Hier dokumentiere ich meine Ansprache als Vertreter der Universität Hamburg bei der Mahnwache am 9. Novemner 2021 zum Jahrestag der Novemberpogrome von 1938 auf dem Joseph-Carlebach-Platz.

„Liebe Anwesende,
ich bin gebeten worden, hier bei dieser Gedenkfeier ein paar Worte für die Universität zu sagen.
Wenn wir heute der Opfer der Pogrome der Nacht vom 9. auf 10. November 1938 und der folgenden Tage gedenken, tun wir das nicht allein wegen des Leids und der Verbrechen, die ihnen angetan wurden, sondern wir gedenken ihrer als Menschen, Nachbar:innen, Bürger:innen. Einige unter uns – unter Ihnen – gedenken Ihrer als der ihren im familiären Sinne, andere als Angehöriger gleicher Religion, politischer und anderer Verbindungen – wir alle als Gesellschaft sollten ihrer Gedenken als Mitglieder derselben Gemeinschaft – auch wenn, nein, gerade weil diese Zugehörigkeit, die grundlegende Anerkennung ihnen damals von vielen (nicht allen) Mitberüger:innen verweigert, ja genommen wurde. Denn diese Aberkennung ist ein Verlust an Menschlichkeit gewesen auch der Gesellschaft selbst. Unser Gedenken ist somit auch eine Wieder-Bekräftigung dieser Menschlichkeit und einer Anerkennung der Verpflichtung auf sie.
Die Universität Hamburg, für die ich heute hier spreche, als Institution hat fast nur in diesem allgemeinen Sinne vergleichbare Bezüge zu den damaligen Verbrechen und ihren Opfern, insofern sie sich heute versteht – verstehen muss – als eine Institution der Wissenschaft in einer Demokratie, die auf diese Werte verpflichtet ist und bleiben muss.
Sie kann jedoch die Opfer nicht als ein Verlust ihrer selbst beklagen. Wohl aber hat sie einen anderen Bezug zu dem Geschehen, und so trägt Beteiligung an dieser jährlichen Veranstaltung auch einen anderen Charakter. Sie ist Teil der viel zu spät begonnenen Aufarbeitung eigener institutioneller Schuld – und Übernahme von Verantwortung – Verantwortung nicht konkret für dieses Geschehen, wohl aber daraus – war sie doch als Anlieger dieses Viertels durchaus Akteur dies Geschehens – wenn nicht aktiv, so doch passiv.
Institutionen handeln nicht wirklich selbst, aus sich heraus, sondern durch ihre Mitglieder und Gremien. Für deren Verhalten und Handeln gelten dieselben Regeln des Rechts, der Menschlichkeit und des Anstands. Und indem Institutionen die Mitgliedschaft ihrer Angehörigen und oft auch deren Lebenszeit ihrer Mitglieder überdauern, haben sowohl sie als auc ihre viel späteren Mitglieder Anteil an der Notwendigkeit der Aufarbeitung dessen, was um sie herum und mit ihrem und ihrer früheren Angehörigen Mit-Wissen, Zutun und Lassen geschehen ist.
Die Universität Hamburg war durch ihre Mitglieder und Angehörigen, Lehrende, Studierende, Mitarbeiter:innen damals beteiligt – und zwar genau benommen nicht nur als Zeugin, hatte sie doch durch die Entfernung vieler ihrer eigenen jüdischen (wie auch anderer) Mitglieder aus dem Dienst, aus der Mitgliedschaft, aus dem Studium, den Boden für dieses Ereignis, für die Stimmung, die es die es SA und HJ und denen, die die Pogromnacht orchestrierten, erlaubte, keinen Widerstand befürchten zu müssen und keine kritischen, empörten Anfragen selbst durch eine große, international vernetzte Institution und ihre doch vielfältigen Mitglieder.
In den letzten 20 Jahren, die ich selbst hier als Mitglied dieser Universität überblicke, hat sie durchaus selbst an mehreren Stellen die damalige institutionelle Schuld und die vieler damaliger Mitglieder – von Professoren, Studierenden u.a. – aufgearbeitet und Verantwortungsübernahme bekundet. Ich denke an die Benennung der Hörsäle im Hauptgebäude nach vertriebenen Wissenschaftler:innen, die Stolpersteine davor, das Wandgemälde von Martha Muchow dort drüben, die Bodenplatte für die Mitglieder der Hamburger Weißen Rose, etc.
Das aber sind gewissermaßen stumme Zeugen des Gedenkens – ihre Existenz garantiert gerade keine Errungenschaft in dem Sinne, dass damit das Gedenken sichergestellt wäre.
Gedenken und Erinnern sind Tätigkeiten, die auch – wie man heute sagen würde – „performiert“ werden müssen. Die genannten Gedenkorte ermöglichen es, sichern es eber nicht – und ersetzen es auch nicht – wie auch das Denkmal von Margrit Kahl, auf bzw. neben dem wir hier stehen, der erinnernde Platzhalter für die in der Pogromnacht beschädigte und später abgerissene Synagoge, und der Verweis auf den Verlust, den dies bedeutet und auf den es verweist.
Es ist also nicht damit getan, dieses Gedenken einmal vollzogen zu haben und dann sichtbar zu halten. Dies ist der Grund, warum die Universität sich seit einigen Jahren regelhaft an dieser Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an den 9. November 1938 beteiligt. Es gilt, dieses Erinnern immer wieder neu zu bekräftigen.
Zudem ist kein Gedenken und Erinnern allein rückwärts gewandt. Es bedeutet immer, den Bezug erneut herzustellen, zu befragen und zu bekräftigen – durchaus auch immer wieder aus neuen, sich verändernden Blickwinkeln. Das bedeutet keine unbotmäßige Indienstnahme der Erinnerung oder der erinnerten Menschen für heutige Zwecke – zumindest dann nicht, wenn solches Erinnern nicht instrumentell ist, sondern der Befragung des heutigen Wahrnehmens und Handelns dient.
Vor sieben Jahren habe ich schon einmal hier gesprochen. Damals (2015) war es die von vielen als „Flüchtlingskrise“ apostrophierte humanitäre Situation, die viele umtrieb und Befürchtungen neuer, andere, nicht aber unverbundener Formen von Hass und Ausgrenzung entstehen ließ. Nicht Parallelen, wohl aber Lehren wurden damals thematisiert.
Das ist nicht ganz vorbei. Aktuell sind aber andere Fragen hinzugekommen oder wieder aktuell geworden. Mehrfache Angriffe auf jüdische Menschen auf offener Straße in Hamburg werfen die Frage wieder auf, was wir als Gesellschaft wahrnehmen, hinnehmen, wo die Schwellen der Aufmerksamkeit sind und diejenigen wann man aktiv wird.
Es sind aber auch neue Anfragen anderer Art hinzugekommen. Wenn sich Menschen heute etwa unter Verwendung bzw. Adaption derjenigen Symbole und Kennzeichnungen, mittels derer im nationalsozialistischen Staat Menschen markiert, ausgegrenzt und entrechtet wurden, als Opfer einer vergleichbaren Verfolgung gerieren, obwohl sie allenfalls im üblichen Rahmen der gegenseitigen Schranken bürgerlicher und Grundrechte eingeschränkt sind (ich spreche natürlich von den „Ungeimpft“-Sternen), dann gehört das Erinnern an die tatsächliche Entrechtung, die nicht nur gewaltsame, sondern soziale Grausamkeit und das Ausmaß – mit immerhin fast 100 selbst von den Nazis anerkannten Todesopfern und eines Mehrfachen davon in aktuellen Schätzungen – auch zur Notwendigkeit der Klärung der gegenwärtigen politischen Kultur und Bildung, und der Begriffe.
2015 schloss ich: „Indem wir uns heute in Trauer und rückblickendem Entsetzen vor diesen Menschen verneigen und ihre ihnen damals verneinte Zugehörigkeit zu unserer Gemeinschaft wieder anerkennen, bekennen wir uns auch zu einem Geist, einer Haltung, gleiches nicht wieder zuzulassen.“ Dieses Bekenntnis und diese Verpflichtung haben Geltung und müssen weiter Geltung haben. Heute nun möchte, nein muss ich ergänzen: „… bekennen wir uns zu einer Haltung, die solches Erinnern auch nicht missbraucht.“ In diesem Sinne muss die Universität auch heute Zeugin, Beobachterin der gesellschaftlichen Entwicklungen sein und in ihren Aktivitäten, die gerade nicht wertneutral sind – nämlich Wissenschaftliche Forschung und Lehre und zuletzt gerade auch Lehrer:innenbildung, in welcher ich selbst tätig bin – Verantwortung zu übernehmen – Verantwortung für das eigene Handeln aber auch dafür, was im konkreten und weiteren Umfeld geschieht. An diesem Gedenken teilzuhaben gehört grundlegend dazu.
Ich danke ihnen.“