Arbeitsbereich Geschichtsdidaktik / History Education, Universität Hamburg

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Ansprache auf der Mahnwache anlässlich des 77. Jahrestags der Reichspogromnacht am 9. November 1938

09. November 2015 Andreas Körber Keine Kommentare

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Ein­la­dung Mahn­wa­che 2015 – 3

 

Andre­as Körber

Anspra­che zur Gedenk­fei­er am 9. Novem­ber 2015 auf dem Joseph-Car­le­bach-Platz in Hamburg

Lie­be Anwesende,

Im Jahr 1940 schrieb ein füh­ren­des Mit­glied des Cen­tral­ver­eins deut­scher Staats­bür­ger jüdi­schen Glau­bens, Hans Reich­mann, im Exil in Eng­land fol­gen­de Sät­ze, nach­dem er in Fol­ge der No­vem­ber­progrome 1938 im Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Sach­sen­hau­sen inhaf­tiert und nur gegen die Auf­la­ge, zu emi­grie­ren, ent­las­sen wor­den war, fol­gen­de Sätze:

Wir, die wir aus­ge­trie­ben wur­den, die ein neues

Leben begin­nen sol­len, wie man zu sagen

pflegt, sind ruhe­los gewor­den. An die Zukunft

zu den­ken, wagen wir nicht mehr; woll­ten wir

sie mit gewohn­tem Maß­stab abtas­ten, wir

müß­ten ban­ge wer­den. Was unfaß­bar schien,

ist Wirk­lich­keit: wir sind Luft­men­schen geworden,

wir haben den Boden unter uns verloren,

wir sind aus der Sicher­heit bürgerlichen

lebens ver­jagt – ohne Arbeit, ohne Heim, ohne

Hei­mat. […] Die­se sechs Jah­re haben ungezählte 

jüdi­sche Men­schen gebro­chen, mich nicht.“

Hans Reich­mann war kein Ham­bur­ger, er hat die Pogro­me in Ber­lin erlebt. Sei­ne Wor­te kön­nen aber auf­schluss­reich sein.

Wir sind heu­te hier näm­lich zusam­men­ge­kom­men, um der Opfer des dama­li­gen Gesche­hens zu geden­ken, nicht nur, aber gera­de auch hier in Ham­burg. Wir tun dies als Bür­ge­rin­nen und Bür­ger die­ser Stadt, als Ange­hö­ri­ge die­ser Gesell­schaft mit ganz unter­schied­li­chen Bezü­gen zum dama­li­gen Geschehen.

Ich spre­che heu­te zwar nicht im for­mel­len Sin­ne für die Uni­ver­si­tät, aber doch als ihr Mit­glied. Für uns – für mich zumin­dest – bedeu­tet die­ses Geden­ken zum einen das Andenken an die Opfer, die es auch aus den Rei­hen der Uni­ver­si­tät in jenem Novem­ber 1938 gab. Dane­ben und viel­leicht bedeu­ten­der ist aber auch die Fra­ge nach der Hal­tung der Uni­ver­si­tät zu und ihre Rol­le im dama­li­gen Gesche­hen – und nicht zuletzt danach, was für heu­te dar­aus folgt.

Der heu­ti­ge Anlass ist für Vor­le­sun­gen gelehr­ter Art nicht geeig­net. Es möge daher rei­chen zu benen­nen, dass mei­ne Insti­tu­ti­on in ihrer Gesamt­heit damals schon kei­ne Hüte­rin huma­nen wis­sen­schaft­li­chen Geis­tes mehr war. Sicher waren nicht alle Pro­fes­so­rin­nen und Pro­fes­so­ren von der Macht kor­rum­piert – aber doch genü­gend, und so hat­te die Uni­ver­si­tät Ham­burg schon weit vor dem Datum, des­sen wir hier geden­ken, jeg­li­chen Wider­stand gegen den Ungeist auf­ge­ge­ben – sofern man über­haupt von einem sol­chen Wider­stand der Insti­tu­ti­on spre­chen kann – es gab ihn wohl ver­ein­zelt in der Uni­ver­si­tät, nicht aber als einen der Universität.

Nach­dem jüdi­sche und aus ande­ren Grün­den ver­folg­te Pro­fes­so­rin­nen, Pro­fes­so­ren und ande­re Leh­ren­de ent­las­sen und ins Exil oder gar in den Selbst­mord getrie­ben wor­den waren (die Benen­nung unse­rer Biblio­thek nach Mar­tha Muchow dort hin­ten zeugt von spä­ter Scham auch hier­über), war die Uni­ver­si­tät zu gro­ßen Tei­len selbst schon Teil des Ungeis­tes, der sich nun auch hier, in ihrer Nach­bar­schaft, sicht­bar manifestierte.

Da aber Insti­tu­tio­nen selbst nicht ent­schei­den, gilt die Empö­rung und die Scham dem Tun und Nichts­tun kon­kre­ter Per­so­nen. Per­so­nen, die auch nach 1933 und beson­ders 1938 noch sich hät­ten ument­schei­den kön­nen gegen das, was nicht nur hier, aber auch und gera­de hier in ihrer unmit­tel­ba­ren Nach­bar­schaft ver­an­stal­tet, wur­de. Sie haben es nicht getan.

Was aber ist die­ses unser Geden­ken? Wem gilt es? Wem gegen­über geschieht es und mit wel­chem Anlie­gen? Ich möch­te dar­auf eine Ant­wort nicht nur, aber auch für die Uni­ver­si­tät skiz­zie­ren, die mich bewo­gen hat, der Bit­te, die­se Anspra­che zu über­neh­men, zu entsprechen.

Zunächst ein­mal geden­ken wir hier der Män­ner, Frau­en und Kin­der, die im Zuge der von Natio­nal­so­zia­lis­ten orga­ni­sier­ten, zugleich aber auch von vie­len ande­ren Ham­bur­gern gedul­de­ten und unter­stütz­ten Gewalt­ta­ten heu­te vor nun­mehr 77 Jah­ren ver­folgt, ent­rech­tet, an Gut und Leib beschä­digt, der Frei­heit beraubt, an jenem Tage oder in der Fol­ge sogar getö­tet, und das bedeu­tet: ermor­det, wur­den, wie auch derer, die ange­sichts der Ver­fol­gung kei­nen ande­ren Aus­weg sahen, als sich selbst das Leben zu neh­men – auch dies eine Form des Mordes.

Wir geden­ken aber auch der Erfah­run­gen der­je­ni­gen Men­schen, die nicht phy­sisch betrof­fen waren, denen aber über­aus dras­tisch ver­deut­licht wur­de, dass und auch wie man sie nicht – nicht mehr – dazu­ge­hö­ren las­sen woll­te: zu Ham­burg, zu Deutsch­land, und – wie sich spä­ter her­aus­stell­te: zur Menschheit.

Wem gilt die­ses Geden­ken: Den dama­li­gen Opfern gegen­über ist es eine Ges­te der Wie­der-Aner­ken­nung ihrer so beschä­dig­ten Zuge­hö­rig­keit. Im Fal­le der damals Umge­kom­me­nen kann er nicht anders sein als sym­bo­lisch und somit unvoll­stän­dig – der Sta­chel bleibt. Den Über­le­ben­den gegen­über, ob zurück­ge­kehrt oder nicht, ist der­ar­ti­ges Geden­ken ein Ver­spre­chen gewe­sen, die­se Aus­gren­zung nicht fort­füh­ren zu wol­len, sie wie­der als Mit­glie­der unse­rer Gemein­schaft anzu­er­ken­nen – nicht, als ob nichts gewe­sen wäre, son­dern in vol­lem Bewusst­sein und in expli­zi­ter Benen­nung des gesche­he­nen Unrechts. Ihnen gegen­über auch ist es beson­ders nötig, die­ses immer wie­der zu bekun­den: Wer einen sol­chen Rechts- und Ver­trau­ens­bruch erfah­ren muss­te, der bedarf nicht einer ein­ma­li­gen, abschlie­ßen­den Soli­da­ri­täts­be­kun­dung, son­dern wie­der­hol­ter. Spät genug hat unse­re Gesell­schaft, haben wir damit begon­nen, sol­ches zu tun.

Sodann ist unser Geden­ken aber auch eine Trau­er um das, was die­se so hin­aus­ge­trie­be­nen Men­schen für uns, für die Gesell­schaft, der wir uns im Rück­blick doch ange­hö­rig füh­len, bedeu­tet haben und wei­ter hät­ten bedeu­ten kön­nen. Nicht nur dort, wo Fami­li­en, Freund- und Nach­bar­schaf­ten zer­ris­sen wur­den, ist er spür­bar – er betrifft uns alle, heu­te noch. Ihr Ver­lust an men­schen­wür­di­ger Sicher­heit ist auch unser aller Ver­lust gewe­sen – an Bezie­hun­gen, Erfah­run­gen, und nicht zuletzt an gegen­sei­ti­ger Mensch­lich­keit und Solidarität.

Auch hier gilt: Unser Erin­nern und Geden­ken macht den Ver­lust nicht rück­gän­gig, ist aber nötig, um das Ver­lo­re­ne ange­sichts und in ste­ti­ger Kennt­nis des Gesche­hens wie­der zu gewin­nen und zu bewahren.

Letzt­lich ver­ge­wis­sern wir uns im Geden­ken näm­lich auch unse­rer selbst: Wer sind wir und wer wol­len wir sein ange­sichts und gegen­über die­sem Geschehen?

Im Den­ken an die Opfer der dama­li­gen Gewalt, aber auch des sie beglei­ten­den Schwei­gens und Dul­dens, im Den­ken an den Ver­lust durch die Gesell­schaft, die es nicht ver­hin­dern konn­te, es als Gan­ze aber auch nicht woll­te, im Den­ken an den Ver­lust, den eben dies auch für uns als Gesell­schaft bedeu­te­te und noch bedeu­tet, beken­nen wir uns zur his­to­ri­schen Ver­ant­wor­tung, uns selbst gegen­über, ein­an­der und vor allen ande­ren. Nicht nur den Opfern und ein­an­der, die wir hier ste­hen, auch allen ande­ren gegen­über sagt die­ses Geden­ken etwas.

Damit bin ich beim drit­ten Punkt: Was folgt aus sol­chem Gedenken?

So sehr es stimmt, was Hans Reich­mann schrieb, dass das Gesche­hen über vie­le der ein­zel­nen Opfer in „unfass­ba­rer“, weil für sie außer­halb des Erwart­ba­ren lie­gen­der Wei­se her­ein­brach, so sehr gilt auch, dass es dem erin­nern­den Rück­blick kei­nes­wegs als unvor­be­rei­tet erscheint. Wir wis­sen, wie die Jah­re zuvor, nicht nur seit 1933, als Schrit­te zu die­ser Bar­ba­rei inter­pre­tiert wer­den kön­nen. Wir wis­sen aber auch, dass es kei­nes­wegs zwangs­läu­fig war, unvermeidlich.

Und so muss auch gel­ten, dass ein Geden­ken, das zunächst und zuvör­derst Trau­er ist und den Opfern gilt, leer bleibt, wenn es nicht den Blick auch auf das Heu­te rich­tet. Gera­de weil wir es für sinn­voll und nötig befin­den, die­ses Geden­ken immer wie­der, deut­lich und öffent­lich zu bekun­den, müs­sen wir auch fra­gen, inwie­fern es aktu­ell Ent­wick­lun­gen gibt, die früh­zei­tig zu erken­nen und zu benen­nen sind und denen ent­ge­gen­ge­tre­ten wer­den muss, damit nicht wie­der Men­schen unschul­dig zu Opfern von Taten wer­den, derer man in fer­ne­rer Zukunft in glei­cher Wei­se soll­te geden­ken müsste.

Ja, es gibt sie: Heu­te sind es nicht lang­jäh­ri­ge Ange­hö­ri­ge der Gesell­schaft, die in der­art „unfass­ba­rer“ Wei­se, wie ein­gangs zitiert, „aus der Sicher­heit bür­ger­li­chen Lebens ver­jagt“ wer­den „– ohne Arbeit, ohne Heim, ohne Hei­mat“, und die so zu „Luft­men­schen“ gemacht wur­den, son­dern Men­schen, die zu uns kom­men, weil sie ande­res, aber ver­gleich­bar Ein­schnei­den­des erlebt haben – Men­schen, denen hier bei uns neben gro­ßer Hilfs­be­reit­schaft auch immer wie­der Aus­gren­zung und Ableh­nung ent­ge­gen­schlägt – bis hin dazu, dass wie­der Gebäu­de bren­nen und Män­ner, Frau­en und Kin­der ange­grif­fen wer­den. Das darf nicht sein.

Gewiss: Eigent­lich muss man nicht geden­ken und erin­nern, und his­to­risch den­ken, um zu wis­sen, dass der­ar­ti­ges unver­zeih­lich und unmensch­lich ist. Aber weil die Geschich­te zeigt, dass sol­che Moral und Ethik brü­chig ist, kann Geden­ken und Erin­nern nicht stumm blei­ben gegen­über dem Gegenwärtigen.

Sei­en wir daher als eine viel­fäl­ti­ge Gesell­schaft und als Uni­ver­si­tät einer sol­chen viel­fäl­ti­gen bereit, nicht nur sein zu las­sen, was zu sol­chem Geis­te führt, son­dern auch uns zu betei­li­gen an der Gestal­tung unse­rer Gesell­schaft in einer Wei­se, die es ver­hin­dern möge, dass in eini­gen Jahr­zehn­ten wie­der um Men­schen und um ver­lo­re­ne, auf­ge­ge­be­ne, nicht bewahr­te Mensch­lich­keit getrau­ert und erin­nert wer­den muss.

Wis­sen­schaft und aka­de­mi­sche Bil­dung als sol­che sind, das zeigt die Erfah­rung, nicht gefeit vor frem­den­feind­li­chen Denk­wei­sen und auch ein wis­sen­schaft­li­ches Stu­di­um der Geschichts­wis­sen­schaft allein hält – wie zwei aktu­el­le Fäl­le zei­gen – nicht ein­mal Leh­rer davon ab, pau­scha­lie­ren­de, frem­den­feind­li­che und Men­schen wegen ihrer Zuge­hö­rig­keit zu einer Reli­gi­on, Kul­tur zu dif­fa­mie­ren – von einer Hal­tung und Pra­xis also, die das heu­te erin­nernd zu Bekla­gen­de mit ermög­licht hat. Wis­sen­schaft und his­to­ri­sche Bil­dung kann hel­fen, muss sich aber ihrer huma­nen Grund­la­gen versichern.

Indem wir uns heu­te in Trau­er und rück­bli­cken­dem Ent­set­zen vor die­sen Men­schen ver­nei­gen und ihre ihnen damals ver­nein­te Zuge­hö­rig­keit zu unse­rer Gemein­schaft wie­der aner­ken­nen, beken­nen wir uns auch zu einem Geist, einer Hal­tung, glei­ches nicht wie­der zuzulassen.

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