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Bekanntermaßen hat die Lehre der Sinnbildungstypen nach Jörn Rüsen, bei Ernst Bernheim bereits vorgeprägt, mehrere Erweiterungen und Veränderungen erfahren. Von Bedeutung sind vor allem die Alternativformulierungen von Hans-Jürgen-Pandel, der mit dem zyklischen und dem organischen zwei weitere Narrationsmodi hinzufügt und das genetische in „gegenwartsgenetisches“ und „telisches“ Erzählen ausdifferenziert1, sowie die Anordnung von dreien der vier Rüsen’schen Typen in einer Spirale (samt einer tentativen Erweiterung nach „unten“ und „oben“) und ihrer jeweiligen Ergänzung durch eigene Kritikformen durch Bodo von Borries 1988.2

Mit Hilfe dieser Sinnbildungstypen lassen sich zwar nicht alle, wohl aber wesentliche Grundstrukturen von historischen Aussagen analysieren und typisieren3

Allerdings zeigt sich in der Praxis recht schnell, dass es auch Formen historischer Sinnbildung gibt, die mit den so gegebenen Begriffen eben nicht hinreichend erfasst werden. An einem recht aktuellen Beispiel aus der Geschichtskultur sein das kurz illustriert:

Jokinen, bildende Künstlerin und geschichtskulturell wie geschichtspolitisch tätige Aktivistin in Hamburg mit deutlichem Themenschwerpunkt auf der Kolonialgeschichte und derjenigen der Nachkolonialen Zeit (vgl. ihr Projekt „Park postkolonial“) hat Anfang des Jahres auf der Website ihres Hamburger Afrika-Projekts einen kurzen Artikel über das „koloniale Herz der ‚HafenCity“ veröffentlicht.

In ihm stellt sie zunächst die 1903 auf der Hamburger Kornhausbrücke zur Hamburger Speicherstadt aufgestellten Standbilder von Christoph Columbus und Vasco da Gama (diejenigen für Magellan und James Cook wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört)4vor und ordnet ihre Entstehung  kurz in die „Hochzeit der kolonialen Eroberung des afrikanischen Kontinents“ ein. Daher sind die vier „Erobererstatuen“ für sie auch „an prominenter Stelle Sinnbilder dieser ‚Pionierleistungen‘ europäischer Expansion, in deren Kielwasser sich Hamburgs Handelsherren sahen.“

Im weiteren Artikel verweist Jokinen auf die gleich nebenan befindliche Baustelle der HafenCity und referiert die Namen wichtiger neuer Gebäude, Straßen und Plätze: dort: ‚Humboldthaus‘, ‚Vespuccihaus‘, ‚Kaiserkai‘, ‚Marco-Polo-Terrassen‘ und ‚Magellan-Terrassen‘. Weiter geht es zum ‚Überseequartier‘ mit nach Kolonialwaren benannten Gebäuden. Die Bezeichnung ‚überseisch‘ wird (zu recht) als „traditionell […] beschnigendes Synonym für ‚kolonial‘ charakterisiert, bis der Artikel in die Frage mündet: „Firmiert die ‚HafenCity‘ jetzt als überdimensionaler Kolonialwarenkrämerladen?“

Das, was Jokinen in ihrem Artikel referiert ist eindeutig dem Typus der traditionalen Sinnbildung zuzuordnen — und zwar sowohl 1884ff und 2003ff: Die Veweise auf und Vergegenwärtigungen von Vergangenheit sollen Geltung auch für die Gegenwart haben, sie sollen gegenwärtiges Sein und Handeln begründen. Das gilt gerade auch für den zitierten Ausspruch Ole von Beusts, dass im Überseequartier künftig das Herz der Hafencity“ schlage. Wenn dort heute Kreuzfahrtschiffe anlegen sollen, so ist darin zwar durchaus eine Änderung zu erkennen, die mit genetischer Sinnbildung hätte verarbeitet werden können (etwa im Sinne einer Zivilisierung des Ausgreifens in die Welt vom kolonialen Ausbeutungshandel zum Devisen bringenden Tourismus), nicht aber müssen (es sind auch andere Deutungsmuster denkbar). Wichtig ist vielmehr, dass gerade solche Veränderungen nicht thematisiert wurden. Die Namensgebung folgt der historischen Logik der zwar nicht bruchlosen, aber ebenfalls nicht verändernden „Anknüpfung“.

Dass Jokinens Artikel selbst diese traditionale Sinnbildung kritisiert, ist unübersehrbar. Die Anführungszeichen bei „Pionierleistungen“, der z.T. ironische Ton („überdimensionaler Kolonialwarenkrämerladen“) wie auch eindeutigere Aussagen (etwa über den Protest des Eine Welt Netzwerks gegen „die imperialen Namen im Stadtraum“) machen dies deutlich.

Ist also Jokinens Darstellung mit Bodo von Borries‘ Kategorie der „traditions-kritischen Sinnbildung“ zu fassen?

Diese steht in seiner Bearbeitung von Rüsens Sinnbildungslehre zwischen der traditionalen Sinnbildung und der exemplarischen und bezeichnet denjenigen Modus des historischen Denkens, der die traditionale Logik, d.h. die ihr innewohnende Logik der Stillstellung von Zeit und des Fortschreibens eines Geltungsanspruchs, kritisch wendet. „Traditions-kritisch“ ist diejenige Sinnbildung, die aufzeigt, dass es nicht (mehr) ausreicht, auf Traditionen zu verweisen, um Geltung herzustellen, dass es vielmehr anderer (komplexerer) Formen historischer Kontinuitätsvorstellungen bedarf, um Orientierung zu ermöglichen, Sinn zu bilden.

Ist es das, was hier bei Jokinen geschieht?

Die letzten zwei Sätze des Artikels (gleich nach der Frage nach dem „überdimensionierten Kolonialwarenkrämerladen“) geben näheren Aufschluss:

„Oder kann es Einsicht geben, Straßen, Plätze, Denkmäler denjenigen zu widmen, die Opfer des aus Hamburg maßgeblich betriebenen Kolonialismus wurden“ Und denjenigen, die Widerstand leisteten gegen die ausgreifende Macht?“

Wie sind diese beiden Sätze einzuordnen? Welches Licht werfen Sie auf die Sinnbildung im Artikel selbst?

Ganz deutlich wird erkennbar, dass Jokinen nicht die Logik der Tradition kritisiert, sondern die konkrete imperiale Tradition. Sie verweist auch nicht auf Regelhaftigkeiten oder auf Veränderungen, etwa auf einen wie auch immer gearteten Fortschritt (s.o.). Nein, sie empfiehlt vielmehr den Wechsel der Tradition von derjenigen der Pioniere zu derjenigen ihrer Opfer. Es geht also um eine „Gegen-Tradition“.

Insofern dieses Ansinnen eine in der Geschichte der Geschichts- und Erinnerungskultur recht junge Art des Umgangs mit der eigenen Vergangenheit markiert, namentlich die Anforderung, nicht die problemlos der eigenen „Wir-„Gruppe zuzurechnenden Helden darzustellen, zu erinnern und zu ehren, auch nicht die eigenen Opfer der Taten anderer, sondern die Opfer der eigenen Taten unter den Anderen, ist es durchaus möglich, eine genetische Sinnbildung darüber zu bilden, also etwa diese Form geschichtskultureller Sinnbildung als einen Fortschritt der selbst-reflexiven Postmoderne gegenüber der auf die Förderung des Eigengruppenstolzes angewiesenen oder erpichten Moderne zu deuten — aber darum geht es hier nicht. Es ist nicht die Frage, ob Jokinens Geshichtsbewusstsein „fortschrittlicher“ ist als das der Erbauer der Kornhausbrücke, sondern welche Sinnbildungsform sich in ihrem Text ausdrückt (und ob daraus Konsequenzen für die Theorie der Sinnbildungstypen gezogen werden können).

Jokinens Forderung nach Benennung von Straßen, Plätzen, Gebäuden und nach Denkmälern für die Opfer des Kolonialismus ist seinerseits traditional strukturiert. Es geht ihr offenkundig darum, eine problematisch „gewordene“ (oder inzwischen als problematisch erkannte) Tradition abzulösen und eine neue daneben zu stellen, die neue Identitäts- und Orientierungsangebote macht.

Hier nun stellt sich ein Terminologie-Problem. Jokinens Sinnbildungsmuster ist offenkundig „traditons-kritisch“ — aber gerade nicht in dem Sinne, wie von Borries es in der Erweiterung von Rüsen meinte. Sie kritisiert eine Tradition, nicht Tradition an sich. Ist also die Bezeichnung „traditions-rktische Sinnbildung“ bei von Borries gut gewählt? Gilt das gleiche für „exempel-kritisch“ und „genese-kritisch“? Die Tatsache, dass diese Termini vom Sprachgefühl her auf Sinnbildungen passen, die gar nicht die Logik des Traditionalen/Exemplarischen/Genetischen, sondern „nur“ jeweils konkrete Traditionen/Exempel/Genesen kritiseren und andere Beispiele derselben Klasse empfehlen, lässt dies verneinen.

Wir brauchen offenkundig eine weitere Differenzierung im Modell, die hier nur skizziert werden kann:

  • anthropologisch konstant
  • konstanz-kritisch
    • traditions-kritisch (eine bestimmte Tradition kritisierend, aber in der Logik traditionalen Denkens verbleibend)
    • traditionalitäts-kritisch (die Logik traditionaler Sinnbildung kritisierend)
  • exemplarisch
    • exempel-kritisch (die Geltung und Orientierungskraft eines bestimmten Beispiels bzw. einer Reihe von Beispielen für die eigene Gegenwart kritisierend, aber innerhalb der Logik der exemplarischen Sinnbildung verbleibend, d.h. andere, bessere Beispiele und Regeln für möglich haltend.)
    • exemplarik-kritisch (die Logik der exemplarischen Sinnbildung, aus vergangenen Beispielen Regeln für die Bewältigung von Gegenwart und Zukunft ableiten zu wollen, kritisierend)
  • genetisch
    • genese-kritisch (eine bestimmte skizzierte Entwicklungsrichtung kritisierend, aber innerhalb der Logik genetischen Denkens verbleibend, d.h. andere, verbesserte Vorstellungen einer gerichteten Entwicklung für möglich haltend)
    • genetik-kritisch (die Logik der genetischen Sinnbildung kritisieren, d.h. die Vorstellung aus Reihen vergangener Beispiele eine für Gegenwart und Zukunft gültige Entwicklungs-/Verlaufsrichtung ableiten zu können, kritisierend)
  1. PANDEL, HANS-JÜRGEN (2002): „Erzählen und Erzählakte. Neuere Entwicklungen in der didaktischen Erzähltheorie.“ IN: DEMANTOWSKY, MARCO; SCHÖNEMANN, BERND (Hrsg.; 2002): Neuere geschichtsdidaktische Positionen. Bochum: Projekt-Verlag (Dortmunder Arbeiten zur Schulgeschichte zur und historischen Didaktik; 32), S. 39-56. []
  2. BORRIES, BODO VON (1988): Geschichtslernen und Geschichtsbewußtsein. empirische Erkundungen zu Erwerb und Gebrauch von Historie.; 1. Aufl.; Stuttgart: Klett, S. 59-96. []
  3. Dabei ist natürlich zu beachten, dass  kaum eine reale Narration jeweils nur einen dieser Typen in Reinform enthält. []
  4. Vgl. auch die kurze Erläuterung im „Hamburg Web“ sowie Eifinger, Marion (2007): Restaurierungs-Bericht. []