In der letzten Woche wurde über eine aktuelle Studie zum Vergleich von Quereinsteiger:innen und „traditionell ausgebildeten“ Lehrpersonen hinsichtlich ihrer professionellen Kompetenzen (insbesondere Fachwissen, fachdidaktisches Wissen, Professionswissen, aber auch Beliefs und Mustern der Selbstregulation) berichtet.1
So interessant die Studie in vielen Teilen ist, wirft sie aber die Frage auf, ob die Messung von Kompetenzen und Professionalität mittels der Erhebung der Verfügung über definit formuliertes Wissen und Überzeugungen (anhand der Zustimmung zu entsprechenden Items) ausreicht und die Sache trifft. Inwiefern die nicht nur akademische (universitäre), sondern auch spezifisch erziehungswissenschaftliche Bildung von Lehrpersonen darauf abzielt, dass diese vornehmlich die Anforderungen des Lehrberufs nach den Standards gegenwärtigen professionellen Wissens erfüllen und ihn ihnen bestehen können, oder ob es vielmehr (auch!) darum gehen muss, selbstverantwortet, selbstständig und als professionell zuständige an der Wahrnehmung und Reflexion der Veränderung solcher Bedingungen in einer noch nicht absehbaren Zukunft teilzuhaben (mehr als nur als Bürger:innen), wäre intensiv zu diskutieren. Der Charakter des Lehrberufs ergibt sich ja (so etwa Frank Olaf Radtke 1999/2000)2 vornehmlich daraus, dass es 1. kaum standardisierte oder standardisierbare Handlungssituationen gibt, sondern vielmehr eine unübersehbare Vielfalt immer anderer/neuer Konstellationen, die sowohl wahrgenommen als auch eingeschätzt und beurteilt werden müssen, und in gerade nicht standardisiert gehandelt werden kann, und 2. durch die (ähnlich Ärzten und Anwälten …) besondere Eingriffsqualität und -tiefe des Handelns in Lebenschancen der Lernenden.
Es geht beim Lehrberuf also nicht einfach (nein, schon das ist nicht einfach) darum, zu wissen, was entweder auf der Basis von Experten oder großer empirischer Studien geeignet ist, wie man bestimmte Situationen ‚richtig‘ beurteilt, sondern wie man mit solchen Situationen vor variablen Bedingungen umgeht.
Kompetenz und Professionalität zeigt sich nicht allein darin, dass man Standard-Anforderungen des Berufs in den gegenwärtigen Strukturen und nach gegenwärtig als bedeutsam geltenden Kriterien bewältigen kann. Das ist nur die notwendige Bedingung. Kompetenz und Professionalität zeigt sich vielmehr in weiteren, darüber hinaus gehenen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bereitschaften. Dazu gehört, zum Einen, dass man sein eigenes Denken und Handeln anhand gültiger Kriterien selbstständig und selbstverantwortlich auf eine bereits gegenwärtig unüberschaubare Vielfalt unterschiedlicher Einzelfälle ausrichten kann.
Zum anderen aber ist ebenso unabdingbar, dass man für sich selbst, die Institution(en), das Fach und die Gesellschaft professionell an der ständigen Überprüfung von Prinzipien, Handlungsmuster, Kriterien, Theorien usw. und an ihrer Weiterentwicklung für (derzeit nur partiell absehbar) geänderten Rahmenbedingungen teilhaben kann.
Es reicht somit nicht aus, die „Qualität“ von Lehramtsanwärter:innen und Quer- oder gar Seiteneinsteiger:innen reichen daher Messung an Hand von Wissens- und Einstellungstests zu messen, die gegenwärtige Kenntnisse, Prinzipien, „What Works“-Einsichten und Haltungen messen,um zu beurteilen, ob die (später auch voll-)akademische (universitäre) Lehrerbildung richtig und nötig sei. Sie wurde – außer durch berufs- und standespolitische Motive – wesentlich auch durch die Einsicht vorangetrieben, dass es nicht um „die Regeln handwerklichen Tuns“ gehe, sondern um Lehrer als Persönlichkeit „auf der Bildungshöhe ihrer Zeit“. Es gelte, „geistig bewegliche, mit fortschreitender Entwicklung wandlungsfähige Lehrer zu schaffen, wie es etwa der für die Gestaltung der (in Anknüpfung an die Regelungen 1927) für alle Lehrämter universitären Lehrämter in Hamburg einflussreiche Oberschulrat Franz Jürgens 1958 formulierte.3
Die Nachlagerung der seit 1947 noch dominierenden praktischen Unterrichtsausbildung im Studium in einen Vorbereitungsdienst 1967 (wie er für das Höhere Lehramt schon vorher bestand) ist denn auch u.a. als eine Konsequenz zu sehen aus Forderungen nach einer Entlastung des Studiums von „einem Übermaß an berufspraktischer Vorbereitung“ (OSR Jürgens schon im März 1958)4, so dass Freiheit für eigenständige Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragen. Deshalb auch waren – wie schon 1927ff – die Fachstudien nicht gedacht zum Erwerb des in der Schule zu vermittelnden Fachwissens (die Volksschullehrer:innen unterrichteten ja mehrere Fächer), sondern zur exemplarischen Einführung in wissenschaftliches Denken.
Auch dass mit der Verlagerung der Praxisanteile in den Vorbereitungsdienst die Fachdidaktiken nicht dorthin verschoben wurden, sondern universitär verblieben (und gar zu vorher in HH nicht vorhandenen Professuren aufgewertet wurden),5 bedeutete zudem, dass auch diese nicht konkrete Unterrichtseinübung, sondern grundlegendere Fragen fachlichen Lehrens und Lernens in den Blick nehmen konnten. Nicht mehr wöchentliche Unterrichtsbesuche und -nachbesprechungen, sondern Fragen der gesellschaftlichen Bedeutung sowie der theoretischen Fundierung fachlicher Bildung, neuer Herausforderungen angesichts gesellschaftlicher, medialer, kultureller Veränderungen etc. konnten nun ins Zentrum nicht nur von Forschung, sondern der Lehrerbildung in der ersten Phase gestellt werden.
Solche Veränderungen und die Fähigkeit von Lehrpersonen, darauf nicht nur situativ und nach entsprechender Fortbildung reagieren zu können, sondern selbst an der Revision, Weiter- und Neuentwicklung fachlicher Lehr-/Lernkonzepte beteiligt zu sein – nicht zuletzt aufgrund der Expertise zu den konkreten Heraus- und Anforderungen, die sie durch ihren täglichen Kontakt mit unterschiedlichsten Lernenden und ihren Bedingungen haben – wird in Zukunft an Bedeutung nicht verlieren – eher im Gegenteil. Gerade auch daher ist „Lehrerprofessionalität“ und Kompetenz nicht nur darin zu sehen, über die gegenwärtigen Einsichten, Standards und ein Handlungsrepertoire zu verfügen, sondern in der Befähigung zu selbst- und eigenverantwortlichem Umgang mit dem Wandel.
Ein Beispiel: Die genannte Studie6 gibt — verständlicherweise — für die untersuchten Kompetenzen nur Beispiele der Items, die in das jeweilige Instrument eingegangen sind. Insofern sind die folgenden Überlegungen keine Kritik an der Studie, sondern Fragen an die Interpretation und Bewertung ihrer Aussagen.
Ein Item etwa lautet „Für welche der folgenden Aufgaben bietet sich Gruppenarbeit besonders an“. Es geht hier um einen Wissenstest, d.h. es gibt (mehr oder weniger) als richtig geltende Antworten. Das ist sinnvoll mit auf Anforderungen des Berufs unter mehr oder wenige gegebenen Bedingungen. Inwiefern solche Instrumente aber auch erfassen, ob bzw. wie Lehrpersonen in der Lage sind, diese Fragen nicht nur unter gegebenen Bedingungen, sondern variabel einzuschätzen und zu reflektieren, wäre zu diskutieren.
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- Was etwa heißt im zitierten Item „folgende Aufgabe“?
- Inwiefern sind — selbst in der Gegenwart — Aufgaben quasi in sich geschlossene Konstrukte? Muss nicht vielmehr berücksichtigt werden, dass in unterschiedlichen Zusammenhängen und auch für Schüler:innen unterschiedlich die „selbe“ Aufgabe unterschiedliches bedeuten kann?
- Gilt die Antwort des Items vielleicht nur unter der Bedingung (vermeintlich) weitgehend homogener Schüler:innenschaft? Gilt sie auch noch unter Bedingungen von Inklusion – oder wird dann ein anderes Denken erfordert?
- Gilt das ihr zugrunde liegende Konzept von „Gruppenarbeit“ mit den ihm offenkundig stabil zugeschriebenen Qualitäten auch unter Außerkraftsetzung von Präsenz-Unterricht in Anwesenheit der Lehrkraft?
- Ändert sich (nicht: ob, sondern: inwiefern und wie) die Einschätzung unter den gegenwärtigen Bedingungen von „HomeSchooling“, „Distanz“, Asymmetrie etc. …?
Ähnliches gilt für das Item zur Klassenführung: „Die Lehrerin ruft die Schüler(innen) der Reihe nach auf. Sie beginnt in der hinteren linken Ecke und geht die Reihen durch. Was denken, Sie, wird wird die Klasse sich verhalten?“
Insofern für solche Items nicht einfach das Treffen vorgegebener Antworten bewertet und bepunktet wird, sondern zumeist individuelle Antworten kategorisiert werden, erfasst das Instrument durchaus eine gewisse Bandbreite an Kompetenzen: Es wird eingeschätzt, welche Aspekte die Probanden ansprechen, einbeziehen, etc. Es geht somit gar nicht unbedingt darum, das Verhalten der Klasse „richtig“ einzuschätzen. Gleichwohl bleibt die Frage, inwiefern man wirklich „das Verhalten“ „einer Klasse“ als Konzept voraussetzen kann (oder geht es gerade darum, zu prüfen, inwiefern die Proband:innen genau diese Setzung annehmen, reflektieren?), inwiefern implizierte Homo- oder Heterogenität der Lernenden, Konventionen von richtigem oder problematischem Verhalten, der Bedeutung von „Drannehmen“ etc. in den Items vorausgesetzt werden.
Geht es nicht auch darum, die in solche Situationsbeschreibungen und Items eingegangenen Annahmen, Voraussetzungen, Konzepte nicht nur zu verstehen und „anwenden“ zu können, sondern sie dahingehend zu reflektieren, ob sie zur Einschätzung, Beurteilung und Gestaltung der jeweiligen Situation passen.
Nun müsste man gerade mehr wissen. Ist es vielleicht Ausweis eines höheren Kompetenzniveaus, solche Fragen gerade nicht sicherer zu beantworten, sondern im Gegenteil flexibler, mit Vorbehalten zu argumentieren, die Voraussetzungen der Fragen einzubeziehen? Inwiefern wird das bzw. kann das berücksichtigt werden?
Vor diesem Hintergrund stellt sich dann die Frage, ob die jeweilige Qualität „traditionell-lehramtsspezifischer“ oder „nicht-traditioneller“ Ausbildung sich weniger im Grad der Verfügung über solches Wissen zeigt als vielmehr in der Art und Weise, wie mit solchem in Handlungs- und Entwicklungszusammenhängen umgegangen wird: Das Kriterium, an dem sich die Lehrerbildung messen lassen muss,wäre dann nicht, ob die nicht-traditionell (aus-)gebildeten Lehrkräfte über vergleichbares Wissen und Handlungsroutinen etc. verfügen, sondern wie sie erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten selbstständig und verantwortlich in unterschiedlichen Zusammenhängen in Wert zu setzen und auf neue Bedingungen anzupassen in der Lage sind.
All dies ist kein Plädoyer, auf Quereinsteiger:innen zu verzichten oder den Quereinstieg gar unmöglich zu machen — wohl aber dafür, gerade auch in Zeiten des vermehrten „Rückgriffs“ auf Quereinsteiger:innen in Zeiten von Lehrepersonenmangel, nicht nur auf die unmittelbare „Einsetzbarkeit“ zu setzen, sondern auch bei ihrer Vorbereitung genügend Zeit und Freiraum zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und pädagogisch-erziehungswissenschaftlichen Grundlagen des eigenen Handelns einzuplanen. Die weitsichtige Orientierung der akademischen Lehrerbildung an Zukunftsfähigkeit sollte auch in Zeiten der administrativen Not nicht aufs Spiel gesetzt werden.
- vgl. twitter.com/JMWiarda/statu; bzw. jmwiarda.de/2020/08/17/kei; die Studie hier: . econtent.hogrefe.com/doi/10.1024/10 [↩]
- Radtke, Frank-Olaf (Hg.) (1999): Lehrerbildung an der Universität. Zur Wissensbasis pädagogischer Professionalität ; Dokumentation des Tages der Lehrerbildung an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, Frankfurt am Main, 16. Juni 1999. Tag der Lehrerbildung; Goethe-Universität Frankfurt am Main. Frankfurt am Main: Fachbereich Erziehungswiss. der Johann-Wolfgang-Goethe-Univ (Frankfurter Beiträge zur Erziehungswissenschaft Reihe Kolloquien, 2); Radtke, Frank-Olaf (2000): Professionalisierung der Lehrerbildung durch Autonomisierung, Entstaatlichung,Modularisierung. In: Sowi OnlineJournal (0), S. 1–8. Online verfügbar unter http://www.sowi-online.de/sites/default/files/radtke.pdf. [↩]
- OSR Franz Jürgens auf der 11. Sitzung der Lehrerkammer am 19.2.1958; Staatsarchiv Hamburg; HH 361-2 VI_1904 Bl. 15. [↩]
- OSR Franz Jürgens auf der Sitzung der Schulräte am 12.3.1958; Staatsarchiv Hamburg; HH 361-2 VI_1904 Bl. 12-13. [↩]
- vgl. zu dieser Entwicklung in Hamburg u.a. Geissler, Georg (1973): Eingliederung der Lehrerbildung in die Universität. Das Hamburger Beispiel. Weinheim: Beltz (Pädagogische Studien, Bd. 24). [↩]
- econtent.hogrefe.com/doi/10.1024/10 [↩]