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Andre­as Körber

“Diver­si­ty und Geschichtsdidaktik”

Ich freue mich, mit Dr. Mar­tin Lücke heu­te einen Kol­le­gen hier begrü­ßen zu kön­nen, der als Exper­te gel­ten kann für eine Fra­ge­stel­lung, die – wie­der ein­mal – als Her­aus­for­de­rung für geschichts­di­dak­ti­sche Theo­rie und Pra­xis ver­stan­den wer­den kann.

Hat­ten wir es im letz­ten Gast­vor­trag der Kol­le­gin Bea Lundt (die ich hier auch begrü­ße) damit zu tun, unser Bild sowohl von Afri­ka als auch vom Mit­tel­al­ter in Fra­ge stel­len zu müs­sen und über sich dar­aus erge­ben­de Kon­se­quen­zen für his­to­ri­sches Den­ken und Ler­nen nach­zu­den­ken, so geht es dies­mal um ein gan­zes Bün­del durch­aus anders gela­ger­ter, stär­ker kate­go­ria­ler Her­aus­for­de­run­gen. In sinn­ge­mä­ßer Anwen­dung unse­res Kom­pe­tenz-Struk­tur­mo­dells nicht auf his­to­ri­sches Den­ken als sol­ches, son­dern auf die fach­di­dak­ti­schen Kom­pe­ten­zen müss­te man davon spre­chen, dass unse­re “Sach­kom­pe­tenz Geschichts­di­dak­tik” ela­bo­riert wer­den muss – und mit ihr die Kompetenzen,

  1. fach­di­dak­ti­sche Fra­ge­stel­lun­gen und fach­di­dak­tisch rele­van­te The­men­stel­lun­gen zu identifizieren,
  2. fach­di­dak­ti­sche Lern­pro­zes­se und Unter­richts­mo­del­le zu ana­ly­sie­ren, um die in ihnen ent­hal­te­nen Prä­mis­sen, Set­zun­gen, Wer­te, das in sie ein­ge­gan­ge­ne Ver­ständ­nis von Form und Ziel his­to­ri­schen Ler­nens, aber auch die Vor­stel­lun­gen davon zu erken­nen, wie denn his­to­ri­sches Ler­nen funk­tio­nie­ren kann und soll (man könn­te das an den gera­de erschie­ne­nen Arbeits­fas­sun­gen der neu­en Ham­bur­ger Bil­dungs- und Rah­men­plä­ne für Pri­mar- und Stadt­teil­schu­le sowie für die ver­kürz­te Sek I des Gym­na­si­ums testen).

Das gilt natür­lich auch für publi­zier­te Unter­richts­ent­wür­fe und Mate­ria­li­en. Glei­cher­ma­ßen wird dadurch aber auch unse­re didak­ti­sche Kon­struk­ti­ons­kom­pe­tenz her­aus­ge­for­dert (und hof­fent­lich ela­bo­riert), näm­lich die Fähig­keit, Fer­tig­keit und Bereit­schaft, im Sin­ne der uns heu­te von Mar­tin Lücke prä­sen­tier­ten Kate­go­rien (die dem Titel sei­nes Vor­tra­ges nach ja vor allem Ana­ly­se­ka­te­go­rien sind) iden­ti­täts- und ori­en­tie­rungs­re­le­van­te Lern­pro­zes­se und ‑umge­bun­gen zu kon­zi­pie­ren – und dann auch wie­der zu diagnostizieren.

Dazu gehört natür­lich nach wie vor die Lern­be­din­gungs­ana­ly­se, die Ana­ly­se nicht nur von Gegen­stän­den und The­men, son­dern der anthro­po­lo­gi­schen, insti­tu­tio­nel­len und kul­tu­rel­len Vor­aus­set­zun­gen von Lernen.

“Race, class and gen­der” – die Drei­heit der bereits klas­si­scher­wei­se in der Theo­rie der “Inter­sek­tio­na­li­tät”, also der gegen­sei­ti­gen Durch­drin­gung und Beein­flus­sung von Dis­kri­mi­nie­run­gen und Benach­tei­li­gun­gen benutz­ten Dimen­sio­nen (heut­zu­ta­ge zumeist um wei­te­re ergänzt) betref­fen ja gera­de nicht nur die qua­si sozio­lo­gisch zu ana­ly­sie­ren­den Dis­kri­mi­nie­rungs­pro­zes­se, son­dern auch die Iden­ti­tä­ten, sie sind nicht nur wirk­sam in der Fremd­zu­schrei­bung von Eigen­schaf­ten und Zuge­hö­rig­kei­ten, bei der In- und Exklu­si­on, der Er- und Ent­mäch­ti­gung von Men­schen zur Teil­ha­be, son­dern auch im Bereich der Selbst-Kon­zep­te, der eige­nen Vor­stel­lun­gen von Zuge­hö­rig­kei­ten. Und inso­fern his­to­ri­sches Den­ken und Fra­gen immer mit der Klä­rung von Iden­ti­tät in zeit­li­cher Hin­sicht zu tun hat, inso­fern his­to­ri­sche Fra­gen und Denk­pro­zes­se aus der zeit­li­chen Ver­un­si­che­rung unse­res Selbst- und Welt­ver­ständ­nis­ses ent­ste­hen, sind sie für die Fach­di­dak­tik bedeutsam.

Aller­dings wer­fen die genann­ten Kate­go­rien natür­lich auch Fra­gen auf: “Race, Class und Gen­der” sind sämt­lich kei­ne zeit­über­grei­fend fest­ste­hen­den, von außen gege­be­nen Kon­zep­te und Unter­schei­dun­gen. An allen drei­en lässt sich das zei­gen. Die Ent­wick­lung nicht nur der Kate­go­rien von geschlecht­li­cher Dis­kri­mi­nie­rung, son­dern gera­de auch der wis­sen­schaft­li­chen Kon­zep­te, mit denen sie ana­ly­siert und behan­delt wer­den, ist das wohl bekann­tes­te Bei­spiel, aber auch in Bezug auf “Klas­sen” gilt, dass sie sozio­lo­gisch nicht ohne wei­te­res auf alle Zei­ten anwend­bar sind, die Zeit der Klas­sen­theo­rien sozia­ler Ungleich­heit galt bereits ein­mal als vor­bei zuguns­ten von Schich­ten und spä­ter Milieu-Theo­rien. Ob sie ange­sichts von Hartz IV und sich öff­nen­der Sche­re zwi­schen arm und Reich wie­der­kommt, sein dahin­ge­stellt. Und dass “race” ein Kon­zept ist, dass nicht ohne Refle­xi­on auf sei­ne Prä­mis­sen und Grund­kon­zep­te ver­wen­det wer­den kann, ist ange­sichts von Ras­sis­men mit ihren spe­zi­fi­schen Ras­sen­kon­zep­ten gera­de in Deutsch­land evi­dent. Mit ande­ren Wor­ten: Nie­mand – weder eine his­to­ri­sche Per­son als Teil des Gegen­stands eines Lern­pro­zes­ses, noch ein Mit­glied einer Lern­grup­pe oder ein(e) ander­wei­tig his­to­risch Den­ken­de® – kann mit die­sen Kate­go­rien ein­fach klas­si­fi­ziert werden.

Race, Class und Gen­der sind aber mehr als nur Bei­spie­le für varia­ble Ana­ly­se­kon­zep­te. Wenn sie his­to­risch gewen­det frucht­bar gemacht wer­den sol­len nicht nur für wis­sen­schaft­li­che Ana­ly­se, son­dern für rele­van­te Lern­pro­zes­se, dann müs­sen sie dif­fe­ren­ziert und reflek­tiert wer­den in didak­ti­scher Hinsicht.

Gera­de dafür sind wir heu­te hier. Mar­tin Lücke, Lehr­kraft für beson­de­re Auf­ga­ben im Arbeits­be­reich Didak­tik der Geschich­te am Fried­rich Meine­cke-Insti­tut der FU Ber­lin, zuvor Stu­di­en­rat an einem Ber­li­ner Gym­na­si­um, Mit­ar­bei­ter an Lehr­stüh­len in Leip­zig und Ber­lin, erscheint dafür genau der Richtige.

Er hat sein Lehr­amts­stu­di­um in Bie­le­feld absol­viert mit den Fächern Geschich­te und Deutsch, und sein Refe­ren­da­ri­at mit Zwei­tem Staats­examen in Ber­lin abge­legt. 2007 hat er an der Uni­ver­si­tät Bie­le­feld bei einer aus­ge­wie­se­nen Kol­le­gin der neue­ren Kul­tur­ge­schich­te (Mar­ti­na Kes­sel) pro­mo­viert über das The­ma “männ­li­che Pro­sti­tu­ti­on im Kai­ser­reich und Wei­ma­rer Repu­blik” und dafür auch meh­re­re Prei­se erhal­ten, dar­un­ter den Hed­wig-Hint­ze-Preis des Ver­ban­des der His­to­ri­ke­rin­nen und His­to­ri­ker Deutschlands.

Mar­tin Lücke hat sich dane­ben aber gera­de auch in der Fach­di­dak­tik inzwi­schen brei­ter auf­ge­stellt, etwa durch Ver­an­stal­tun­gen und Vor­trä­ge sowie Publi­ka­tio­nen zu spe­zi­fi­schen Medi­en beim his­to­ri­schen Ler­nen (Film), zur Theo­rie his­to­ri­schen Den­kens und Ler­nens (Stich­wort: Nar­ra­ti­vi­tät), Holo­caust und his­to­ri­sches Ler­nen, Zeit­ge­schich­te und vie­le ande­re The­men mehr.

Mein per­sön­li­ches Inter­es­se an dem nun fol­gen­den Vor­trag ist eines, das aus einer spe­zi­fi­schen Skep­sis ent­springt, ob und wie die Kate­go­rien der Diver­si­ty-Ansät­ze zu den den Kon­zep­ten inter­kul­tu­rel­len Ler­nens und Den­kens in Bezie­hung gesetzt wer­den kön­nen. Unter­lau­fen nicht die klas­si­fi­ka­to­ri­schen Sek­tio­nie­run­gen moder­ne, varia­ble Kul­tur­be­grif­fe – oder kön­nen und müs­sen sie viel­mehr als deren Kon­kre­ti­sie­rung auf­ge­fasst wer­den? Inter- und Trans­kul­tu­rel­lem Den­ken (im Sin­ne von W.Welsch etwa) und dem Diver­si­ty-Ansatz lie­gen sicht­bar ver­gleich­ba­re Pro­blem­ana­ly­sen und Inten­tio­nen zu Grun­de – ihre Instru­men­te sind aber zumin­dest nicht deckungs­gleich. Kann es sein, dass das “inter­kul­tu­rel­le Ler­nen” noch zu idea­lis­tisch erscheint und die Diver­si­ty-Stu­dies als Her­aus­for­de­rung und als Fort­füh­rung anti­ras­sis­ti­scher Ansät­ze dies ver­mei­den hel­fen? Ich bin gespannt. Ich will hier aber nicht eine neue Glie­de­rung über den Vor­trag legen, son­dern freue mich auf die spä­te­re Dis­kus­si­on und bit­te nun Mar­tin Lücke, uns die Diver­si­ty mit Blick auf his­to­ri­sches Den­ken und Ler­nen nahe zu bringen.

Herr Dr. Lücke, Sie haben das Wort!