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Liebe Anwesende, d.h.

  • liebe Eltern, Partner, Kinder und weitere Verwandte, Freunde derjenigen, die heute hier feiern, und die wir heute feiern, …
  • liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Hause, aus den anderen am Zustandekommen des hier zu feiernden Ereignisses beteiligten Fakultäten und Institutionen,
  • liebe Vertreter(innen) des Präsidiums,
  • liebe Vertreter des Hamburger Bildungswesens,
  • vor allem aber: liebe Absolventinnen und Absolventen. –

es ist eine erfreuliche Verpflichtung für mich, im Namen des Dekanats die Glückwünsche zum Abschluss Ihres Studiums zu überbringen und Ihnen für den weiteren Lebens- und Bildungsweg – die werden ja angeblich immer identischer – alles Gute zu wünschen, und das heißt nicht nur gute weitere Abschlüsse und formale Erfolge, sondern vor allem solche Momente, in denen sich eigene Anstrengungen zu Einsichten und Erkenntnissen, zu Fähigkeiten und Fertigkeiten verbinden, die nicht einfach angelernt und übernommen sind, sondern die Sie in die Lage versetzen, als Sie selbst in Ihrem Leben und Beruf aktiv und wirksam zu sein.

Was Sie jetzt geschafft haben, ist ja zunächst „nur“ ein weiterer Schritt in einer ganzen Reihe formaler Qualifikationen, die man heutzutage nach- und nebeneinander erwirbt. So wichtig diese Form der Manifestation und Dokumentation von Eignungen und Befähigungen für unübersichtliche und differenzierte Gesellschaften ist, so sehr ist es und bleibt es auch hoffentlich der Anspruch aller an solchen Bildungsprozessen Beteiligten, dass in und mit diesen formalen Qualifikationen mehrerworben – oder besser:ausgebildet, ausgeprägt, eigenständigentwickelt – wird als nur mess- und abprüfbares Wissen und Können.

Dass ich eben bei „erworben“ und „ausgebildet“ sowie „entwickelt“ gezögert habe, ist dabei symptomatisch: Einseitige Theorien oder Überzeugungen davon, worin Lernen besteht oder bestehen kann und soll, helfen in Gesellschaften wie der heutigen nicht weiter – ganz abgesehen davon, dass keine von ihnen die ganze Vielfalt der empirischen vorfindlichen Lernprozesse beschreiben kann.

Weder können Sie Wissen und Können einfach „erwerben“ im Sinne einer Übernahme von einem „Geber“ (von einem Erwerb im Sinne eines Kaufs mag ich gar nicht reden) – noch befriedigt es, davon auszugehen, dass im Laufe Ihrer Bildungsbiographien einfach „entwickelt“ wird, was schon vorher da war (und das, was nicht da war, dann eben auch nicht entwickelt werden könnte), oder dass gar andere an Ihnen etwas „ausbilden“: Lernen und sich entwickeln sind komplexe Prozesse die weder allein im stillen Kämmerlein oder einem Elfenbeinturm gelingen können – ohne all‘ die systematischen und unsystematischen, die formellen und informellen, die geplanten und ungeplanten „Einflüsse“ und Rückmeldungen aus der Gesellschaft, von relevanten Einzelnen und Gruppen, aber auch Institutionen. Noch sind es Prozesse, die nur von diesen an Ihnen (und uns allen) vollzogen werden können. Lernen ist also immer ein individueller, aber ebenso sozial eingebundener Prozess. Für gelingendes wie für scheiterndes Lernen kann man wohl nur in den seltensten Fällen nur eine Seite loben, anklagen oder verantwortlich machen. Diese doppelte Verankerung soll nun meine weiteren Ausführungen leiten:

Zunächst zum individuellen Anteil:

Gerade auch in Gesellschaften mit ausgeprägtem formalen Qualifikationssystem gilt, dass das lernende Individuum immer auch für sich selbst verantwortlich bleibt und bleiben muss, dass sowohl im Prozess wie auch unter den Zielen der Bildung die Kompetenz des Lernenden zentral sein muss. Sie haben offenkundig – sonst wären Sie heute nicht hier – diese individuelle Verantwortung wahrgenommen, diejenige für sich selbst, wie die darin auch liegende für die Gesellschaft. Dazu kann und will ich Ihnen heute herzlich gratulieren. Aber ich hätte durchaus ein Problem damit, sie einfach dazu zu beglückwünschen, dass Sie getan hätten, was man von Ihnen verlangte.

Der eben schon verwendete Begriff der „Kompetenz“, der Ihnen in den letzten Jahren in Ihrem Studium oft begegnet sein dürfte, ist für mich dabei besonders relevant. Vielleicht wundern Sie sich, dass ich ihn gerade dafür in Anspruch nehmen möchte, Sie nicht nur dazu beglückwünschen, dass Sie als Studierende in diesem System „funktioniert“ hätten, dass Sie „die Anforderungen“ bewältigt haben, die andere – wir – Ihnen gestellt haben. In mancherlei Zusammenhang gerade in der Bildungssteuerung und auch zuweilen in der Bildungsforschung gerät dieser Begriff ja auch dazu (oder wird so wahrgenommen), dass er die Befähigung zur Ausübung standardisierter Fähigkeiten bezeichnet, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die den Einzelnen in die Lage versetzen, die ihm gestellten Aufgaben möglichst selbstständig und effizient auszuführen. Vielleicht sind Sie auf der Basis eines solchen Verständnisses ja auch zu einer Kritikerin oder einem Kritiker der Kompetenzorientierung geworden. Vielleicht arbeiten Sie ja auch bereits daran, diese überwinden zu helfen.

Dem möchte ich aber entgegenhalten, dass dieses eher instrumentelle Verständnis, so oft man es findet, eine Verkürzung darstellt. Wenn immer Kompetenzen gemessen werden sollen, geht es ja darum, von der tatsächlichen Lösung standardisierter Aufgaben weiterzuschließen auf die dahinter stehenden Fähigkeiten, mit immer neuen Herausforderungen umzugehen. Aber das ist es nicht allein. Wesentlicher und leider oftmals ebenfalls vergessen, ist, dass „Kompetenz“ eben nicht nur dem Wortsinne, sondern auch dem Konzept nach das Element der „Zuständigkeit“ beinhaltet.

Wenn Institutionen und Lehrende es sich angelegen sein lassen, die die „Kompetenzen“ der Lernenden zu fördern, zu entwickeln, dann muss es ihnen, wollen sie dem Begriff (d.h. dem Gedanken hinter dem Wort) gerecht werden, auch darum gehen, die Lernenden zu befähigen, selbstständig zu werden in der Frage, ob und wie sie ihre Fähigkeiten einsetzen.

Nun stehen gerade die Universitäten in den letzten Jahren unter dem Schlagwort der Bologna-Reform nicht gerade im Ruf, diese „Eigenständigkeit“ eines nicht auf vorgegebene Zwecke fokussierten Lernens für die kritische Reflexion der gesellschaftlichen Strukturen zu fördern. Oftmals ist davon die Rede, das ganze Studium sei mit den neuen Studienordnungen und -strukturen eben denjenigen Prinzipien der „ökonomischen Verwertbarkeit“ unterworfen worden, die dem einzelnen gerade nicht den so wesentlichen Aspekt der Zuständigkeit für sein eigenes Handeln belassen wollen – und unter den gegenwärtigen Strukturen sei es auch gar nicht vorgesehen, gerade diese „Fähigkeit zur Zuständigkeit“ mit zu entwickeln.

Ich bezweifle, dass das der Fall ist. Bachelor und Master sind als solche weder besser noch schlechter als andere Systeme. Oder andersherum: Auch eine Rückkehr zu den alten Studiensystemen garantiert keineswegs, dass alles (wieder) besser wird. Natürlich ist eine Reform der Reform angebracht (und bereits unterwegs) dort, wo innerhalb des neuen Systems Rahmenvorgaben zu restriktiv oder gar unsinnig sind, wo es sich zeigt, dass Überregulierungen das eigenständige Studium erschweren, usw. Auch im gegenwärtigen Studiensystem gilt jedoch meines Erachtens, dass die genannte eigene Zuständigkeit den allermeisten Lehrenden sehr wohl am Herzen liegt. Ich wünsche mir (und hier komme ich zurück zum Glückwunsch), dass Sie das auch so erfahren konnten – und noch mehr, dass Sie es auch im weiteren Lebensweg erfahren, und dass Sie, sofern Sie selbst einmal einen lehrenden Beruf ergreifen, es sich bewahren und als eigenständig denkende und urteilende, handlungsfähige Bürgerinnen und Bürger sich selbst die kritische letzte Instanz denken (können), die für das eigene Tun verantwortlich zeichnet.

Wenn es uns gelungen ist, Ihnen im Rahmen Ihrer unterschiedlichen Studien diese Perspektive zu eröffnen, dass Sie Eigenverantwortlichkeit gerade in erziehungswissenschaftlichen und pädagogischen Handlungsfeldern zwar als Herausforderung, aber nicht als Belastung, nicht als Bürde, sondern als Chance begreifen, wenn es uns gelungen ist, Ihnen dabei zu helfen, die weiteren formalen Schritte und Qualifikationen, die Sie noch angehen werden, nicht als unverbundene, abzuhakende Einheiten anzusehen, sondern als Bausteine Ihres nur von Ihnen in Gänze zu entwickelnden „professionellen“ Selbst, dann bin ich zufrieden. Dann haben auch wir unsere Prüfung bestanden.

In diesem Sinne kann und darf Ihr Abschluss mit vollem recht gefeiert werden. Und zwar nicht nur von Ihnen selbst, sondern – jetzt komme ich zur anderen Seite des anfänglichen Arguments – gerade auch von (und mit) denjenigen, die Ihnen beigestanden haben, Sie unterstützt, gelegentlich getröstet, ermutigt, gefordert: Auch Sie haben Ihren Teil dazu beigetragen – und zwar nicht nur zur individuellen Entwicklung eines Menschen, sondern auch zur Entwicklung der Gesellschaft. Gerade wenn es gilt, dass solche Bildungssysteme nicht die „heranwachsende Generation“ nach dem Bilde der Vorangegangenen formen sollen, sondern jene befähigen und herausfordern, über diese hinauszuwachsen, neue Situationen und Probleme mit neuem Denken und Handeln anzugehen, dann tut jeder ein gutes Werk, der einem heranwachsenden Menschen hilft, sich selbst in diese Gesellschaft so einzubringen, dass er beides ist: eigenständiges, aber auch für die anderen sichtbares, erkennbares und anschlussfähiges Individuum. Also: Feiern Sie in den Absolventen auch ein wenig sich selbst. Darauf darf man stolz sein.

An die Absolventen geht nun natürlich der gleiche Rat: Feiern Sie, seien Sie auch ein wenig stolz, atmen Sie durch. Aber ich möchte auch die Bitte anschließen: Kommen Sie wieder oder bleiben Sie uns gewogen, nicht nur wenn Sie weiter studieren wollen, sondern als eine weitere Generation herausfordernder, denkender Mitglieder unserer Gesellschaft.

Ich danke Ihnen