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[Vor­be­mer­kung: Nach dem Umzug des Blogs auf den neu­en Ser­ver wur­de ich vom Sys­tem auf einen seit Jah­ren unfer­ti­gen Ent­wurf auf­merk­sam gemacht, der danach mei­ner Auf­merk­sam­keit ent­gan­gen war. Ich ver­öf­fent­li­che ihn hier unver­än­dert, zum einen, weil ich das damals geschrie­be­ne immer noch für nicht ganz unsin­nig hal­te, zum ande­ren, weil auch das eine Form der Erin­ne­rung ist. AK 3.5.2016]

Lisa Rosa macht(e mich damals) auf ein erin­ne­rungs­kul­tu­rel­les Phä­no­men aufmerksam:

Ein Pro­jekt in Lub­lin “rekon­stru­iert” im Netz Holo­caust-Opfer und gibt ihnen eine “vir­tu­el­le Iden­ti­tät”, d.h. es ent­steht eine Sei­te, auf wel­cher nicht nur Lebens­da­ten und Infor­ma­tio­nen über die his­to­ri­sche Per­son ver­sam­melt wer­den, son­dern die­se Per­son auch eine vir­tu­el­le “eige­ne” Stim­me bekommt.

Ein Bericht dar­über fin­det sich bei der Deut­schen Welle.

Die­ses Pro­jekt wirft aus der Per­spek­ti­ve der Geschichts­di­dak­tik wie der Erin­ne­rungs­kul­tur, der Gedenk­stät­ten­päd­ago­gik meh­re­re Fra­gen auf. Ich will hier gar nicht selbst unmit­tel­bar nach der “Ange­mes­sen­heit” und/​oder Sinn­haf­tig­keit fra­gen oder dar­über urtei­len. Zunächst geht es mir dar­um zu fra­gen, wel­cher Kate­go­rien, Begrif­fe und Ein­sich­ten es bedarf, um dar­über zu vali­den Urtei­len zu kommen:

  1. Kann die­ses Pro­jekt als neu-media­le, Inter­net-gerech­te Wei­ter­ent­wick­lung bio­gra­phi­schen Arbei­tens in der Erin­ne­rungs­kul­tur ange­se­hen werden?
  2. In dem oben ange­spro­che­nen Bericht über die­ses Pro­jekt wird der Begriff der “Rekon­struk­ti­on” erwähnt. Was genau wird damit bezeich­net? Was umfasst er — und was kann er sinn­vol­ler­wei­se umfassen? 
    1. Ist mit der Rekon­struk­ti­on die Erar­bei­tung von Infor­ma­tio­nen über die Lebens­um­stän­de und das Leben des Jun­gen “Henio” gemeint — oder umfasst der Begriff auch die “Wie­der­her­stel­lung” sei­ner Perspektive?
    2. Re-Kon­struk­ti­on im geschichts­wis­sen­schaft­li­chen Sin­ne besteht immer in einer retro­spek­ti­ven Tätig­keit. Dabei gilt inzwi­schen als gesi­cher­te Erkennt­nis, dass zwar ver­sucht wird, “die Ver­gan­gen­heit” zu rekon­stru­ie­ren, dass das Ergeb­nis aber nie in der Wie­der­her­stel­lung der Ver­gan­gen­heit bestehen kann, son­dern immer die Form einer “Geschich­te” annimmt, näm­lich nar­ra­tiv struk­tu­riert ist.
    3. Re-Kon­struk­ti­on ver­bin­det somit immer min­des­tens zwei Zeit­punk­te, von denen einer der­je­ni­ge der Re-Kon­struk­ti­on ist. Im Sin­ne von Trans­pa­renz und in Aner­ken­nung der unhin­ter­geh­ba­ren Per­spek­ti­vi­tät (sowie Selek­ti­vi­tät, Par­tia­li­tät etc.) aller nar­ra­ti­ven Aus­sa­gen, ist zu for­dern, dass die Tat­sa­che der per­spek­ti­vi­schen Re-Kon­struk­ti­on und die Per­spek­ti­ve, von der sie vor­ge­nom­men wird, mög­lichst offen gelegt wird.
    4. Auch die Anstren­gung und Leis­tung, mög­li­che Gedan­ken und Wün­sche, Äuße­run­gen und Taten frü­he­rer Men­schen zu for­mu­lie­ren, ist dem­nach for­mal Re-Kon­struk­ti­on. Die Nut­zung wört­li­cher Rede und der Ich-Form, d.h. Dra­ma­ti­sie­rung und Kon­tex­tua­li­sie­rung, Loka­li­sie­rung usw. sind Ele­men­te his­to­ri­scher Re-Kon­struk­ti­on. In die­sem Sin­ne ist auch die Kon­struk­ti­on des “vir­tu­el­len Henio” eine Rekonstruktion.
    5. Ein sol­ches Pro­jekt kann also nicht ein­fach mit dem Hin­weis abge­lehnt wer­den, dass es ille­gi­tim sei, nicht mehr leben­de Per­so­nen “zum Spre­chen zu brin­gen” — nichts ande­res tun his­to­ri­sche Dra­men und Epen — aber auch ein Gut­teil der erzäh­le­nen Geschichtsschreibung.
    6. Nicht die Tat­sa­che fik­tio­na­ler Gestal­tung von ver­gan­ge­nen Per­spek­ti­ven und Hand­lun­gen in die­sen Per­spek­ti­ven kann also ein Grund sein, ein sol­ches Pro­jekt abzu­leh­nen oder pro­ble­ma­tisch zu fin­den, son­dern höchs­tens die Art und Wei­se, wie Fik­tio­na­li­tät (oder neu­tra­ler: Gestal­tung) und “Fak­ti­zi­tät” mit­ein­an­der in Bezie­hung gesetzt wer­den. Auch “Fak­ten” sind ja nicht ein­fach gege­ben, son­dern ent­ste­hend durch Inter­pre­ta­ti­on, durch Re-Konstruktion.
  3. Dass mich (und wohl auch Lisa Rosa) bei der Infor­ma­ti­on über die­se Form der Erin­ne­rungs­kul­tur ein ungu­tes Gefühl beschleicht, der Ver­dacht, hier könn­te etwas unan­ge­mes­se­nes, pro­ble­ma­ti­sches statt fin­den, muss also an ande­rem lie­gen. Es braucht wohl auch ande­re Kri­te­ri­en zu des­sen Beurteilung: 
    1. Ist es die Kom­bi­na­ti­on von fik­tio­na­ler Gestal­tung und der Opfer­per­spek­ti­ve, wel­che dem so Gestal­te­ten eine Deu­tungs­macht ver­leiht, die uns — bei aller Berech­ti­gung und Not­wen­dig­keit der Reprä­sen­ta­ti­on die­ser Per­spek­ti­ve — pro­ble­ma­tisch erscheint?
    2. Ist der Begriff “vir­tu­el­ler Zeit­zeu­ge”, der bei der Deut­schen Wel­le ver­wen­det wird, ange­mes­sen? Er ver­weist auf die beson­de­re Qua­li­tät der Zeit­zeu­gen­schaft, die die­se in der deut­schen Geschichts­wis­sen­schaft und Erin­ne­rungs­kul­tur besitzt — näm­lich eine auf einer Authen­ti­zi­täts­an­nah­me beru­hen­de Autorität.
    3. Hier ist zu fra­gen, ob unser (bzw. der Autoren des Pro­jekts und/​oder der Bericht­erstat­ter) Begriff des “Zeit­zeu­gen” scharf genug ist. Lässt sich “Zeu­gen­schaft” virtualisieren?
    4. Viel­leicht hilft es ja wei­ter, die Auto­ri­tät, die dem Kon­zept des “Zeu­gen” und der “Quel­le” im deut­schen his­to­ri­schen Den­ken zukommt, zurück­zu­neh­men, und viel­mehr (ent­spre­chend der eng­lisch­spra­chi­gen Geschichts­päd­ago­gik) das Kon­zept der “Evi­denz” zu nut­zen. Nicht die Tat­sa­che von Zeu­gen­schaft iste s dann, die Auto­ri­tät ver­bürgt — viel­mehr kommt den Berich­ten von “Zeit­zeu­gen” Evi­denz nicht auto­ma­tisch zu, son­dern muss in ihnen gesicht werden.
    5. Mit Hil­fe der Kate­go­rie von “Evi­denz” lie­ßen sich auch Vor­stel­lung sekun­dä­rer und eben vir­tu­el­ler Zeu­gen­schaft kri­tisch analysieren.
  4. Zu reflek­tie­ren ist auch die Erin­ne­rungs­qua­li­tät sol­cher Projekte 
    1. zunächst unter­schei­det sich der Vor­gang der “Re-Kon­struk­ti­on” ver­gan­ge­ner Per­spek­ti­ven (“was kann der Jun­ge Henio plau­si­bler­wei­se zu die­sem Zeit­punkt gedacht haben, was kön­nen sei­ne Wün­sche, Erfah­run­gen, Erleb­nis­se etc. gewe­sen sein?”) und ihre dra­ma­ti­sie­ren­de, loka­li­sie­ren­de, kon­tex­tua­li­sie­ren­de Gestal­tung nicht wesent­lich von dem, was ernst­haft arbei­ten­de Autoren von Jugend­bü­chern oft tun.
    2. In den aller­meis­ten Fäl­len han­delt es sich bei den Per­so­nen sol­cher Pro­duk­te um expli­zit fik­tio­na­le Gestal­ten, die an Hand his­to­ri­scher For­schung als mög­lich und plau­si­bel erkann­te Per­spek­ti­ven etc. zu einer Indi­vi­dua­li­tät gestal­ten, die als mög­lich, aber eben nicht wirk­lich dar­ge­stellt wird: 
      1. Zuwei­len wer­den ver­bürg­te und über­lie­fer­te Ein­zel­erfah­run­gen meh­re­rer Per­so­nen zu einer fik­tio­na­len Figur verdichtet.
      2. zuwei­len wird neu­es (aber eben mög­li­ches) “hin­zu­er­fun­den”, so auch “Typi­sches” “indi­vi­dua­li­siert”.
    3. Aber es gibt natür­lich auch Bei­spie­le, wo in fik­tio­na­len Gestal­tun­gen “rea­le” Per­so­nen mit eige­nem Den­ken und Reden, Füh­len und Wol­len vor­ge­stellt und gestal­tet werden. 
      1. Das ist zunächst immer dort der Fall, wo bekann­te Ein­zel­per­so­nen, deren Han­deln die Situa­ti­on geprägt hat, unver­zicht­bar sind — etwa beim Holo­caust Hit­ler, Höss usw.
      2. es kön­nen aber auch ver­bürg­te, dann “fik­tio­nal” über­form­te Erfah­run­gen rea­ler Men­schen sein — wie etwa die Erin­ne­run­gen von Art Spie­gel­manns Vater in “Maus”.
    4. In den aller­meis­ten Fäl­len, die pro­blem­los aner­kannt wer­den, zeich­net jedoch das Set­ting die Gestal­tung als zumin­dest teil-fik­tio­nal bzw. als “lite­ra­risch” gestal­tet aus: Der Hit­ler in “Maus” ist eben­so­we­nig der rea­le Hit­ler wie der Cae­sar in Aste­rix — er ist erkenn­bar eine lite­ra­ri­sche Gestal­tung der rea­len Per­son Hit­ler — ein Ver­weis auf die Rea­li­tät, nicht aber die Rea­li­tät selbst.