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Das Konzept der Unterscheidung der Verfügung über historische Kompetenzen in Niveaus („Graduierung“) gemäß dem FUER-Modell ist nicht unmittelbar eingängig.
Allerdings lässt sich immer wieder an verschiedenen Beispielen erläutern, was darunter verstanden werden kann. Zuweilen ist es auch recht augenfällig.

Ein schönes Beispiel ergibt sich aus dem Abdruck zweier Schülerantworten auf eine Klausuraufgabe, die Markus Bernhardt, Ulrich Mayer und Peter Gautschi vor einiger Zeit in ihrem Beitrag zu Christoph Kühbergers Sammelband „Historisches Wissen“ diskutiert haben — wenn auch unter einem anderen Aspekt.(1)

Dieses Material verdeutlicht zum einen zwei unterschiedliche Kompetenzniveaus von Studierenden in einem Teilbereich der historischen Kompetenzen, zum anderen eignet es sich, die Verfügung über dieses Theoriekonzept bei Studierenden selbst zu prüfen.

Im Folgenden dokumentiere ich daher eine Klausuraufgabe aus der Modulabschlussklausur zum Modul „Einführung in die Geschichtsdidaktik“ an der Universität Hamburg aus dem Sommersemester 2012, welche die beiden Texte nutzt(e), sowie die beste dazu vorgelegte Bearbeitung durch eine(n) Studierende(n). Diese Bearbeitung ist keineswegs die umfänglichste gewesen, sondern zeichnet sich dadurch aus, dass sie wesentliches in beinahe schon lakonischer Klarheit benennt und auf den Punkt bringt.

Die Klausuraufgabe (eine unter mehreren) lautete:

  1. In M1 und M2 finden Sie zwei Bearbeitungen Studierender einer geschichtswissenschaftlichen Abschlussklausur. Bearbeiten Sie beide Aufgaben!
    1. Arbeiten Sie heraus, auf welche (gleiche) Aufgabenstellung die beiden Studierenden geantwortet haben!
    2. Vergleichen Sie die Bearbeitungen der beiden Studierenden unter einem selbstgewählten geschichtsdidaktischen Gesichtspunkt!

Das dazugehörige Material lautet:

M1

„Die Antike dauerte von 800 v.Chr. bis 500 n.Chr. In der Antike entwickelten sich viele Ideen und Grundsteine, die für Europa wichtig waren, wie z.B. die Demokratie. Ausschlaggebend in dieser Epoche waren z.B. die Persischen und die Peloponnesischen Kriege. Eine Zäsur ist 475 [476] n. Chr. zu sehen, wo das Weströmische Reich untergeht. Eine neue Epoche – das Mittelalter – beginnt mit einer Reihe von Eroberungskämpfen, die Europa verändern. Das Mittelalter dauerte von 500 c. Chr. bis Ende [des] 15. Jh.[s] an und ist geprägt von Feudalismus, Ständegesellschaft und schlechten Lebensbedingungen und wenig kultureller und gesellschaftlicher Entwicklung. Eine Zäsur ist im Spätmittelalter (14./15. Jh.) zu erkennen: Universitäten, Dynastien entstehen. Es herrscht auch eine radikale Religiosität. Ab dem 16. Jh. herrscht die Neuzeit und diese setzt sich mit der glorreichen Wi[e]dergeburt der Antike – der Renaissance – deutlich vom Mittelalter ab. Das alte, starre Weltbild wird verworfen, Künste und Wissenschaften leben auf und der Humanismus entwickelt sich. Weitere Ereignisse sind der Absolutismus, die Aufklärung und die Französische Revolution sowie die Reformation. Das 19. Jh. beginnt und somit die neu[e]ste Geschichte mit dem 1. Weltkrieg und verändert wieder von Grundauf die Lebensbedingungen und die Karte Europas“

M2

„Das Schema wurde von den Humanisten eingeführt, sie selbst lebten in der ‚Neuzeit‘ (1500 bis heute) und sahen diese als direkte Anknüpfung an die Antike (8. Jh. v. Chr. Bis 5. Jh. n. Chr.). Die Antike wurde mit dem antiken Griechenland und der dort entstandenen ersten Demokratie verbunden. Die Humanisten sahen in der Kultur der Griechen eine Hochkultur, an die sie anknüpfen wollten. Die Antike wird weiterhin mit der Zeit des Hellenismus (Zeit, in der Alexander der Große lebte) und vor allem mit dem römischen Reich verbunden. Mit dem Untergang dieses (5. Jh. nach Chr.) endete nach Vorstellung der Humanisten die Antike. Das Mittelalter (5. Jh. n. Chr. Bis ca. 1500) war nach der humanistischen Ansicht eine trostlose Zeit, in der die Gebäude der Hochkulturen (Griechen, Römer) verfielen, die Pest wütete und religiöse Vereinigungen wie die Scholastiker aktiv waren. Das Mittelalter endete mit der Erfindung des Buchdrucks, der Entdeckung Amerikas (1492) und auch der Reformation (1517). Die Neuzeit, die Zeit der Humanisten, begann mit der Renaissance, in welcher alte Themen aus der Antike wieder aufgegriffen wurden. Man glaubte an den Fortschritt und die Entwicklungsfähigkeit. Die Zeit nach dem 2. Weltkrieg (bis heute) wird auch als ‚Neu[e]ste Neuzeit‘ bezeichnet.“

Die Bearbeitung lautet wie folgt:

1. „Die Aufgabe, die von den beiden Studenten in M1 und M2 bearbeitet wurde, könnte in etwa lauten: ‚Erläutern Sie die Unterteilung der Geschichte in Epochen‘.“

2. „Eine Definition von historischer Kompetenz ist, dass diese Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft meint, Prozesse des historischen Denkens auszuführen und über Prinzipien/Kategorien/Konzepte und Scripts des historischen Denkens zu verfügen. In beiden Bearbeitungen wird die Sachverhaltsanalyse und das Sachurteil ausgeführt. In einer Weiterentwicklung, dem FUER Kompetenzmodell nach Körber/Schreiber u. a., wäre dies die Re-Konstruktion im Fokus Vergangenheit, also die Feststellung der Vergangenheitspartikel und im Fokus Geschichte, also die sinnvolle Verknüpfung dieser Partikel zu einer Zeitverlaufsvorstellung.

Diese Arbeit leisten beide Studenten, da sie aus zuvor festgestellten (hier wohl erlernten) Partikeln der Vergangenheit eine Narration über den Ablauf der Epochen herstellen. In das Werturteil, bzw. den Fokus Gegenwart und Zukunft gehen diese beiden Darstellungen jedoch noch nicht hinein, denn sie erarbeiten weder die Bedeutung für die Gegenwart, noch Handlungsoptionen für die Zukunft (wohl, weil dies auch in der Aufgabenstellung nicht gefordert wurde). Somit zeigen hier beide Studenten die Kompetenz, einzelne Prozesse des historischen Denkens auszuführen.

Der Student im M2 geht aber noch einen Schritt weiter. Er zeigt, dass der Begriff der ‚Epoche‘, bzw. das ‚Schema‘, wie er es nennt, ein Konstrukt ist, welches nachträglich, nämlich in der Neuzeit auf die Geschichte angewandt wurde. Somit wurden die Begriffe ‚Antike‘, ‚Mittelalter‘, ‚ Neuzeit‘ und auch ‚Neu Neuzeit‘ (oder ‚Moderne‘) von Menschen entwickelt. Auch die Bezeichnung ‚Neuzeit‘ wurde von den damaligen Menschen der eigenen Zeit gegeben, da sie an deren Entwicklungsfähigkeit glaubten.

Im Gegensatz dazu wendet der Student in M1 den Begriff „Epoche“ einfach an, ohne ihn zu reflektieren. (So wird er quasi „als gegeben“ und „natürlich“ dargestellt).

Im FUER-Kompetenzmodell gibt es zur ‚Messung‘ der Kompetenzniveaus ein Graduierungsschema. (Im Gegensatz zu einem strikten Stufenmodell oder Standardmodell). Laut diesem Schema läge die Aussage aus M1 auf einen intermediären Niveau (konventionell). Der Student wendet den konventionellen Begriff der ‚Epoche‘ an. (Darunter läge das basale Niveau (a -konventionell)).

Der Student in M2 erkennt hingegen den Konstruktcharakter des Begriffs und erzählt daher auf einem bereits höheren Niveau. Wenn man konventionelle Begriffe nicht nur anwendet, sondern sie reflektiert und sich zu ihnen verhält, handelt es sich um das elaborierte Niveau (transkonventionell). Evtl. erzählt der Student aus M2 eher auf einem elaborierten Niveau (obwohl er sich hier nicht durch eine direkte Bewertung zu dem Begriff verhält).“

Kommentar:

Dem ist wenig hinzuzufügen — außer, dass es keineswegs besonders hochtrabende Theoriebausteine sein müssen, die ein elaboriertes Niveau kennzeichnen, sondern vielmehr der reflektierende Zugriff auf das genutzte Instrumentarium an Konzepten und begriffen, Denkweisen, etc. „Intermediäres“ Denken ist auch insofern keineswegs ein Defizit, sondern es markiert die Anschlussfähigkeit des eigenen Denkens an den jeweiligen Kontext, an die Peer Group. Das reflexive, elaborierte Niveau hingegen markiert die beginnende oder schon gelungene Selbstständigkeit im Denken. Sie zumindest anzustreben, sollte in Universität und Schule selbstverständlich sein.

Das bedeutet aber gleichzeitig, dass die Konventionen durchaus in unterschiedlichen Kontexten verschieden sein können. Von Studierenden ist somit wohl zu erwarten, dass sie andere Konventionen operabel „drauf haben“ als man es von Schülerinnen und Schülern erwarten kann. Entscheidend für die Niveauzuweisung ist somit nicht der konkrete Inhalt der Konvention, sondern der nutzende oder reflexive Zugriff auf sie.

Welches Niveau hat nun die/der Bearbeiter(in) dieser Klausur bewiesen? Indem sie/er das Graduierungskonzept von FUER angewandt hat, beweist sie/er deutlich und in der Ausführung der Antwort auch urteilssicher das intermediäre Niveau hinsichtlich der geschichtsdidaktischen Konzeption der Kompetenzen und ihrer Graduierung, während diese Analyse hinsichtlich des Epochenkonzepts bereits die Reflexion selbst voraussetzt. Für eine Prüfungsleistung am Beginn der Beschäftigung mit der Disziplin Geschichtsdidaktik und einigen wenigen Semestern Erfahrung in der Geschichtswissenschaft ist das sehr beachtlich. Im Vergleich zu den älteren Begriffen Sachverhaltsanalyse und Sachurteil geht die Leistung bereits über dieses intermediäre Niveau hinaus. Eine Reflexion der selbst gewählten und angewandten Konzepts war in der Aufgabe auch nicht ausdrücklich gefordert.

Aber auch das ist natürlich ausbaufähig und es gehört ja auch zum Konzept des Modells, dass es selbst nicht ferngehalten wird von elaborierter Reflexion auf seine Leistungen und Grenzen. Spätestens im Masterstudium auch hierzu argumentationsfähig zu sein, und solche Konzepte und Modelle nicht (nur) für gegebene und anzuwenden zu halten, sondern in und bei ihrer Anwendung auch an ihrer Weiterentwicklung kritisch mitzudenken — das macht in der Tat dann die/den ‚Master‘ aus.

 

Nachweis:

(1) Bernhardt, Markus; Mayer, Ulrich; Gautschi, Peter (2012): Historisches Wissen – was ist das eigentlich? In: Christoph Kühberger (Hg.): Historisches Wissen. Geschichtsdidaktische Erkundung zu Art, Tiefe und Umfang für das historische Lernen. Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag (Forum Historisches Lernen), S. 103–118.