu­ren mit­brin­gen, sei es, dass Eltern ganz ande­re Vor­stel­lun­gen davon in die Eltern­ar­beit ein­brin­gen, was denn Geschich­te und Geschichts­un­ter­richt sei – sei es, dass Schü­le­rin­nen und Schü­ler selbst mit spe­zi­fi­schen Vor­stel­lun­gen kom­men – und zwar immer im Plu­ral gedacht.Wie orga­ni­sie­re ich einen Lern­pro­zess in einer Grup­pe, in der ich wahr­neh­me, spü­re, dass meh­re­re Schü­le­rin­nen und Schü­ler durch­aus unter­schied­li­che Ansprü­che an das Ler­nen haben? Wie erken­ne ich über­haupt, wel­che Vor­stel­lun­gen, wel­che All­tags­theo­rien etc. Schü­le­rin­nen und/​oder Eltern mit­brin­gen, wel­che Kon­zep­te vom Zweck und den Mög­lich­kei­ten des Faches sie haben?
      • Das Bei­spiel mit den Kul­tu­ren ist übri­gens eines, das beson­ders geeig­net ist, die Not­wen­dig­keit gera­de auch geis­tes­wis­sen­schaft­li­cher Stu­di­en zu ver­deut­li­chen. Lässt sich die Fra­ge nach den Beson­der­hei­ten unse­rer heu­ti­gen „hete­ro­ge­nen“ Gesell­schaft und der aus die­sen Beson­der­hei­ten zu zie­hen­den Kon­se­quen­zen für Schu­le und Ler­nen ein­fach mit Hil­fe sozi­al­wis­sen­schaft­li­cher Metho­den und Kate­go­rien reflek­tie­ren? Es ist zwar mit Sicher­heit nötig, die Iden­ti­tä­ten, die Wert‑, Norm- und Zuge­hö­rig­keits­vor­stel­lun­gen der Mit­glie­der die­ser Gesell­schaf­ten mit Hil­fe sozi­al­wis­sen­schaft­li­cher Metho­den zu erfor­schen – ohne eine auch geis­tes­wis­sen­schaft­lich fun­dier­te Refle­xi­on des­sen, wel­che Kon­zep­te in sol­chen Befra­gun­gen und Unter­su­chun­gen von den Befrag­ten arti­ku­liert wer­den, wel­che Begrif­fe von „Kul­tur“ etwa jeweils benutzt wer­den, ohne eine gera­de auch geis­tes­wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis des­sen, was eigent­lich „Kul­tur“ ist und sein kann, wird es nicht gehen. Gera­de für den Geschichts­un­ter­richt ist es etwa mei­nes Erach­tens gera­de­zu nötig, dass man ein Ver­ständ­nis davon besitzt, wel­che Leis­tun­gen eine sich als Sozi­al­wis­sen­schaft begrei­fen­de Geschichts­wis­sen­schaft erbrin­gen kann und wel­che Gren­zen sie auf­weist, wel­che Stär­ken und Schwä­chen, und wel­che Leis­tun­gen eine kul­tur­wis­sen­schaft­li­che Ori­en­tie­rung zu erbrin­gen ver­mag. Gera­de in „kul­tu­rell“ hete­ro­ge­nen Gesell­schaf­ten wird man nicht umhin kom­men, sich ein eige­nes geklär­tes Ver­ständ­nis und eine Refle­xi­ons­fä­hig­keit zu der Fra­ge zu erar­bei­ten, inwie­fern „Kul­tur“ und „Kul­tu­ren“ im plu­ral rea­le Gebil­de oder sozia­le Kon­struk­tio­nen sind, wel­che Bedeu­tung kul­tu­rel­le Zuge­hö­rig­kei­ten, Kul­tur­stan­dards und kul­tu­rel­le Phä­no­me­ne für unter­schied­li­che Men­schen der Gesell­schaft auf­wei­sen. Wer heut­zu­ta­ge über Leh­ren und Ler­nen mit­re­den will, muss selbst drei bis vier ver­schie­de­ne Kul­tur­be­grif­fe dif­fe­ren­zie­ren und anwen­den können.
    • Als letz­tes Bei­spiel schließ­lich: Wer immer sich in der heu­ti­gen Gesell­schaft pro­fes­sio­nell, d.h. beruf­lich oder aus ande­rem Enga­ge­ment, mit Bil­dung und Erzie­hung, Leh­ren und Ler­nen und ihrem Feld aus­ein­an­der­setzt, tut gut dar­an, die in den jewei­li­gen Begrif­fen ent­hal­ten (jeweils meh­re­ren) Kon­zep­te in ihrer his­to­ri­schen Auf­ge­la­den­heit nicht nur zu ken­nen, son­dern ihr Ver­hält­nis für sich geklärt zu haben. Sind „Bil­dung“ und „Erzie­hung“ Gegen­sät­ze? Ist „Erzie­hung“ das nega­ti­ve Gegen­bild zu „Bil­dung“ (in ver­wei­se auf die Ber­li­ner „Kin­der­rechts­zän­ker“1)? Lässt sich die­se Fra­ge über­haupt im Sin­ne eines dicho­to­men ja/​nein behan­deln? Wel­che Tra­di­tio­nen brin­gen die­se Begrif­fe und wirk­sa­men Kon­zep­te mit, die viel­leicht weni­ger einen Gegen­satz als ein kom­ple­men­tä­res oder anders gear­te­ten Ver­hält­nis impli­zie­ren? Ist es für unse­re heu­ti­gen Pro­ble­me sinn­voll und wei­ter­füh­rend, ein auf­klä­re­ri­sches und huma­nes Kon­zept von Bil­dung des Men­schen­ge­schlechts einem Erzie­hungs­ver­ständ­nis mit jüdi­schen und pie­tis­ti­schen Vor­stel­lun­gen von Zucht und Bre­chung des bösen Wil­lens gegen­über­zu­stel­len? Oder trägt – wie es etwa Rena­te Gir­mes getan hat2 – für die post­tra­di­tio­na­le Gesell­schaft, in der wir leben, der dop­pel­te Rück­griff auf Han­nah Are­ndt und Her­bart wei­ter, aus dem her­aus kein auf­klä­re­risch-empha­ti­sches, son­dern ein durch­aus prag­ma­tisch zu wen­den­des Ver­ständ­nis von Bil­dung ent­wi­ckelt wer­den kann?

Um zum Schluss zu kommen:

    • Geis­tes­wis­sen­schaf­ten sind gera­de aus einer „Anwen­dungs­per­spek­ti­ve“ her gese­hen, der es nicht um mög­lichst bruch­lo­se Ver­wert­bar­keit geht, son­dern um die Pro­fes­sio­na­li­tät unver­zicht­bar. Man muss nicht (darf aber) dar­auf zurück­grei­fen, dass Geis­tes­wis­sen­schaf­ten eine beson­de­re Digni­tät besä­ßen, dass sie in einem spe­zi­fi­schen Sin­ne die auf den Men­schen bezo­ge­nen und gat­tungs­be­zo­gen selbst­re­fle­xi­ven Dis­zi­pli­nen sei­en, näm­lich Huma­ni­ties im Unter­schied zu den Natur- und die­sen par­ti­ell nach­ge­bil­de­ten Sozi­al­wis­sen­schaf­ten, die sich in ande­rer Wei­se auf die Erfor­schung der dem Men­schen gegen­über ste­hen­den Natur oder Gesell­schaft wid­men, man muss auch nicht in beson­ders empha­ti­schem Zugriff die kri­ti­sche Auf­klä­rung gesell­schaft­li­cher Pra­xis für die­se Dis­zi­pli­nen rekla­mie­ren. Es tut nicht Not, den Dis­zi­pli­nen als sol­chen die Wäch­ter­funk­ti­on gegen­über den ande­ren, markt­kon­for­mer aus­ge­rich­te­ten Dis­zi­pli­nen und ihren Wir­kun­gen zuzu­wei­sen – so rich­tig und wich­tig alles die­ses ist, min­des­tens eben­so deut­lich lässt sich die Not­wen­dig­keit geis­tes­wis­sen­schaft­li­cher Bil­dung aus der Gesell­schafts­ana­ly­se her begrün­den, dass in plu­ra­len, hete­ro­ge­nen und gleich­zei­tig sich als demo­kra­tisch ver­ste­hen­den Gesell­schaf­ten den im All­tag mit wesent­li­chem Ein­fluss auf ande­re Han­deln­den es nicht abge­nom­men wer­den kann, die­ses eige­ne Han­deln immer selbst und immer neu zu er- und begrün­den mit Hil­fe von Kennt­nis­sen und Erkennt­nis­sen, die wie­der­um gesell­schaft­lich dis­ku­tiert und beur­teilt wer­den kön­nen. Das aber setzt eine Pro­fes­sio­na­li­sie­rung vor­aus, die ohne geis­tes­wis­sen­schaft­li­che Bil­dung schlicht nicht zu den­ken ist.

 

1www​.kraetzae​.de

2Girmes, Rena­te (1997): Sich zei­gen und die Welt zei­gen. Opladen.