In der geschichtsdidaktischen Lehre spielt das Prinzip der „Multiperspektivität“ eine große Rolle. Es scheint auch für die Studierenden eingängig zu sein — jedenfalls fehlen positive Bezugnahmen darauf in fast keiner Hausarbeit.
Oft aber handelt es sich dabei um reine Lippenbekenntnisse – oder um Formen, die zeigen, dass die Eingängigkeit des Terminus und die scheinbare Klarheit oft ein tieferes Verständnis durchaus erschweren. 1
Ein Beispiel:
In manchen Hausarbeiten wird das Prinzip befürwortet — ebenso wie in publizierten Unterrichtsbeispielen. Die skizzierten Unterrichtsplanungen bestehen dann darin, zu einem Konflikt (im weiteren Sinne) jeweils eine Quelle der einen und einer der anderen Konfliktpartei zu präsentieren und bearbeiten zu lassen:
- bei Thematisierungen des deutsch-französischen Verhältnisses vom Krieg 1870/71 zum 1. Weltkrieg werden Beispiele der beiderseitigen Propaganda genutzt;
- bei der Behandlung des spanisch-baskischen Konflikts wird den Schülern präsentiert:
- ein Artikel, welcher „den“ terroristischen Basken alle Schuld gibt;
- ein Artikel, welcher zwischen extermistischen Basken und solchen unterscheidet, die in Frieden leben wollen
- das Verhältnis der „Rassen“ in den USA wird folgendermaßen thematisiert:
- ein Zeitungsartikel, der die klassischen Vorurteile der Weißen gegenüber den Schwarzen (Vergewaltigung weißer Frauen) präsentiert und Lynchjustiz befürwortet;
- ein Artikel einer Journalistin, welche die Realität interethnischer Liebesbeziehungen herausstellt.2
Beide Arbeiten leiten daraus die Zielstellung ab, die Schüler(innen) könnten am Vergleich der Artikel erkennen, dass es nicht die eine wahre Geschichte gebe, sondern dass „es“ immer mehrere Perspektiven „gebe“.
Das ist natürlich die quasi standardisierte Formel der Geschichtsdidaktik. Aber ist sie hier gerechtfertigt? Ich habe meine Zweifel. An beiden Fällen lässt sich zeigen, dass das Prinzip der „Multiperspektivität“ nicht durch die Gegenüber- oder Zusammenstellung irgendwelcher unterschiedlichen Perspektiven auf einen Sachverhalt eingelöst werden kann, sondern dass es der historischen Reflexion der Perspektiven bedarf – auf ihre Relevanz für historisches Lernen nämlich.3 Nicht dass Quellen unterschiedlichen Perspektiven auf den gleichen Gegenstand entstammen, ist relevant, sondern welcher Art dieser Perspektivenunterschied ist:
Dass Vertreter von gegnerischen Parteien eines Konflikts diesen unterschiedlich bewerten und darstellen, ist unmittelbar einsichtig – auch den Schülern. Daraus ist wenig zu lernen. Das Problem ist, dass sowohl den Konfliktparteien als auch den Schüler(inne)n der Vorwurf der „Lüge“ an die jeweils andere Partei bzw. (aus der Sicht des „neutralen“ Lernenden) an eine von ihnen schnell zur Hand und er auch nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Die Einsicht, die dem Prinzip der Multiperspektivität zu Grunde liegt, nämlich dass es zu jedem Zusammenhang zeitgenössisch (auf der „Ebene der Quellen“) wie retrospektiv (auf der „Ebene der Darstellungen“) mehrere berechtigte Perspektiven gibt, ja dass solche Perspektivenunterschiede notwendig sind, ist daran kaum zu gewinnen.
Hier wäre also zu formulieren, dass im Sinne dieser Einsicht relevante Multiperspektivität dann entsteht, wenn Unterschiede der Beurteilung eines Zustandes oder einer Handlung (Quellen) und in der späteren Historisierung (Darstellung) nicht unmittelbar auf antagonistische Interessen zurückgeführt werden können.
Es ist also viel fruchtbarer, solche Perspektiven zu kontrastieren, die nicht einfach die Positionen zweier Konfliktparteien abbilden, sondern die unterschiedliche Sichtweisen auf den Konflikt auf „einer“ Seite präsentieren — und so auch verschiedene Historisierungen bzw. historische Begründungen präsentieren:
- Beim deutsch-französischen Krieg 1870/71 oder zum 1. Weltkrieg wären das etwa die Perspektive von Nationalisten und Kriegsbefürwortern gegenüber derjenigen von Pazifisten oder von Vertretern der Arbeiterbewegung, die den Zusammenhalt der Proletarier befürworten — und zwar nach Möglichkeit auf der gleichen, oder besser noch: auf „beiden“ Seiten des Krieges;
- im spanisch-baskischen Verhältnis wären etwa jeweils zu präsentieren:
- eine baskische Argumentation nationalistischer Art, die vielleicht eine ewige Eigenständigkeit „der Basken“ betont,
- eine andere, die vielfältige Beziehungen der Basken zu ihren Nachbarn und Veränderungen des Selbstverständnisses betont
Ebenso wären unterschiedliche „spanische“ Argumentationen und Narrative zu kontrastieren;
- in Bezug auf die Rassenprobleme in den USA wären vielleicht zu nutzen:
- eine „schwarze“, welche eine bessere Zukunft und ein friedliches Zusammenleben zwischen Schwarz und Weiß voraussieht bzw. erstrebt;
- eine andere „schwarze“ Perspektive, welche nur auf Konfrontation und Kampf setzt;
- eine „weiße“ Perspektive, die offen rassistisch argumentiert (wie die oben skizzierte);
- eine weitere „weiße“ Perspektive, die die „Probleme mit den Schwarzen“ nicht auf deren Eigenschaften, sondern auf deren Lage zurückführt und so eine Veränderungsperspektive eröffnet.
Das nun gilt für alle Spielarten von Multiperspektivität:
- für diejenige der zeitgenössischen Perspektiven (Quellen: „Multiperspektivität“ im engeren Sinne)
- für diejenige späterer Sinnbildungen (Darstellungen: „Kontroversität“)
- für diejenige heutiger Schlussfolgerungen und Urteile durch die Lernenden „Pluralität“).
Multiperspektivität ist also ein Prinzip, das nicht einfach durch Vielzahl und -falt und durch das formale Kriterium „unterschiedlicher“ Sichtweise zu berücksichtigen ist, sondern erst durch die Reflexion auf das Verhältnis der Perspektiven zueinander.
Die oben genannten Konfliktparteien-Perspektiven sind dabei nicht ausgeschlossen (zuweilen sind sie durchaus wichtig), reichen aber nicht aus, um die dem Prinzip zu Grunde liegende Einsicht in die unhintergehbare Perspektivität von Geschichte und somit die Pluralität der Sinnbildungen tatsächlich einsichtig zu machen.
- Vgl. auch den Beitrag „Zur Uneindeutigkeit geschichtsdidaktischer Topoi„. [↩]
- Entsprechende Quellen sind etwa zu finden in dem Beitrag MARTSCHUKAT, JÜRGEN; STORRER, THOMAS (2001): „Gewalterfahrung und Erinnerung. Das Ende der Sklaverei in den USA.“ In: KÖRBER, ANDREAS (Hrsg.; 2001): Interkulturelles Geschichtslernen. Geschichtsunterricht unter den Bedingungen von Einwanderung und Globalisierung. Konzeptionelle Überlegungen und praktische Ansätze. Münster: Waxmann (Novemberakademie; 2), S. 193-203, der allerdings weitaus mehr Perspektiven bereitstellt. [↩]
- vgl.: STRADLING, ROBERT (2004): Multiperspectivity in history teaching. A guide for teachers.: Coucil of Europe, p. 19 [↩]